Ludwig Preller
Griechische Mythologie II - Heroen
Ludwig Preller

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e. Boreas und Oreithyia.

Gleichfalls ein altes Naturmärchen, in welchem Oreithyia nur deswegen für eine Tochter des Erechtheus gilt, weil das Märchen attischen Ursprungs war. In der Umgegend von Athen, auf den Höhen der Berge, an den Quellen des Ilissos und Kephissos, müssen die heftigen Stoßwinde des Meeres und der Einfluß 149 dieses Windes auf Luft und Wetter besonders häufig beobachtet sein. Oreithyia ist nehmlich der Morgennebel, der sich bei kalter Luft an den Bergen und über den Feldern und Flüssen lagert und, wenn er von heftiger Bewegung emporgerissen steigt, ein regnichtes und stürmisches Wetter bringt, wie es die Hesiodischen Wetterregeln genau beschreibenHesiod O. D. 547–53, bei kalter Luft, wenn der Boreas wehe, lagere sich ein befruchtender Nebel über die Felder, der sich aus den Flüssen schöpfend verstärke und darauf ὑψοῦ ὑπὲρ γαίης ἀρϑεὶς ἀνέμοιο ϑυέλλῃ ἄλλοτε μέν ϑ' ὕει ποτὶ ἕσπερον ἄλλοτ' ἄησι πυκνὰ Θρηικίου Βορέου νέφεα κλονέοντος.. Aus der attischen Fabel wird uns eine Hauptscene, die Entführung des luftigen Mädchens durch den gewaltsamen Gott der thrakischen Berge, in mehreren schönen Vasenbildern vergegenwärtigtVgl. namentlich das b. Gerhard etr. u. campan. V. B. t. 26–29 u. Welcker A. D. 3, 144–191, wo viele andre Vasenbilder desselben Inhalts beschrieben werden, vgl. neuerdings Mon. d. I. 6 t. 10 und Welcker Ann. 29, 207 ff. 358. Auch die Erklärung der Fabel ist von Welcker, vgl. Gr. Götterl. 1, 87.. Aeschylos hatte eine Tragödie desselben Inhalts gedichtet. Boreas habe anfangs in bester Manier um die attische Königstochter geworben, aber als rauher und struppiger Thraker gar nicht gefallen. Da folgt er seiner NaturAesch. fr. 275, Ovid M. 6, 690 ff. und entführt die Schöne mit Gewalt, als sie mit den Töchtern des Kekrops, den Thauschwestern, am Ilissos oder an den Quellen des Kephissos Blumen pflückte und spielte, oder, wie Andre erzählt hatten, auf dem Areopag oder als ihr Vater sie als Kanephore der Athena Polias auf die Burg geschickt hatteAkusilaos b. Schol. Od. 14, 533, Apollon. 1, 212 ff. Schol., Paus. 1, 19, 6. Nach der gewöhnlichen Sage wurde Oreithyia am Ilissos, nach Simonides vom Brilessos, nach Choerilos an den Quellen des Kephissos entführt.. Er entführt sie weit übers Meer nach Thrakien und an die stürmische Sarpedonische KüsteSophokl. b. Str. 7, 195, wo es von dieser Entführung heißt: ὑπέρ τε πόντον πάντ' ἐπ' ἔσχατα χϑονὸς Νυκτός τε πηγὰς Οὐρανοῦ τ' ἀναπτυχάς, Φοίβου παλαιὸν κῆπον. Ueber die Sarpedonische Küste s. oben S. 132., wo die attische Prinzessin nun an der Seite des mächtigen Boreas Königin über alle Winde wird und zwei Söhne und zwei Töchter von ihm gebiert, Zetes und Kalaïs, die geflügelten Sturmjünglinge der Argonautensage, und Kleopatra und Chione. Jene ward die unglückliche Gattin des Phineus, Chione d. i. die Schneejungfrau, das wahre Kind des stürmischen Nordwindes und der kalten BergluftOd. 14, 475, Xenoph. Anab. 4, 5, 3. 4., 150 wird vom Poseidon Mutter des Eumolpos, dessen Geschichte ein seltsames Gewebe von mythischen Gedanken und historischen Thatsachen istApollod. 3, 15, 4.. Die Mutter wirft ihn aus Angst vor ihrem Vater ins Meer, wo Poseidon sein Kind aufnimmt und nach Aethiopien zu seiner Tochter Benthesikyme bringt. Dem Erwachsenen giebt deren Gemahl eine von seinen Töchtern zur Ehe, ihn aber treibt das wilde thrakische Blut wie Tereus auch der andern zu begehren, worüber er flüchten muß. Eumolpos begiebt sich nun mit seinem Sohne Ismaros oder Immarados zum Könige der Thraker in Boeotien Tegyrios, welcher Name auf die Gegend von Orchomenos und auf Apollinischen und Dionysischen Enthusiasmus deutetMüller Orchom. 147. Der Name Ἴσμαρος deutet auf die Thraker in der Gegend von Maroneia, s. Steph. B. Μαρώνεια, Bd. 1, 575, [1825]. Er ist verwandt mit Ἵμερος, Ἰσμήνη u. a., daher Pott. Z. f. vgl. Spr. 9, 415 Ἰμμάραδος erklärt durch ἱμερόφωνος, von ἀείδω, so daß er nur ein andrer Εὔμολπος wäre. Die Geschichte des letzteren ist wahrscheinlich im Erechtheus des Euripides erzählt worden. Als Diener des Dionysos ist er auch Urheber der cultura vitium et arborum, Plin. 7, 199.. Er wird darauf selbst König dieser Thraker und zieht als solcher den befreundeten Eleusiniern zu Hülfe, als sie sich mit Athen und Erechtheus im Kriege befinden. Also nördliche Abkunft wie bei den Musenjüngern vom Olymp (1, 381), eine Erziehung im fernen Osten, wo Licht und Weisheit zu Hause ist, nach der späteren Auffassung in Aegypten, an dessen Einfluß auf die eleusinischen Mysterien man allgemein glaubte, endlich Niederlassung und Herrschaft zu Tegyra und zu Eleusis, weil deren Culte vermuthlich einen gleichartigen Einfluß jener mit Dionysischen Religionselementen verwachsenen Poesie und Musik erfahren hatten, welche Eumolpos als thrakischer Sänger und Mystagog vertritt.

