Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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Am 10. Januar.

Seit ich jene Mappe, überschrieben »Ein Kinderleben« hervorgenommen habe, ist in meinem bisherigen Fenster- und Gassenstudium eine Pause eingetreten. Es soll draußen sehr kalter Winter sein; Strobel behauptet es, auch Rosalie ist nicht dagegen. Ich kann nicht sagen, daß ich viel davon wüßte. In diesen vergilbten Blättern hier vor mir ist es sonniger Frühling und blühender Sommer. Es macht mir Freude, mich darin zu verlieren, und ich erzähle deshalb weiter.

Da ist so ein altes Blatt:

Wir sind sehr ungnädig. Ein alter, dicker, lächelnder Herr ist dagewesen, hat uns den Puls gefühlt, noch mehr gelächelt, einigemal mit seinem spiegelblanken Stockknopf seine Nasenspitze berührt, hat Dinte und Papier gefordert und kurze Zeit auf einem länglichen Papierstreifchen gekritzelt. Martha hat diesen Zettel darauf fortgetragen, der Alte hat uns auf das Köpfchen geklopft und gesagt: »Schwitzen, schwitzen!«

»Brr!« – –

Mühe genug hat's dem Onkel Wachholder gekostet, einen solchen kleinen, strampelnden Wildfang zur Räson und ins Bett zu bringen. 's ist auch zuviel verlangt, die Arme so ruhig unter die Decken zu halten und nur den Kopf frei zu haben. – Himmel, was bringt Martha da für einen kleinen, braunen Kerl an! Er gleicht fast dem Sem, dem Ham oder dem Japhet aus dem Noahkasten, trägt ein rotes Mützchen über das Gesicht gezogen und mit einem Faden umbunden und schleppt hinter sich her einen langen papiernen Zopf. Was ist's für ein Glück, daß wir noch nicht imstande sind, die Inschrift darauf zu lesen:

 
Fräulein Elise Ralff.

Alle 2 St. einen Eßlöffel voll.
 

Wir sehen den Burschen aber doch mißtrauisch genug aus unserm Bettchen an, und der Onkel Wimmer, der zur Hülfe herübergekommen ist (natürlich begleitet vom Rezensenten), meint gegen mich gewandt:

»Geben Sie acht, Wachholder, ohne Spektakel wird's nicht abgehen. Das Volk hat sich erkältet oder erhitzt; einerlei! Schwitzen, schwitzen! Schweiß und Blut! Probatum est.«

Martha kommt nun mit einem Löffel, einem Glas Wasser und einem Stück Zucker, während die Kleine in ihrem Bette immer unruhiger wird und Rezensent immer gespannter auf die Entwickelung der Dinge zu warten scheint.

»Ich mag nicht einnehmen!« wehklagt jetzt Liese, als ich dem Meister Sem die rote Mütze abziehe, – »es schmeckt so scheußlich!«

»Aha«, lacht der Doktor Wimmer – »die oktroyierte Verfassung!«

Während ich mich mit dem Löffel voll Medizin der Kleinen, die sich immer weiter zurückzieht, nähere, suche ich vergeblich alle möglichen Gründe für das schnelle Herunterschlucken hervor.

»Gib's dem Rezensenten, er war auch gestern mit im Regen!« ruft Lieschen endlich weinerlich.

»Ja, das ist auch wahr; kommen Sie, Onkel Wachholder! Der Redaktionspudel soll's wenigstens kosten, damit die Liese sieht, daß es den Hals nicht gilt.«

Und der Doktor nimmt, den Rücken der Kleinen zukehrend, den Köter zwischen die Kniee, tut, als ob er ihm einen Löffel voll Mixtur eingösse, und liebkost den Pudel dabei, daß dieser freudig aufspringt und lustig bellt.

»Siehst du, Jungfer, wie prächtig es ihm geschmeckt hat! Allons, kleine Donna! Frisch herunter! – – – Eins, zwei, drei und ...«

Herunter war's. Schnell das Glas Wasser und das Stück Zucker dahinterher!

