Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse
Wilhelm Raabe

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Am 7. März.

Gestern nachmittag begannen die schweren Regenwolken, die wochenlang über der großen Stadt gehangen hatten, sich zu heben. Sie zerrissen im Norden wie ein Vorhang und wälzten sich langsam und schwerfällig dem Süden zu. Ein Sonnenstrahl glitt pfeilschnell über die Fenster und Wände mir gegenüber, um ebenso schnell zu schwinden; ein anderer von etwas längerer Dauer folgte ihm, und jetzt liegt der prächtigste Frühlingssonnenschein auf den Dächern und in den Straßen der Stadt. Wahrlich, jetzt gleicht die Stadt nicht mehr einem scheuergeplagten Ehemann; sie gleicht vielmehr seiner bessern Hälfte, die nun ihre Pflicht getan zu haben meint, erschöpft auf einen Stuhl zum Kaffeetrinken niedersinkt und lispelt: »Puh! hab ich mich abgequält, aber gottlob, nun ist's auch mal wieder rein!«

Ja, rein ist's! Verschwunden ist der Schnee, der zuletzt doch gar zu grau und unansehnlich geworden war; viel mißmutige, verdrossene Gesichter haben sich aufgehellt, und – die kleine Leiche von oben ist fort. Die alte Großmutter Karsten hat auch ihr nachgeblickt; sie hat die arme Mutter auf die Stirn geküßt, als man den Sarg hinabtrug, und hat, gleichsam als wundere sie sich über etwas, lange das Haupt geschüttelt. Wer weiß, wieviel jüngere Leben sie noch dahinschwinden sieht!

Ich habe diese Blätter, glaub ich, einmal ein Traumbuch genannt – wahrlich, sie sind es auch.

Wie Schatten ziehen die Bilder bald hell und sonnig, bald finster und traurig vorüber. Jetzt ist der dunkle Grund, aus dem sie sich ablösen, ganz bedeckt von Leben und Jubel; jetzt taucht wieder die unheimliche finstere Folie auf. Die Freude verstummt, der Jubel verhallt, es ist tote Nacht allenthalben, die nur dann und wann ein Klagelaut unterbricht. Sei die Nacht aber auch noch so dunkel, ein Stern funkelt stets hinein: Elise! – Ich brauche nur in meine alten Mappen und Erinnerungsbücher mich zu versenken, und die Gespenster entfliehen, die Nebel sinken, und es wird wieder fröhlicher Tag in mir.

Elise!

Die Knospe, die hundert duftige Blumenblätter in ihrer grünen Hülle einschloß, entfaltet sich wie ein süßes, liebliches Geheimnis. Noch ein warmer Kuß der Sonne, und die Zentifolie, den reinen Tautropfen der Jugend und der Unschuld im Busen, ist die schönste der Erdenblüten.

Ich glaube an keine Offenbarung als an die, welche wir im Auge des geliebten Wesens lesen; sie allein ist wahr, sie allein ist untrüglich; in dem Auge der Liebe allein schauen wir Gott »von Angesicht zu Angesicht«. Die Zunge ist schwach und des Menschen Sprache unvollkommen; die Schrift ist noch schwächer und unvollkommener, und ein Blatt Papier zum Urquell der Erkenntnis des ewigen Geistes machen zu wollen, ist ein arm töricht Beginnen. Ich drücke die Augen zu, und – sie ist vor mir mit ihrem süßen Lächeln, sie schlägt sie auf, diese großen blauen Augen, in denen ich Trost suche und finde. Elise, Elise, nun bist du ein großes, schönes Mädchen geworden, und das Bild dort, welches dein toter Vater von deiner toten Mutter malte, gleicht einem Spiegel, wenn du so sinnend davor stehst und so süßtraurig lächelnd zu ihm emporblickst. Die wilden Spiele, die tollen Streiche in dem Hause und auf der Gasse sind vorüber (wenn auch noch nicht ganz, Schelm); wo du sonst lachtest, Elise, lächelst du jetzt, wo du sonst weintest und klagtest, senkst du jetzt die Augen und träumst; wo du sonst den Schürzenzipfel in den Mund stecktest oder die Ärmchen auf dem Rücken ineinander wandest, fliegt jetzt ein hohes Rot über deine Wangen – du bist eine Jungfrau geworden in den Blättern der Chronik, Elise!

