Paul, Hermann
Prinzipien der Sprachgeschichte.
Paul, Hermann

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325 Neunzehntes Kapitel.

Entstehung der Wortbildung und Flexion.

§ 225. Wir haben uns vielfach mit der analogischen Neuschöpfung auf dem Gebiete der Wortbildung und Flexion beschäftigt. Wir müssen jetzt die ursprüngliche, nichtanalogische Schöpfung auf diesem Gebiete ins Auge fassen. Dieselbe ist nicht etwas Primäres wie die einfachsten syntaktischen Verbindungen, sondern erst etwas Sekundäres, langsam Entwickeltes. Es gibt, soviel ich sehe, nur drei Mittel, durch die aus blossen einzelnen in keiner inneren Beziehung zueinander stehenden Wörtern sich etymologische Wortgruppen herausbilden. Das eine ist Lautdifferenzierung, auf die eine Bedeutungsdifferenzierung folgt. Ein passendes Beispiel dafür wäre die Spaltung zwischen Impf. und Aor. im Idg. (vgl. § 179).Ein ganz anderer Vorgang ist es natürlich, wiewohl das gleiche Resultat herauskommt, wenn ein sekundärer Lautunterschied nach Verlust der übrigen unterscheidenden Merkmale zum einzigen Zeichen des Funktionsunterschiedes wird, wie in engl. foot - feet, tooth - teeth, man - men. Wo sich dergleichen Formen in unseren ältesten Überlieferungen finden, wird sich häufig nicht entscheiden lassen, ob sie diesem oder dem im Text besprochenen Vorgange ihre Entstehung verdanken. Ähnliche Spaltungen sind sehr wohl auch schon bei den primitiven Elementen der Sprache denkbar. Doch bilden sich in den meisten Fällen, die wir beobachten können, durch solche Differenzierung keine Gruppen, indem dabei das Gefühl der Zusammengehörigkeit verloren geht, und noch weniger Parallelgruppen, wie in dem angeführten Falle. Ein zweites Mittel ist das Zusammentreffen konvergierender Bedeutungsentwickelung mit konvergierender Lautentwickelung (vgl. suchen - sucht), worüber § 150 gehandelt ist. Dass ein derartiger Vorgang nur vereinzelt eintreten kann, liegt auf der Hand. Die eigentlich normale Entstehungsweise alles Formellen in der Sprache bleibt daher immer die dritte Art, die Komposition.