»Du häßlicher Hund!« sagt die Kleine ärgerlich, den Mund in dem Deckbett abwischend, während die alte Martha sie fester wieder zudeckt.

Der Doktor geht nun zurück zu seinen Korrekturbogen, aber der Hund begleitet ihn diesmal nicht, sondern springt auf den Stuhl neben dem Bettchen seiner grollenden Gespielin und schaut gar ehrbar auf sie herab.

»Ja, kucke mich nur so an und lecke deinen Schnurrbart«, sagt Lieschen. »Es schmeckte ja doch bitter?! Warte nur, wenn ich erst wieder aus dem Bett darf.«

Da Rezensent nicht antwortet, so nehme ich für ihn das Wort:

»Vielleicht freute sich das arme Tier nur, daß es nun auch bald wieder gesund werden könne, es war doch ebenso naß geworden wie du und hat gewiß auch die ganze Nacht hindurch gehustet.«

»Nein«, sagte die Kleine, »er tat's nur, weil ich ihm meine Schürze über den Kopf gebunden hatte. Sieh nur, wie er sich freut, wie er seinen Schnurrbart leckt!«

Dagegen läßt sich nichts einwenden, das Redaktionsvieh leckt wirklich mit ungeheurem Behagen die Schnauze, und ich ziehe es vor, die moralische Seite herauszukehren.

»Das war aber auch sehr unrecht von dir, Elise! Was hatte dir denn das arme Tier getan? Eigentlich dürfte ich dir nun die schöne Geschichte, die ich weiß, gar nicht erzählen.«

»Wir wollen uns wieder vertragen«, sagt Elise wehmütig und nickt dem Pudel zu. »Nicht wahr, du?«

Glücklicherweise legt Rezensent gravitätisch seine schwarze Pfote auf die Bettdecke, und so nehme ich den Frieden für geschlossen an.

»Gut denn, wenn du hübsch artig und still liegenbleiben und weder Händchen noch Füßchen hervorstrecken willst, so werde ich dir eine wunderbare Geschichte erzählen, die noch dazu ganz und gar wahr ist.

Höre:

Es war einmal ein – Küchenschrank, ein sehr vortrefflicher, alter, ehrenfester Küchenschrank, und er stand und steht – draußen in unserer Küche, wo wir ihn uns morgen ansehen wollen! – Er war fest verschlossen, welches von zwei sehr wichtigen und angesehenen Personen, die davorstanden, für das einzige Übel an ihm erklärt wurde. Martha hatte aber die Schlüssel in ihrer Tasche, und beide Personen, die ich dir sogleich näher beschreiben will, erklärten das einstimmig – sie waren sonst selten einer Meinung – für sehr unangenehm, sehr unrecht und sehr Mißtrauen und Verachtung erregend.

Ich habe schon gesagt, daß beide davorsitzende Personen von großem Ansehen und Gewicht waren sowohl in der Küche wie auf dem Hofe und dem Boden. Beide machten sich oft nützlich, oft aber auch sehr unnütz. Jede hatte ein Amt zu verwalten und verwaltete es auch – das war ihre Pflicht; jede mischte sich aber auch nur zu gern in Dinge, die sie durchaus nichts angingen, und das – war sehr unartig. Vor dem Küchenschrank zum Beispiel hatten sie in diesem Augenblick durchaus nichts zu tun, und doch waren sie da, guckten ihn an, guckten darunter, guckten an ihm herauf. Es roch aber auch gar zu lieblich daraus hervor!

Die eine dieser Personen war mit einem schönen weißen Pelz bekleidet, einen kleinen Schnurrbart trug sie um das Stumpfnäschen und schritt ganz leise, leise auf vier Pfoten mit scharfen Krallen einher. Einen schönen, langen, spitzen Schwanz hatte sie auch, und sie schwang ihn in diesem Augenblick heftig hin und her, denn sie ärgerte sich eben sehr, und zwar über drei Dinge:

erstens: über den verschlossenen Schrank,

zweitens: über die andere Person,

drittens: über sich selbst.