Die Athenienser aber rühmten sich seit jener Zeit mit Boreas auf einem besonders guten Fuß zu stehen, da er ihr Verwandter sei. Wie ihnen namentlich zur Zeit der Perserkriege vom Orakel zu Delphi der Rath gegeben wurde »den Schwiegersohn zu Hülfe zu rufen,« daher sie den König der Winde eifrig verehrten, zumal in den Tagen vor der Seeschlacht bei Artemision, wo die wiederholte Beschädigung der persischen Flotte durch Sturm und Schiffbruch, zuerst beim Athos dann bei der Küste Sepias unter dem Pelion, der befreundeten Macht des Boreas zugeschrieben wurde. Simonides hatte in seiner Beschreibung jener Seeschlacht davon gesungen, auch Choerilos in seinem Gedicht von den 151 Perserkriegen, und der Altar des Boreas am Ilissos in Athen wurde damals gestiftetHerod. 7, 188. 189, Schol. Apollon. 1, 212, Paus. 1, 19, 6, Himer, or. 1, 18.. Wurde doch auch zu Delphi zu derselben Zeit ein Altar und Gottesdienst der Winde gegründetHerod. 7, 178. Der Ort dieser Stiftung war ein Heiligthum der Θυῖα, einer Göttin des Sturmes und der stürmischen Begeisterung, auch »die Schwarze« genannt, T. des Kephissos, Geliebte des Apoll und erste Priesterin des Dionysos, Paus. 10, 6, 2., da der Parnaß ohnehin an gewaltsamen Erscheinungen der Luft und des Wetters reich war und die Schneejungfrauen dem Pythischen Heiligthume noch in der Zeit des keltischen Plünderungszugs zu Hülfe kamenEgo providebo rem istam et albae virgines lautete der Spruch des Gottes, der diese Hülfe versprach, Cic. de Divin. 1, 37, 81. Vgl. das Märchen vom Δαιδαλίων d. h. dem Habicht (accipiter), dem Sohne des Morgensterns und seiner Tochter Chione d. h. der Schneejungfer, welche nach derselben Nacht vom Apollo den Philammon, von Hermes den Autolykos gebar und durch Artemis umkam, weil sie ihre Schönheit mit der der jungfräulichen Göttin zu vergleichen gewagt, Ovid M. 11, 290 ff., Hygin f. 200. Pherekydes erzählte dasselbe von der Philonis, einer T. des Deion, welche so schön war daß die Götter ihretwegen auf einander eifersüchtig wurden, Schol. Od. 19, 432.. Um so mehr kam es den Bürgern von Thurii attischer Abkunft zu sich dem Boreas dankbar zu beweisen, als er ihnen in einem Kriege mit dem Tyrannen Dionysius durch Zerstörung seiner Flotte half. Sie erklärten ihn für ihren Mitbürger, stifteten ihm ein Haus und Grundstück und brachten jährliche OpferAelian V. H. 12, 61..