Oftmals lässest du, vor dem Nähtischchen deiner Mutter unter der Efeulaube sitzend, die Arbeit lauschend in den Schoß sinken, das Köpfchen in das dichteste Blätterwerk verbergend. Eine helle, frische Stimme klingt dann von drüben herüber, ein Studentenlied anstimmend. Wo will Flämmchen hin, Elise? – Einen Augenblick sitzt es auf ihrer Schulter, ihr ins Ohr zwitschernd, als habe es ihr ein wichtiges, ein gar wichtiges Geheimnis mitzuteilen, dann verschwindet es aus dem Fenster. Wo ist es geblieben?

Die Stimme drüben, die plötzlich mitten in ihrem Gesang abbricht, gibt Antwort darauf. Ein wohlbekanntes, wenig verändertes, braunes Gesicht, von dunkeln Locken umwallt, erscheint in Nr. zwölf am Fenster; es ist der junge Maler Gustav Berg, der Vetter Gustav, der einstige Taugenichts der Gasse, jetzt ein »denkender« Künstler und, wie man munkelt, oft genug der »Taugenichts des Ateliers« beim Meister Frey in der Rosenstraße.

»Kusine, Kusine Elise! Onkel Wachholder!« ruft er. »Die Mama ist außer sich! Flämmchen hat ein Leinölglas umgestoßen und – Unordnung über Unordnung – nicht nur eine sehr angenehme Verschönerung auf dem Fußboden, sondern auch eine sehr unangenehme Verbesserung auf meiner Zeichnung angebracht. Es ist keine Möglichkeit, weiterzuarbeiten! Wie wär's mit einem Spaziergang?«

Ich denke lächelnd an den Doktor Wimmer, der auch einst oft genug Ähnliches von drüben herüberrief; die Chronik der Sperlingsgasse hat ihre Wiederholungen wie alles in der Welt. – Elise setzt ihren Strohhut auf, und wir gehen hinüber. Auf der Treppe schon empfängt uns Gustav, noch im leichten farbebeschmutzten Malrock, den Kanarienvogel auf dem Finger.

»Da ist der Verbrecher«, lacht er. »Sieh, Lieschen, wie unschuldig er aussieht, grade wie du, die doch auch um kein Haar breit besser ist als er.«

»Was? – Was hab ich denn verbrochen?« fragt Elise.

»Höre nicht auf den bösen Menschen«, sagt die Tante Helene, die jetzt in der Tür erscheint.

»So; – das ist ja prächtig, Mama! Höre nicht auf den bösen Menschen! Das ist himmlisch! Onkel Wachholder, das Frauenzimmervolk hängt wie Pech zusammen; ich rufe Sie zum Richter auf. Aber kommen Sie herein, die Sache ist zu wichtig, als daß man sie auf der Treppe abmachen könnte.«

Wir treten ein, jeder sucht sich einen Platz, und Gustav beginnt:

»Hören Sie zu, Onkel! Heute morgen gehe ich, mit meiner Zeichenmappe unter dem Arm, ganz solide von hier weg. Die besten Vorsätze und Gesinnungen bewegten meinen Busen, und ich rechnete mir innerlich für den immensen Fleiß, den ich heute beweisen wollte, verschiedene Bummeleien zugute. Ich wollte, ich hätte das Selbstgespräch, welches ich hielt, stenographieren können, es würde mir jetzt von großem Nutzen sein. An mancher Scylla und Charybdis, wo meine guten Vorsätze sonst dann und wann gescheitert waren, war ich diesmal glücklich vorbeigesegelt. Als mich Thomas Helldorf aus seinem Fenster anbrüllte, hatte ich mich taub gestellt, als aus Schnollys Konditorei Leopold Dunkel mir zuwinkte, hatte ich mich blind gestellt; gefühllos zu sein, hatte ich geheuchelt, als Richard Breimüller mich in die Seite stieß und mir den Arm fast ausrenkte, um mich mit zu einem großartigen Frühstück zu ziehen, welches die unmoralischen Menschen, die Freiwilligen von den Zweiunddreißigern, gaben. Ich entwickelte eine riesige Moral! Da biege ich im vollen Gefühl meiner Sittlichkeit um die Ecke, die auf den Gemüsemarkt führt, und – renne gegen einen Korb oder vielmehr eine Korbträgerin, die mir entgegenkommt und mir ohne weiteres mit ihrem Sonnenschirm den Weg versperrt ...«