Es war, es war ... nun, Lieschen, wer war es?«

»Die Katze, die Katze!«

»Richtig, die Katze, Miez, der Madam Pimpernell ihre Katze. (Holla, Rezensent! Du brauchst nicht aufzustehen!) Die andere Person war etwas größer als Miez, hatte einen braunen Pelz an, marschierte auch auf vier Beinen einher wie Miez, aber lange nicht so leise, und sie ärgerte sich auch über drei Dinge: das Schloß am Schranke, die Katze und sich selbst. Ihren Schwanz hätte sie ebenfalls gern hin und her geschleudert, aber sie konnte es leider nicht, denn sie besaß nur einen ganz kleinen Stummel, nicht der Rede wert. Das machte sie fast noch ergrimmter als Miez, denn die konnte doch wenigstens ihrem Zorn Luft machen.

Nun, wer mochte diese zweite Person wohl sein, Liese?«

»Der Hund, Marquarts Bello!« schrie Elise ganz entzückt.

»Geraten, es war Bello, der Edle, ein weitläufiger Verwandter vom Rezensenten und sonst auch ein ganz netter Kerl, aber – wie gesagt – vor dem Schrank hatte er nichts zu suchen!

›Nun?‹ sagte Miez, den Bello anguckend.

›Nun?‹ sagte Bello, die Miez anguckend.

›Miau!‹ klagte Miez, den Schrank anguckend.

›Wau!‹ heulte Bello, den Schrank anguckend.

So weit waren sie; sie wollten aber dabei nicht bleiben!

›Packen Sie sich auf den Hof‹, sagte die Katze, ›was haben Sie hier zu gaffen?‹

Sie hätte ich Lust zu packen‹, schrie der Hund, ›scheren Sie sich gefälligst auf Ihren Boden und fangen Sie Mäuse. Auf kriegen Sie ihn doch nicht!‹

›Pah!‹ sagte die Katze und schleuderte ihren schönen Schweif dem Hunde zu, welches soviel heißen sollte als: ›Armer Kurzstummel, wenn ich nur wollte!‹ Das war aber dem armen Bello zuviel, denn jede Anspielung auf seinen Stummel machte ihn wütend, wie auch der Swinegel, der, wie du weißt, mit dem Hasen auf der Buxtehuder Heide um die Wette lief, nichts auf seine krummen Beine kommen ließ.

Auf sprang also Bello, heulte furchtbar und wollte eben der Miez an ihr schönes glattes Fell, als auf einmal ...

Piep, piep, piep!

es im Schranke ertönte.

›Mause, Mi-ause, Mi-ause am Braten drinnen – und ich dri- außen, dri- außen, dri-i-i- außen!‹ jammerte die Katze.

›Wau, wau; das kommt von Ihrem albernen Betragen und Ihrer Nachlässigkeit!‹ heulte der Hund, und dann – kam Martha vom Markte zurück, und Hund und Katze gingen hin, wo sie hergekommen waren.

Jetzt aber, mein Kind, schlaf ein und schwitze recht tüchtig, damit wir morgen die Stelle besehen können, wo diese merkwürdige Geschichte vorgefallen ist.« Und so geschah's; Lieschen schlief ein, ich aber freute mich, wieder einmal ein Märchen beendet zu haben, wie ein wahres Märchen enden muß, nämlich ohne allzu klugen Schluß und ohne Moral. Daß der Doktor nicht bei meiner Erzählung zugegen war, konnte mir ebenfalls nur lieb sein. Jedenfalls hätte er wieder schnöde politische Vergleiche und Anspielungen losgelassen, was mir sehr unangenehm gewesen wäre.

»Herr Wachholder«, sagte Martha auf einmal ganz treuherzig – »das Loch im Schranke hat der Tischler Rudolf schon wieder zugemacht. Die Mäuse können nun nicht mehr hinein.«

»Bis sie sich wieder durchgefressen haben, Martha!« Ich dachte an den Doktor und seine Anspielungen.


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