Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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»Ich lag am Rande des Bachs und sann nach über die Geschicke der Völker und Könige und über – meine Liebe. Hinten in der Türkei lagen jene einander in den Haaren, und drüben in der kleinen Gartenlaube saß mein Schatz und schmollte. Ah!

Lippe-Detmold ist mein Vaterland – was geht mich die Orientalische Frage an und der General Sabalkanskoi und die Schlacht bei Navarino?!

Aber das Frauenzimmer dort?

Beim großen Pan, damit muß es anders werden!

Rot wie die Liebe ist der Abendhimmel; goldne Wölkchen, weiße Tauben schweben darin hin und wider wie Liebesgedanken ... Wo sind meine Diplomaten, wo meine Kabinettskuriere?

Es schwanken die Gräser – es regt sich – es läuft, es kriecht, es klettert, es hüpft, es flattert und fliegt – tausendbeinig, tausendflügelig! Es zwitschert und summt tausendtönig!

Dichter-Minister, Frühlings-Räte, Liebes-Gesandte versammeln sich um mich zu Rat und Tat.

Wohlan – die Konferenzen sind eröffnet! Allen Gegenwärtigen und Zukünftigen Gruß! Wen send ich zuerst an jene dort hinter den Holunderblüten?

Ach! Du da – fort mit dir zu ihr hin – du mein leichtgeflügelter, magenloser Herold, du, den sie den ›roten Augenspiegel‹ nennen, zeig ihr auf deinen weißen Schwingen die beiden Purpurtropfen, sag ihr, es sei Herzblut – mein Herzblut aus dem wilden Kampf um die Liebe, die rote Liebe! Da flattert der Bote der Laube zu; es zittert mein Herz, mein banges Herz. – (Sie – niest!!!) O Dank, Dank, ihr ewigen, guten Götter, Dank für das Omen! (Erkälte dich nicht, Luise, nimm ein Tuch um, hörst du?)

Wer ist der zweite meiner Boten? Schnell, schnell, meine kleine emsige Biene, – hin zu ihr – summe ihr ins Ohr Honiggedanken, Hausgedanken, Leinen- und Drellgedanken!

(Was hat das Frauenzimmer zu lachen über ihrem Nähzeuge in der kleinen Laube?)

Und nun mein letzter Bote, mein schwarzer Trauermantel, flattere hin zu ihr! Hör, was du ihr sagen sollst. Sag ihr: Luise, Luise, der Tag ist zu Ende – die Eintagsfliegen wurden müde, todmüde – der Bach schaukelt ihre armen kleinen Leiber fort, vorüber an den Blumen, über denen sie vor einer Stunde noch tanzten und spielten. Luise, Luise, das Leben ist kurz; Luise, die Nacht bricht herein; sieh den rotfinstern Streif im Westen, sieh, wie es im Osten unheimlich zuckt und leuchtet – horch, wie es grollt!

(Es regt sich in der kleinen Laube! Sie seufzt!) Luise, Luise!

(Sie tritt heraus!)

Luise, Luise!

Die Bäume schütteln ihre Blüten herab auf sie: Ave Luisa! Der Abendwind flüstert ihr zu: Ave Luisa! Die Blumen des Tages neigen sich ihr zu: Ave Luisa! Die Blumen der Nacht öffnen ihre Weihrauchkelche ihr – Ave Luisa! Ave Luisa! (Sie winkt ... sie lächelt ...)

Friede?

Friede!

Friede! Läutet die Glocken im Reich!!! Erleuchtet die großen Städte, die Dörfer; erleuchtet jedes einsame Haus, Orgelklang in allen Domen, Kirchen und Kapellen! Auf die Kniee, auf die Kniee alles Volk! Männer, Weiber, Greise, Kinder, Jünglinge und Jungfrauen!

Herr Gott! Dich loben wir!
Herr Gott! Wir danken dir!

Friede! Friede im Himmel und auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!«

Ich kannte diese »Luise« des Lehrers gar gut. War sie nicht Gouvernante bei den Kindern des Baron Silberheim? Hat sie nicht später den Lehrer Roder geheiratet? Hat sie nicht Glück und Kummer und Verbannung mit ihm geteilt?

Seid gegrüßt, Otto und Luise Roder, wo ihr auch weilen mögt!

»Ei, das war schön!« sagte Lieschen erwachend und das Köpfchen aufrichtend. Sie dachte an ihren Traum im Grünen, nicht an des Lehrers Phantasien – die hatte sie richtig verschlafen.

»Was hat dir denn geträumt, Lieschen?« fragte der Doktor, und das Kind blickte ihn verwundert an.

»Hab ich denn geschlafen?« fragte sie.