»O dieser Lügner!« fällt hier Elise ein. »Wer hat dir den Weg versperrt? Hast du mich nicht angehalten? Hast du mir nicht meinen Korb weggenommen? Du ...«

»... die mir also den Weg versperrt und ...«

»Verleumder! – Hast du mir nicht meinen ganzen Korb umgekramt und die größte Mohrrübe hervorgezogen, um sie auf der Stelle mit deinem Messer ...«

»... die mir, wie gesagt, den Weg versperrt und sagt: ›Sieh, das ist prächtig, Gustav; jetzt sollst du wider deinen Willen einmal zu etwas nützlich sein; hier, nimm meinen Korb!‹ – Kannst du das leugnen, Liese?«

»Onkel, er lügt entsetzlich«, sagt Elise, »er verdreht die ganze Geschichte. Ich hätte ihn doch nicht den Korb tragen lassen?! Er war es, der ihn nicht wieder herausgab, und da er noch dazu zwischen jedem Biß, den er an seine Mohrrübe tat, an einem Rosenstrauch roch, welchen er ebenfalls herausgewühlt hatte, so sagte ich: ›Ich habe keine Zeit mehr und ...‹«

»Onkel Wachholder«, unterbricht jetzt Gustav, »ich verband das Schöne mit dem Nützlichen! Mama, sind rohe Mohrrüben nicht etwa gut gegen – gegen alles mögliche?«

»... ich habe keine Zeit mehr, und wenn du den Korb einmal nicht wieder herausgeben willst, so behalte ihn und schleppe ihn meinetwegen!«