§ 226. Die Entstehung der Komposition zu beobachten haben wir reichliche Gelegenheit.Vgl. L. Tobler, Über die Wortzusammenhang, Berlin 1868. H. Jacobi, Kompositum und Nebensatz, Bonn 1897. O. Dittrich, Über Wortzusammensetzung auf Grund der neufranzösischen Schriftsprache (Zschr. f. roman. Philol. 22, 305. 441. 23, 288. 24, 465. 29, 129. 257; darin reichliche bibliographische Angaben). Brugmann, Über das Wesen der sogenannten Wortzusammensetzung (Ber. d. philol.-historischen Cl. d. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch. 1900, 359). Paul, Das Wesen der Wortzusammensetzung (IF 14, 251). Brugmann, Die Wortzusammensetzung in den idg. Sprachen (ib. 18, 59. 127). Neckel, Exozentrische Komposition IF 19, 249, dazu Leskien IF 23, 204 und Pollak ib. 30, 55 und Zf. ö. G. 59, 1059. In den indogermanischen Sprachen sind 326 zwei Schichten von Kompositis zu unterscheiden, eine ältere, die entweder direkt aus der Ursprache überkommen oder nach ursprachlichen Mustern gebildet ist, und eine jüngere, die unabhängig davon auf dem Boden der Einzelsprachen entwickelt ist und in den modernen Sprachen einen grossen Umfang gewonnen hat. Letztere sehen wir grossenteils vor unsern Augen entstehen, und zwar durchgängig aus der syntaktischen Aneinanderreihung ursprünglich selbständiger Elemente. Es sind dazu Verbindungen jeglicher Art tauglich. So entstehen Komposita aus der Verbindung des Genitivs mit dem regierenden Substantiv; vgl. nhd. Hungersnot, Hasenfuss, Freudenfest, Kindergarten, franz. lundi (lunæ dies), Thionville (Theodonis villa), connétable (comes stabuli), Montfaucon (mons falconis), Bourg-la-Reine, lat. paterfamilias, legislator, plebiscitum; aus der Verbindung des attributiven Adjektivums mit dem Substantivum, vgl. nhd. Edelmann (mhd. noch edel man, gen. edeles mannes), Altmeister, Hochmut, Schönbrunn, Oberhand, Liebermeister, Liebeskind, Morgenrot, franz. demi-cercle, doublefeuille, faux-marché; haute-justice, grand-mère, petite-fille, belle-lettres, cent-gardes, bonjour, prudhomme, prin-temps, Belfort, Longueville, amourpropre, garde-nationale, ferblanc, vinaigre, Villeneuve, Rochefort, Aigues-Mortes, lat. respublica, jusjurandum; ferner nhd. einmal, jenseits (mhd. jensît), einigermassen, mittlerweile, franz. encore (hanc horam), fièrement (fera mente), autrefois, autrepart, toujours, longtemps, lat. hodie, magnopere, reipsa; aus der appositionellen Verbindung zweier Substantiva, vgl. nhd. Christkind, Gottmensch, Fürstbischof, Prinz-Regent, Herrgott, Baselland, franz. maître-tailleur, maître-garçon, cardinal-ministre, Dampierre (dominus Petrus), Dammarie (domina Maria), afranz. damedeus (dominus deus); aus der Koordination zweier Substantive, nhd. nur zur Bezeichnung der Vereinigung zweier Länder, wie Schleswig-Holstein, Östreich-Ungarn; aus appositioneller oder kopulativer Verbindung zweier Adjektiva oder der eines Adverbiums mit einem Adjektivum, was sich nicht immer deutlich unterscheiden lässt, vgl. nhd. rotgelb, bittersüss, altenglisch, niederdeutsch, hellgrün, hochfein, gutgesinnt, wohlgesinnt, franz. bis-blanc, aigre-doux, sourd-muet, bienheureux, malcontent; aus der Addierung zweier Zahlwörter, vgl. nhd. fünfzehn, lat quindecim; aus der Verbindung des Adjektivums mit einem abhängigen Kasus, vgl. nhd. ausdrucksvoll, sorgenfrei, rechtskräftig, lat. jurisconsultus, -peritus, verisimilis; aus der Ver- 327 bindung zweier Pronomina, respektive des Artikels mit einem Pronomen, vgl. nhd. derselbe, derjene (jetzt nur noch in der Ableitung derjenige), franz. quelque (quale quid), autant (alterum tantum), lequel; aus der Verbindung eines Adverbiums oder einer Konjunktion mit einem Pronomen, vgl. nhd. jeder (aus ie-weder) kein (aus nih-ein), franz. celle (ecce illam), ceci (ecce istum hic), lat. quisque, quicunque, hic, nullus; aus der Verbindung mehrerer Partikeln, vgl. nhd. daher, darum, hintan, fortan, voraus, widerum, entgegen, immer, franz. jamais, ainsi (aeque sic), avant (ab ante), derrière (de retro), dont (de unde), ensemble (in simul), encontre, lat. desuper, perinde, sicut, unquam, etiam; aus der Verbindung einer Präposition mit einem abhängigen Kasus, vgl. nhd. anstatt, zunichte, zufrieden, vorhanden, inzwischen, entzwei, franz. contremont, partout, endroit, alors (ad illam horam), sur-le-champ, environ, adieu, affaire, sans-culotte, lat. invicem, obviam, illico (= in loco), denuo (= de novo), idcirco, quamobrem; aus der Verbindung eines Adverbiums mit einem Verbum, vgl. nhd. auffahren, hinbringen, herstellen, heimsuchen, misslingen, vollführen, franz. malmener, maltraîter, méconnaître, bistourner, lat. benedicere, maledicere; aus der Verbindung eines abhängigen Kasus mit seinem Verbum, vgl. nhd. achtgeben, wahrnehmen (ahd. wara, st. fem.), wahrsagen, lobsingen, handlangen, hochachten, preisgeben, franz. maintenir, colporter, bouleverser, lat. animadvertere, venum dare - venundare - vendere, crucifigere, usuvenire, manumittere, referre. Auch mehr als zwei Glieder können so zu einem Kompositum zusammenschiessen.Ich unterscheide davon natürlich die Fälle, wo ein Kompositum mit einem andern Worte eine neue Verbindung eingeht. vgl. nhd. einundzwanzig, einundderselbe, lat. decedocto (= decem et octo, vgl. Corssen, Aussprache des Lat. ²II, S. 886); franz. tour-à-tour, têteà-tête, vis-à-vis; aide-de-camp, trait-d'union, garde-du-corps, Languedoc, belle-à-voir, pot-au-feu, Fierabras, arc-en-ciel, Châlons-sur-Marne, lat. duodeviginti, nhd. Brautinhaaren (Blume); lat. plusquamperfectum; nhd. nichtsdestoweniger, ital. nondimeno. Auch aus abhängigen Sätzen entspringen Komposita, vgl. mhd. enwære zusammengezogen zu niur etc. = nhd. nur, ital. avvegna (adveniat), avvegnache, chicchessia, lat. quilibet, quamvis, quantumvis, quamlibet, ubivis. Ebenso aus Sätzen, die der Form nach unabhängig sind, aber doch in logischer Unterordnung, z. B. als Einschaltungen gebraucht werden, vgl. nhd. weissgott, mhd. neizwaz = ags. nât hwæt = lat. nescio quid = franz. je ne sais quoi, mhd. deiswâr (= daz ist wâr), franz. peut-être, piéça, naguère, lat. licet, ilicet, videlicet, scilicet, forsitan, span. quiza (vielleicht, eigentlich, `wer weiss'). Ferner können mit Hilfe von Metaphern Sätze zu Kompositis gewandelt werden, insbesondere Imperativsätze, vgl. nhd. 328 Fürchtegott, Taugenichts, Störenfried, Geratewohl, Vergissmeinnicht, Gottseibeiuns, franz. baisemain, passe-partout, rendez-vous, neulat. facsimile, notabene, vademecum, nolimetangere; nhd. Jelängerjelieber. Schwerer wird ein wirklicher Satz, der seine Selbständigkeit bewahrt, zu einem Kompositum. Denn das Wesen des Satzes besteht ja darin, dass er den Akt der Zusammenfügung mehrerer Glieder bezeichnet, während es im Wesen des Kompositums zu liegen scheint die Zusammenfügung als ein abgeschlossenes Resultat zu bezeichnen. Demungeachtet liegen Satzkomposita in den verschiedensten Sprachen vor, so namentlich in den indogermanischen und semitischen Verbalformen.