»Das kann man bei solchem kleinen Mädchen wie du bist, Liese, niemals recht wissen. Was hast du denn gesehen und gehört? Erzähle mal!« sagte ich.

»O, es war wunderschön, was ich gesehen habe! Ich konnte gar nicht über das Gras weggucken; es war wie ein kleiner Wald, und welch eine Menge kleiner Tiere lief darin herum! Und wenn ich die Augen zumachte, wurde alles so rot, als brennte der ganze Himmel, daß ich sie schnell wieder aufmachen mußte. Ich dachte, ich wäre ganz allein, da kam auf einmal ein wunderschöner gelber Schmetterling mit zwei großen Augen in den Flügeln, die unten ganz spitz zuliefen, der setzte sich dicht vor meinem Gesicht auf einen Halm und sagte mit ganz feiner, feiner Stimme:

›Ein schönes Kompliment, kleines Fräulein, und ob Sie nicht zum Tee kommen wollten zur Waldrosenkönigin?‹

Der Herr Lehrer las in diesem Augenblick was vor, ich hätte gern weiter zugehört und sagte es dem Schmetterling auch. Der aber sagte: bei der Königin säße ein gelehrter Herr, namens Brennessel, der hielte gar nichts von der Geschichte, ich solle daher nur dreist mitkommen. Ich fragte den Schmetterling, ob's sehr weit wäre; er meinte: weit wär's nicht, aber wir müßten einen Umweg machen, da läge ein groß schwarz Tier im Grase, das habe greulich nach ihm geschnappt, als er vorübergeflogen sei. Das war der arme Rezensent! Dann sagte der Schmetterling: er müsse auch den giftigen Wolken ausweichen, die da herumzögen und ihm seine hübschen Flügel ganz schwarz machten. Das war des Onkel Wimmers Zigarrendampf! – Ich war auf einmal so klein geworden, daß mich der schöne gelbe Schmetterling ganz leicht auf seinen Rücken nehmen und forttragen konnte zu dem Rosenbusch dort bei der Buche. Da war eine gar niedliche vornehme Gesellschaft bei der Königin. Da war der brummige, böse, alte Herr Brennessel, dem jeder gern auswich; da war die dicke Madam Klatschrose, die dicht hinter der hübschen Königin stand. ›Fräulein Elise‹, sagte die Königin, ›ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ist das Ihr Onkel dorten, der den häßlichen Dampf ausbläst?‹ ›Nein‹, sagte ich, ›das ist der Onkel Doktor, den sie weggejagt haben aus der Stadt; er schreibt Bücher und ist unartig gewesen und hat zuviel Kleckse und Schreibfehler gemacht!‹ ›So, er schreibt Bücher? Dann will ich ihn mal besuchen!‹ sagte der kluge Herr Brennessel böse...«

»Alle Wetter«, lachte der Doktor hier, halb ärgerlich über Liesens Traum, und griff mit der Hand hinter sich, um sich aufzurichten. »Au, Teufel!« schrie er plötzlich. Er hatte wirklich mit der Hand in einen Brennesselbusch gefaßt!

Wir lachten herzlich, und nur Lieschen sagte ganz ernst: »Siehst du, Onkel Wimmer, das war er!« Dann fuhr sie fort: »Wir tranken nun Tee aus wunderniedlichem Geschirr (Onkel Wachholder, gib mir noch ein Butterbrot!), und jeder erzählte eine hübsche Geschichte vom Frühling, Sommer oder Herbst; vom Winter aber wußten sie nichts – da schlafen sie. Dabei hörte ich aber immer den Herrn Lehrer lesen, und Herr Brennessel brummte dann dazwischen. Der war auch der einzige, welcher vom Winter erzählen wollte, es ward aber nicht gelitten. – Auf einmal hörte Herr Roder auf zu lesen, und ich lag wieder bei dir, Onkel Wachholder, im Grase, und Rezensent steckte dicht vor meinem Gesicht seine schwarze Nase zwischen den Halmen durch und guckte mich groß an. Das habe ich gesehen! – War das nicht hübsch? Und nun, Herr Roder – lesen Sie Ihre Geschichten noch einmal – bitte, bitte!«

»Danke schön«, sagte lachend der Lehrer. »Der kluge Herr Brennessel hatte ganz recht, und jetzt sehe ich auch ein: meine Geschichten sind gar nicht hübsch.«