»Siehst du! Seht ihr! Da gesteht sie ihre Schlechtigkeit selbst ein. Denken Sie, Onkel Wachholder, auf einmal dreht sie sich um, rennt davon wie eine Gazelle und läßt mich an der Ecke stehen wie ein Kamel, beladen mit Rosen von Schiras und Gemüse aus dem Tal von Schâm. ›Elise, Lieschen, Kusine Ralff!‹ rufe ich aus vollem Halse; ›Liese, mit dem Korb kann ich doch nicht ins Atelier gehen! Himmlische Kusine Lieschen, befreie mich von diesem Stilleben!‹ – Wer aber nicht hört, ist Elise. Was war zu tun? Ich setze mich in Trab; mit Korb und Mappe, mit Rüben und Rosen hinter ihr her. Solch eine Jagd! – Von Zeit zu Zeit sehe ich ihren Strohhut oder ihr blaues Kleid zwischen dem Schwefelholz-, Herings-, Butter- und Käsehandel – ich glaube, sie zu haben – Täuschung, da ist sie wieder hinter einer Bude verschwunden! Ich fange an, dem kaufenden und verkaufenden Publikum sehr lächerlich zu werden mit meiner Mohrrübe, die ich noch immer krampfhaft in der Hand halte. Ich trete in einen Eierkorb! Riesiger Skandal! – Die Polizei erscheint! ›Verkoofen Se Ihr Grünkraut sachte‹, sagt grinsend Polizeimann Nr. 69, ›immer langtemang!‹ – Ich bezahle für den Eierkorb mit blutendem Herzen und gelben Stiefeln; von Elise keine Spur! – Neue Jagd – ich glitsche über einem Kohlstrunk aus – baff, da liege ich mit Korb und Mappe; Kohlrüben, Rosen, Zwiebeln, meine Zeichnungen und Elisens Marktrechnungen im malerischen Durcheinander um mich her. ›O Jotte, det arme Kind‹, sagt eine dicke Gemüsefrau, ›ebent in die Eier und nu in den D...! Soll ich Se ufhelfen, Männeken?‹ – ›Immer langtemang‹, grinst wieder Polizeimann Nr. 69, der mir wie mein böses Prinzip gefolgt ist. – Ich suche meine Schätze, die ich zu allen Teufeln wünsche, gleich im Liegen auf, und erhebe mich dann in einer wirklich anmutigen Verfassung. Außer Atem und hinkend schlage ich mich durch die Menge und sinke auf den Eckstein an derselben Ecke, wo mein Leiden begonnen hatte. Ich stelle den Korb zwischen die Beine und starre mit äußerst bitterm Gefühl hinein. Soll ich das Ungetüm wirklich hinschleppen nach der Sperlingsgasse? Vorüber an der Kaserne der Zweiunddreißiger und an Schnollys Konditorei? – Einen Spitznamen hätte ich und meine ganze Nachkommenschaft weg – drei Ellen lang! Mein innerster Mensch sträubte sich zu mächtig dagegen. Eine Droschke konnte ich nicht nehmen, denn meinen Geldvorrat hatte das Eierunglück aufgefressen, es blieb mir nichts anderes übrig, als eine neue Mohrrübe abzukratzen, meine Verzweiflung an ihr zu verbeißen. Das kommt davon, wenn man mit soliden Vorsätzen von Hause weggeht! Wie gemütlich hätte ich in dem Augenblick statt auf diesem fatalen Eckstein bei dem Frühstück der Freiwilligen sitzen können! Ich weiß nicht, wie lange ich so brütend da gekauert habe, als ich plötzlich, um zum Himmel zu schauen, meinen Blick aufschlage, aber ihn halbwegs erstarrt ruhen lasse! – – Da saß sie! – Kichernd lehnt sie an dem Eckstein der andern Straßenecke mir gegenüber, eine große, grüne, angebissene Birne in der Hand! ›Guten Morgen, Vetter!‹ lacht sie, ohne sich vom Fleck zu rühren. ›Könntest du mir jetzt vielleicht meinen Korb geben? Ich muß wirklich nach Haus; der Onkel kriegt sonst nichts zu essen!‹ – Ich fahre mit der Hand über die Stirn, ich muß wirklich erst meine Sinne zusammensuchen; ich stoße einen tiefen Seufzer aus – da erhebt sie sich, als schicke sie sich an, wieder fortzurennen. In Todesangst springe ich auf, bin in einem Satz mit dem verdammten Korb an ihrer Seite, hänge ihn ihr an den Arm und sinke nun auf den Eckstein neben ihr, um auch ihn als Sitzmittel zu probieren. – ›Hab ich dich aber gesucht, Gustav!‹ hohnlächelt die Boshafte. ›Gott, wie siehst du aus? Wo hast du denn gesteckt?‹ – › Daimoníê!‹ murmele ich dumpf, während es noch dumpfer auf der unierten Kirche elf schlägt und die Atelierszeit ihrem Ende naht; und so ziehen wir nach Haus, Elise immer kichernd voran, ich hinkend hinter ihr her, meine Rockschöße vorsichtig zusammenhaltend. Eine derangierte Toilette, ein leerer Geldbeutel, müde Beine, ein gräßlicher Nachgeschmack von den fatalen Mohrrüben und das bodenlose Gefühl, mich unendlich lächerlich gemacht zu haben, das waren die Ergebnisse dieses Morgens! Und nun richten Sie, Onkel Johannes!«

»Onkel, laß das Richten nur sein«, sagt Elise. »Er hat sich schon selbst gerichtet. Hat er nicht?«

»Ich glaube auch«, sagt die Tante Berg.

»Ich desgleichen«, gebe ich mein Verdikt ab.

»Das dachte ich wohl«, brummt der denkende Künstler. »Wann hätte je die Unschuld gesiegt?! Abgemacht. Wie wird's nun mit unserm Spaziergang?«

»Ja, wo wollen wir hin?« ruft Elise, und Gustav meint:

»Ein Vorschlag zur Güte: wir gehen nach dem Wasserhof; da ist bal champêtre! Was meinst du, Lieschen?«

»Kann man da hingehen?« fragt die Tante Berg bedenklich.

»Warum nicht? Sind wir doch dabei!« sagt der denkende Künstler, gravitätisch den Halskragen in die Höhe zupfend. »Übrigens ist heute auch das Atelier mit seinen Schwestern da; ebenso der Professor Frey mit seinen sechs Nichten, und...«

»Nach dem Wasserhof!« rufe ich elektrisiert. »Tante Berg, man kann dahin gehen!«

Und wir gehen hin. –


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