Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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Am 5. Januar.

Elise! – So oft ich diesen Namen niederschreibe, klingt es wieder in der immer dunkler herabsinkenden Nacht meines Alters wie ein Kindermärchen, wie Lerchenjubel und Nachtigallenklage, umgaukelt es mich so duftig, so leicht, so elfenhaft ... Elise, Elise, komm zurück! Sieh, ich bin alt und einsam! Weißt du nicht, daß ich dich auf den Armen schaukelte, daß ich über dir wachte in langen Nächten, wie nur eine Mutter über ihrem Kinde wachen kann? – Und aus weiter Ferne glaube ich oft eine zärtliche, wie Musik tönende Stimme zu vernehmen: Ich komme! ich komme! Geduld, nur noch eine kurze Zeit! Und ich warte und hoffe und fülle diese Blätter mit den Namen meines Kindes Elise.

So tauche denn auf aus dem Dunkel, du Idyll, bringe mit dir deine Märchenwelt, dein Lächeln durch Tränen! Komm, mein kleines Herz, – aus den schweinsledernen Folianten lassen sich so hübsche Puppenstuben bauen; schau einmal her, was für ein prächtiges Bett gibt mein Papierkorb ab für die Jungfern Anna, Laura, Josephine und wie die kleiegefüllten Donnen sonst heißen! Einen niedlichen, goldgelben Kanarienvogel schenke ich dir, wenn du nicht weinen willst und hübsch herzhaft den Löffel voll brauner Medizin herunterschluckst! – Weine nicht, Liebchen, sieh, wie der Efeu aus deiner Mutter Heimatswalde Blättchen an Blättchen ansetzt und immer höher an der Fensterwand sich emporrankt. Schau, wie der Sonnenschein hindurchzittert und auf dem Fußboden tanzt und flimmert; es ist wie im grünen Wald – Sonnenschein und blauer Himmel! Du mußt aber auch lächeln!

Und wie der Efeu höher und höher emporsteigt, so wächst auch du, mein kleines Lieb; schon umgeben ebenso feine lichtbraune Locken, wie die auf jenem Bilde, dein Köpfchen. Wer hat dich gelehrt, dieses Köpfchen so hinüberhängen zu lassen nach der linken Seite, wie sie es tat?

Schüttle die Locken nicht so und gucke mich nicht so schelmisch an aus deinen großen, glänzenden Augen! Soll das ein R sein, dieses Ungetüm? O, welch ein Klecks, Schriftstellerin! Welche Dintenverschwendung von den Händen bis auf die Nasenspitze! Wie wird die alte Martha waschen müssen! Du sagst, du habest nun genug Buchstaben gemalt, du müssest jetzt hinunter in die Gasse; du meinst, sogar die Fliegen hielten es nicht mehr aus in der Stube, du sähest wohl, wie sie mit den Köpfen gegen die Scheiben stießen?!

Nun so lauf und fall nicht, Wildfang; ich sehe ein, wir müssen dich doch wohl zu dem Herrn Roder in die Schule schicken, damit du das Stillsitzen lernst.

Was ist das auf einmal für ein helles Stimmchen, welches drüben aus dem Fenster meiner alten Wohnung in Nr. elf ruft:

»Onkel Wachholder, Onkel Wachholder! Ausgehen, ausgehen!«

Quält die kleine Hexe nicht schon wieder den Doktor der Philosophie Heinrich Wimmer, der da drüben seine guten Leitartikel und schlechten Romane schreibt? Wirklich, es ist so. Eine Baßstimme brummt herüber:

»Wachholder, 's ist 'ne absolute Unmöglichkeit, bei dem Heidenlärm, den Euer Mädchen hier mit dem Buchdruckerjungen und dem Rezensenten – (Rezensent heißt der Hund des Doktors, ein ehrbarer schwarzer Pudel) – treibt, weiterzuschreiben. Ich bin mitten in einer der sentimentalsten Phrasen abgeschnappt – die kleine Range ist aus Rand und Band, und dabei grinst der Lümmel Fritze im Winkel und will Manuskript für die morgende Nummer.«

»Schicken Sie doch das Mädchen fort, Doktor, und riegeln Sie Ihren Musentempel hinter ihr zu!« lache ich hinüber.

»Dummes Zeug«, brummt der Doktor, der eine echte zeitungsschreibende Bummelnatur ist und dem die Störung durchaus nicht mißfällt. »Dummes Zeug; ich schreibe ›Fortsetzung folgt‹, und wir führen die Dirne in Schreiers Hunde- und Affenkomödie; der Rezensent hat's auch nötig, daß seine ästhetische Bildung aufgefrischt werde, wie ein Pack verflucht sonderbar riechender Zeitungsnummern in der Ecke zur Genüge beweist. Machen Sie sich fertig, Verehrtester!«

Damit verschwindet der Doktor vom Fenster; ich höre drüben auf der Treppe ein Getrappel kleiner Füßchen, und Liese erscheint, begleitet vom Rezensenten, in der Haustür. Mit einem Satz ist sie über die Gasse, ebenso schnell bei mir und im Handumdrehen fertig, wenn's sein müßte, eine Reise um die Welt anzutreten.