Auf die Boreaden der Argonautensage werden wir bei dieser zurückkommen. Außerdem erzählte man von Boreaden auf Naxos und Delos, aber in sehr entgegengesetztem Sinne, wie schon die Sage vom Eumolpos einen solchen Gegensatz ankündete. Dort sind es wilde Thraker und Diener des thrakischen Dionysos, welche der Sage nach aus ihrer nördlichen Heimath nach der fruchtbaren Insel des Dionysos verschlagen waren und ihre Weiber durch Raub der Maenaden aus dem Waldgebirge im phthiotischen Achaja gewonnen hattenDiod. 5, 50. Boreas hat hier zwei Söhne, Lykurgos d. i. der Winterkönig der thrakischen Dionysossage (1, 538) und Βούτης d. i. der Stiertödter, welcher mit seinem Anhange nach Naxos auswandert. Dieser stirbt im Wahnsinn bei jenem Raube der Maenaden des Gebirges Δρίος in der Phthiotis, wahrscheinlich in der Gegend von Theben, s. Bd. 1, 539, [1693]. Der Gottesdienst zu Naxos wird dem dieser Gegend und dem thrakischen verwandt gewesen sein., hier sanfte und feierliche 152 Priester des Apollo, nehmlich die erblichen Priesterkönige der Hyperboreer, welche auf der seligen Insel des Lichtgottes im nördlichen Weltmeere die Erscheinung des Gottes von der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche an bis zum Aufgange der Plejaden durch Gesang und Saitenspiel feierten, welches ganze Schaaren heiliger Schwäne durch ihre Umzüge und ihren Gesang begleiteten. Die ersten Priesterkönige dieses Volks waren wirkliche Boreaden gewesen, Söhne des Boreas und der Chione, drei Brüder, jeder sechs Ellen lang, ihre Nachfolger waren desselben GeschlechtsDiod. 2, 47, Aelian N. A. 11, 1, beide nach Hekataeos von Abdera.. Auch galten später die Hyperboreerinnen auf Delos, die ersten Dienerinnen der Artemis, für Töchter des BoreasKallimach. Del. 293 vgl. Bd. 1, 229..

So verschieden waren die Anschauungen, welche sich bei den Griechen mit dem Gedanken an den Norden und den dort hausenden Nordwind verbanden, dessen Residenz auf der Grenze der wildesten Sturmregion und jenes ewig heiteren Nordlandes des Lichtgottes lag (1, 189). Wie der Sturm und Winter des Boreas denn noch einmal hervorbricht in der Fabel von dem wilden Thrakerkönige Harpalykos und seiner Tochter Harpalyke, einer ächten Windsbraut, welche schneller war als die schnellsten Rosse, schneller als die Strömung des HebrosVirg. A. 1, 317 vgl. Servius u. Hygin f. 193., und dabei eine so rüstige Amazone daß sie ihrem Vater in der Schlacht das Leben rettete. Doch erschlug diesen zuletzt sein eigenes Volk, weil er gar zu wild war, worauf die Tochter sich in die Wälder warf und lange vom Raub der jungen Zicklein und Böcke lebte, die sie aus den Ställen entführte. Keiner konnte sie einholen, auch auf dem schnellsten Rosse nicht, bis sie sich zuletzt in ausgespannte Jagdnetze verfing und von den Hirten erschlagen wurde. Noch an ihrem Grabe wurde sie durch Kampf und Streit geehrt.


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