Wie lange haben wir so geträumt und erzählt und im grünen Gras und weichen Moos gelegen? – Schon steigt die Sonne wieder abwärts am blauen Himmel! Muß nicht der Doktor heute noch durch den Wald nach der nächsten Eisenbahnstation? – Auf, Liese, winde dem Rezensenten den letzten Kranz um den schwarzen Pelz! Laßt nichts zurück von euern Sachen! Vorwärts! – Auf engen, schattigen Waldpfaden geht's nun quer durch das Holz, bis wir endlich das Rollen der Wagen auf der großen Landstraße hören und zuletzt den weißen Streif durch die Stämme schimmern sehen. Horch, Geigen- und Hornmusik! Im Weißen Roß mitten im Wald an der Chaussee ist Tanz. Die Haustür ist mit Laubgewinden geschmückt; Stadtvolk und Landvolk drängt sich allenthalben davor und dadrinnen, im Haus und im Garten. Wir erobern noch eine schattige Laube, und der Doktor gerät in sein Element. Jetzt ist er oben im Saal, schwenkt sich lustig herum mit einer frischen Landdirne oder einer kleinen bleichen Nähterin aus der Stadt; jetzt erregt er unter den Kegelnden ein schallendes Gelächter durch einen wohlangebrachten Witz; jetzt sitzt er wieder bei uns, den Rock ausgezogen, glühend, pustend, fächelnd. Und überall, wo der Doktor ist, ist auch der Pudel. Jetzt oben im Saal wie toll zwischen die Tanzenden fahrend, jetzt, ausgewiesen wie sein Herr aus der Stadt, steckt er seine feuchte Schnauze unter unserm Tische hervor.

Immer tiefer sinkt die Sonne herab. Doktor, Doktor, wir müssen scheiden!

Und der Doktor zieht den Rock wieder an und hängt die Reisetasche um. Wir alle stehen auf.

»Also mußt du wirklich fort, Onkel Wimmer?« fragt Elise weinerlich.

»Jaja, liebes Kind!« sagt der wunderliche Mensch plötzlich ernst. Er hebt die Kleine empor, die sich diesmal nicht sträubt, sondern selbst ihm einen herzhaften Kuß gibt.

»Wirst du auch wohl zuweilen an den Pudel und mich denken, Lieschen?«

»Ganz gewiß«, schluchzt Lieschen, »und ich will schreiben, und der Pudel – nein, du mußt's auch tun!« Der Doktor setzt die Kleine vorsichtig wieder auf ihren Stuhl: »Lebt wohl, Wachholder«, sagt er, »leb wohl, Roder, alter Freund!«

Der Pudel blickt ganz verblüfft von seinem ernsten Herrn auf uns und wieder zurück: es muß etwas nicht ganz in der Ordnung sein.

»Lebt alle wohl! Ein fröhliches Wiedersehen! Alle! En avant, Rezensent!« schreit der Doktor, über die Gartenhecke und den Chausseegraben springend, und rennt, ohne sich umzusehen, dem Walde zu. Am Rande bleibt er noch einmal stehen und schwenkt den Hut.

»Smollis!« ruft der Lehrer, ihm mit einem Glase zuwinkend. »Grüß die Münchener Kusine, die hübsche Nannerl!«

»Fiducit! Soll geschehen!« ruft der Doktor zurück und verschwindet hinter den Büschen. Rezensent steht noch am Rande, blickt nach uns herüber und stößt ein kurzes Gebell aus.

Jetzt ist auch er verschwunden.

Wir sitzen noch eine Weile still allein.

»Gott gebe dem ehrlichen alten Gesellen Glück!« sagt der Lehrer vor sich hin. Ein Omnibus will eben nach der Stadt abfahren. Was sollen wir noch hier? Wir nehmen Plätze und steigen ein.

Zurück geht's nun nach der großen Stadt, die staubige Landstraße hinunter. Fröhliche Gesichter jedes Alters und Geschlechts um uns her im dichtbepackten Wagen! Wie die Sonne so prächtig untergeht! Ade, du schöner Wald! Ade, du alter Freund Wimmer! –

Da sind wir schon in den Anlagen. Welche sonntäglich geputzte Menge noch ein- und ausströmt! Wir steigen aus auf dem freien Platz vor dem Tor; den Weg durch die Stadt bis in unsere Sperlingsgasse können wir wohl noch zu Fuße machen.

Da sind wir, als es eben dämmerig wird. Sieh, dort steht die alte Martha strickend in der Tür; sie erblickt uns und ruft:

»Guten Abend, guten Abend!«

»Ach, Martha, das war schön – und – der Onkel Doktor ist fort!« sagt die kleine müde Elise. Auch der Lehrer sagt jetzt gute Nacht und kehrt zurück in sein einsames Stübchen, eine lange Woche mühsamer Arbeit vor sich.

Das war ein Sommertag im Walde, den ich hier aufzeichne in einer öden kalten Winternacht.


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