Einige Minuten später stürzt Fritze, der Druckerjunge, aus der Tür von Nummer elf mit einem Blatt Papier, welches noch sehr naß zu sein scheint, denn er trägt es gar vorsichtig und hält es mit beiden Händen weit von sich ab. Jetzt erscheint der Doktor ebenfalls in der Gasse, den östreichischen Landsturm pfeifend, die Zigarre im Munde und mit dem Hakenstock sehr burschikose Fechterübungen gegen einen eingebildeten Gegner machend. Er brüllt herauf:

»Wetter, edler Philosoph, lassen Sie die deutsche Presse nicht zu unvernünftig lange warten.«

Halb gezogen von Lieschen, halb umgeworfen vom Rezensenten, der, wie es scheint, seiner höheren Bildungsschule sehr ungeduldig entgegengeht, stolpere ich die Treppe hinunter über Eimer und Besen, über Kinder und Körbe. Aus allen Türen blicken alte und junge, männliche und weibliche Köpfe, die alle der kleinen Liese Ralff freundlich zunicken. Und wirklich, sie ist auch – wie einst ihre Mutter, nur jetzt noch auf andere Weise – das bewegende Prinzip der ganzen Hausgenossenschaft. Auf der Gasse taucht der Klempner Marquart aus seiner Höhle auf und erhält von der Liese Gruß und Handschlag, nicht aber vom Rezensenten, der den Feuerarbeiter haßt und, wie es so oft in der Welt geschieht, das Werkzeug für die Ursache nimmt. Hat nicht Marquart auf hohe polizeiliche Anordnung ihm, dem ehrbaren, soliden Rezensenten, dem Muster aller Pudel, den Maulkorb mit der Steuermarke um die beschnurrbartete Schnauze geschlossen? Wer verdenkt es dem braven Köter, wenn er wehmütigwütig vor dem Keller den husarenfederbuschartig zugeschnittenen Schwanz zwischen die Beine zieht und seitwärts schielend vorbeischleicht, »sich in die Büsche schlägt«, wie Seume und mein Freund Wimmer sagen? Und nun durch die Gassen! Himmel, was sollen wir der Kleinen nicht alles versprochen haben! Da eine »reizende« Gliederpuppe mit Wachsgesicht, an jenem Laden wieder ein »wonniges« kleines Puppenservice von gemaltem Porzellan und so fort, daß der Doktor ganz wehmütig den Hut auf die Seite schiebt und sich hinter dem Ohr kratzt.

»Ja, kucke nur, Onkel Wimmer, hast du nicht gesagt, du wolltest mir solch ein hübsches Kaffeegeschirr kaufen, wenn ich nicht wieder aus deinen alten, schmutzigen Schreibbüchern dem Rezensenten einen Federhut machen wolle?«

»Denken Sie, Wachholder« – sagt der Doktor zu mir –, »da hatte die Herostratin vorgestern einen ganzen Bogen Manuskript, das ganze zwanzigste Kapitel der Flodoardine zu dem eben von ihr erwähnten Zwecke vermißbraucht! Denken Sie sich meine Verblüfftheit, als der Köter so geschmückt aus seinem Winkel mir entgegenstolziert, auf den Stuhl mir gegenüber springt und einen verachtenden Blick über den Schreibtisch und die noch übrigen Bogen wirft, als wolle er sagen: »Pah, aus dem andern Schund machen wir eine ganz famose Jacke!«

»Kriege ich mein Geschirr?« ruft der kleine Verzug zwischen uns ungeduldig.

»Ja«, sagte der Doktor gravitätisch; »mit der zweiten Auflage der Flodoardine!«

»Ach«, mault die Kleine, wehmütig über diese dunkle, ihr unverständliche Vertröstung, »ich sehe schon, du hast wieder mal kein Geld!«

Lachend marschierte ich weiter, während der Doktor ebenfalls etwas Unverständliches in den Bart brummte.

