Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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Am 1. Januar.

Neujahrstag! – Ich habe einen Brief bekommen aus dem fernen Italien, ein köstliches Neujahrsgeschenk. Er spricht von der alten dunkeln Sperlingsgasse und Glück und Wiedersehen, und eine Frauenhand hat diese feinen, zierlichen Buchstaben gekritzelt. Den Namen der Schreiberin nenne ich aber noch nicht, sondern fahre in meinem Gedenkbuch fort, wozu ich diesmal eine neue Mappe hervorsuchen muß. –

So war ich denn allein mit der kleinen Elise, die unbewußt ihres Waisentums und des unbehülflichen Pflegevaters auf Marthas Schoß tanzte, als ich auch von dem Begräbnisse zurückkehrte in diese vor kurzem noch so fröhliche, jetzt so öde Wohnung in Nr. sieben der Sperlingsgasse. Da stand – es steht noch da – auf dem Fenstertritt Mariens kleines Nähtischchen mit unvollendeten Arbeiten, Zwirnknäulchen, Nadeln und Bändern, wie sie es an jenem Abend, über Kopfweh klagend, verlassen hatte, um nicht wieder davor zu sitzen, nicht wieder durch die Rosen- und Resedastöcke und das Efeugitter in die dunkle Gasse hinauszusehen. Da waren noch allenthalben die Spuren ihrer zierlichen Geschäftigkeit. Franz hatte die letzten drei Monate wie ein Argus über ihre Erhaltung gewacht. – Dort auf jenem Stuhl hing ihr Hütchen, dort das Handkörbchen, welches sie bei ihren Einkäufen mit sich führte.

Im zweiten Fenster stand Franzens Staffelei: das vollendete Bild Mariens – lächelnd, wie sie nur lächeln konnte – darauf lehnend. Seine farbenbedeckte Palette hing daneben, seine Skizzenmappen und Rollen lehnten und lagen allenthalben. Hinter der Tür hing sein zerdrückter Biber, den wir so oft auf unsern Spaziergängen mit Blumen und Laubgewinde umkränzten und der Marien, seines jämmerlichen, manchen-sturmdurchlebten Aussehens wegen, ein solcher Dorn im Auge war.

Kein Fleckchen, kein Gerät ohne seine traurig süße Erinnerung. Zerbrochenes Kinderspielzeug auf dem Boden ... und ich allein mit dem Kinde in dieser kleinen Welt eines verlornen Glücks – Erbe von so viel Schmerz und Tränen und Verlassenheit!

Aber jetzt galt es zu handeln, nicht zu träumen. Ich mußte mich aufraffen. Ich nahm der Wärterin das kleine Lieschen aus den Armen, küßte es und versprach mir leise dabei, dem Kinde meiner Freunde ein treuer Helfer zu sein im Glück und Unglück, bei Nacht und bei Tage, und ich glaube den Schwur gehalten zu haben. Das Kind sah mich mit seinen großen blauen – denen der Mutter so ähnlichen – Augen lächelnd an, griff mit beiden Händchen mir in die Haare und begann lustig zu zausen, wobei die alte Martha mit gefalteten Händen zusah. Martha war schon Mariens Wärterin im Rektorhause zu Ulfelden gewesen, war mit ihr zur Stadt gekommen und hatte sie nicht verlassen bis an ihren Tod.

Da meine Wohnung drüben in Nr. elf zu beschränkt war, um die ganze kleine Welt dahin überzusiedeln, so hielt ich zuerst mit der Martha einen Rat, dessen Resultat war, daß ich meine Bücher, Herbarien, Pfeifen und unleserlichen Manuskripte nach Nr. sieben herüberholte, worauf Martha alles aufs beste einrichtete. Indem ich alle Liebe für die Eltern nun in dem Kinde konzentrierte, hoffte ich, auf den Trümmern des zusammengestürzten Glücks ein neues hervorblühen sehen zu können. Drüben blieb die Wohnung nicht lange leer; mein dicker Freund, der Doktor Wimmer, zog ein und spielte eine geraume Zeit den Haupthelden und Faxenmacher der Sperlingsgasse.


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