Und jetzt sind wir am Eingange der buntgeschmückten Bude angekommen und einen Augenblick darauf auch drinnen. Affen und Äffinnen, Hunde und Hündinnen machten ihre Kunststücke, und die Bretter bedeuteten auch hier eine Welt, und Affe und Äffin, Hund und Hündin betrugen sich wie Menschen. Die kleine Elise jauchzte, und Rezensent starrte verwundert seinen Stammesgenossen auf der Bühne zu. Er schien ganz perplex, und von Zeit zu Zeit stieß er einen heulenden Laut aus, den der Doktor verdolmetschte:

»Berichterstatter war außer sich vor Entzücken.«

Bellte der gelehrte Pudel kurz und schroff, so meinte der Doktor, das bedeute:

»Berichterstatter war außer sich über die Insolenz eines so unreifen Künstlers, vor einem so kritisch gebildeten Publikum, wie das unserer Residenz, zu erscheinen.«

Wedelte das rezensierende Vieh mit seinem Husarenbusch, so hieß das:

»Diese junge Künstlerin verdient alle Ermunterung. Bei fortgesetztem fleißigem Studium verspricht sie etwas Großes zu leisten.«

Gähnte der Köter, so sagte der Doktor:

»Berichterstatter rät dem Verfasser dieses geistvollen Stücks, sein elendes Machwerk nicht für dramatische Poesie auszugeben. Mit einer Tragödie hat es nichts gemein als fünf Akte!«

Als am Schluß der Vorstellung das große und kleine Publikum sich erhob und Beifall klatschte, der Pudel aber, wie von einer großen Verpflichtung befreit, unter die Bank sprang, erklärte der Doktor, das bedeute:

»Gottlob, daß die Geschichte vorbei ist. Jetzt kann man sich doch mit Gemütsruhe eine Zigarre anzünden und zu Butter und Wagener am Gänsemarkt gehen.«

Und das tat der Doktor auch. Vorher aber hob er die kleine Elise noch zu sich empor und gab ihr – wie sehr sie sich auch sträubte – einen tüchtigen Schmatz.

»Also bei der zweiten Auflage der Flodoardine schaffen wir uns ein neues Teeservice an«, sagte er lachend.

Rezensent schien erst im Zweifel mit sich zu liegen, welcher von beiden Parteien er folgen solle. Zuletzt gewann aber der Gedanke an Wurstschelle und so weiter die Oberhand. Er trabte dem Doktor nach.

Wir aber gehen nicht zu Butter und Wagener am Gänsemarkt. Wir kaufen noch Obst von der alten Hökerfrau an der Ecke und kehren glücklich – das kleine Herz voll vom Affen Kätz mit der Laterne und dem Spitz Hudiwudri, der lustigen Madame Pompadour und all den andern Wundern – zurück in unsere Sperlingsgasse und schlafen, müde vom Gehen, Lachen und Jubeln, schon beim Auskleiden ein.

Dann steigt der volle, reine Mond über den Dächern auf. Der Abendwind weht frischere Lüfte über die große Stadt. Der Lärm des Tages ist vorbei; manche bedrückte Brust atmet leichter in der dämmerigen Kühle. Mancher sehnige Mannsarm, der den Tag über den Hammer, das Beil, die Feile regierte, legt sich sanft um ein befreundetes Wesen, das ihm neuen Mut im harten Kampf gegen die Materie gibt; manche harte Hände heben kleine, schlaftrunkene Kindchen aus den ärmlichen Bettchen, um an den kleinen Lippen Hoffnung und Mut zum neuen Schaffen zu saugen! Und auch ich beuge mich dann über meine schlafende Pflegetochter, den leisen, ruhigen Atemzügen der kleinen Brust lauschend, während die alte Martha am Fußende des Bettes strickt.

Das Lockenköpfchen des Kindes liegt auf dem rechten Ärmchen, das Gesichtchen ist in dem Kopfkissen vergraben; ich kann die lieblichen, reinen Züge nicht sehen.

Da sieh! Plötzlich wendet sich das Kind um und dreht mir voll das Gesicht zu – es murmelt etwas. »Mama!« flüstert es leise, und ein heiliges, glückseliges Lächeln gleitet über das Gesichtchen.

Wer raunt der Waise das süße Wort zu? – Die alte Martha hat die Hände gefaltet und betet leise. – »Mama, liebe, liebe Mama!« flüstert das Kind wieder, das Ärmchen ausstreckend.

Ist es ein Traum, oder kommt die erdentote Mutter zurück, über ihrem Kinde zu schweben?

Dann fällt wohl ein Mondstrahl glänzend durch das Efeugitter auf das Bild Mariens, der Kanarienvogel zwitschert auch wie im Traume auf, eine Wolke legt sich vor den Mond, der Strahl verschwindet – das Kind versenkt, sich umdrehend, das Köpfchen wieder in die Kissen.

»Gute Nacht, Elise! Felicissima notte, sagen sie in dem schönen Italien, wo du heute weilst, eine glückliche, liebende Frau: Felicissima notte, Elise!«


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