§ 227. Der Übergang von syntaktischem Gefüge zum Kompositum ist ein so allmählicher, dass es gar keine scharfe Grenzlinie zwischen beiden gibt. Das zeigt schon die grosse Unsicherheit, die in der Orthographie der modernen Sprachen in Bezug auf Zusammenschreibung oder Trennung vieler Verbindungen besteht, eine Unsicherheit, die dann auch zu einer vermittelnden Schreibweise durch Anwendung des Bindestriches geführt hat. Das Englische unterlässt vielfach die Zusammenschreibung in Fällen, wo sie anderen Schriftsprachen unentbehrlich scheinen würde. Im Mhd. sind auch die nach indogermanischer Weise gebildeten Komposita vielfach getrennt geschrieben.

Die Relativität des Unterschiedes zwischen Kompositum und Wortgruppe kann nur darauf beruhen, dass die Ursache, welche den Unterschied hervorruft, ihre Wirksamkeit in mannigfach abgestufter Stärke zeigt. Man darf diese Ursache nicht etwa, durch die Schrift verführt, darin sehen wollen, dass sich die Glieder eines Kompositums in der Aussprache enger aneinander anschlössen, als die Glieder einer Wortgruppe. Verbindungen wie Artikel und Substantivum, Präposition und Substantivum, Substantivum und attributives Adjektivum oder abhängiger Genitiv haben genau die gleiche Kontinuität wie ein einzelnes Wort. Man hat dann wohl als Ursache den Akzent betrachtet. Dass die Einheit eines Wortes auf der abgestuften Unterordnung seiner übrigen Elemente unter das eine vom Akzent bevorzugte besteht, ist allerdings keine Frage. Aber ebenso verhält es sich mit der Einheit des Satzes und jedes aus mehreren Wörtern bestehenden Satzteiles, jeder enger zusammengehörigen Wortgruppe. Der Akzent eines vollständigen Wortes kann dabei vielfach ebenso tief herabgedrückt sein als der eines untergeordneten Kompositionsgliedes. In der Verbindung durch Liebe hat durch keinen stärkeren Ton als in durchtrieben, zu in zu Bett keinen stärkeren als in zufrieden, Herr in Herr Schulze keinen stärkeren als in Hausherr. Man kann nicht einmal den Unterschied überall durchführen, dass die Stellung des Akzents im Kompositum eine feste ist, während sie in der Wortgruppe wechseln kann. So gut wie ich Hérr 329 Schulze im Gegensatz zu Fráu Schulze sage, sage ich auch der Haushérr im Gegensatz zu die Hausfráu. Es ist auch keine bestimmte Stellung des Hauptakzentes zur Entstehung eines Kompositums erforderlich, sondern sie ist bei jeder beliebigen Stellung möglich. Nur allerdings, damit die jüngere Kompositionsweise in Parallelismus zur älteren treten kann, ist es erforderlich, dass die Akzentuation eine gleiche ist. Damit z. B. eine Bildung wie Rindsbraten oder Rinderbraten als wesentlich identisch mit einer Bildung wie Rindfleisch empfunden werden konnte, war es allerdings nötig, dass der Hauptakzent auf den voranstehenden abhängigen Genitiv fiel. Wo aber die Analogie der älteren Kompositionsweise nicht in Betracht kommt, da ist auch im Deutschen die stärkere Betonung des zweiten Elements kein Hinderungsgrund für die Entstehung eines nominalen Kompositums.

§ 228. Es ist überhaupt nichts Physiologisches, worin wir den Unterschied eines Kompositums von einer unter einem Hauptakzente vereinigten Wortgruppe suchen dürfen, sondern lediglich etwas Psychologisches. Eine Vorbedingung für die Entstehung eines Kompositums, die freilich auch nicht absolut erforderlich ist, mindestens nicht für die Satzkomposita, besteht darin, dass die zugrundeliegende syntaktische Verbindung als Ausdruck eines einheitlichen Begriffes gefasst werden kann, und dies ist nur möglich, wenn wenigstens das bestimmende Element in derselben in seiner allgemeinen Bedeutung zu nehmen ist und nicht in einer konkreten Individualisierung. So fasst man haushalten jetzt als eine Zusammensetzung, während das Haus verwalten, mit Bezug auf ein bestimmtes einzelnes Haus gesagt, keinerlei Eigenschaften einer Zusammensetzung hat, und es liegt dies nicht bloss daran, dass der Artikel die Verschmelzung hindert, sondern es würde sich auch in einer Sprache, die keinen Artikel kennt, nicht anders verhalten. Unser dar bedeutet ursprünglich dahin mit Hinweis auf einen einzelnen Ort; in diesem Sinne konnte es keine Verschmelzung mit dem Verb. eingehen; jetzt bezeichnet es in darbieten, -bringen etc., dass etwas nach einer bestimmten Stelle gerichtet wird, aber ohne dass auf diese hingewiesen wird. Ebenso kann auch ein Gen. nur im allgemeinen Sinne mit einem folgenden Subst. verschmelzen, vgl. Mannes Mut (Mannesmut) gegen des (dieses) Mannes Mut. Eine Ausnahme, eigentlich nur eine scheinbare, bilden die Eigennamen (vgl. Karlsbad, -ruhe etc.), zu deren Natur es gehört, ein Einzelwesen zu bezeichnen, wobei dann die Zusammensetzung wieder ein Eigenname (eine Ortsbezeichnung) ist.

§ 229. Doch bei weitem nicht alle derartige Verbindungen, die als eine Einheit gefasst werden können und häufig auch teils in der nämlichen Sprache, teils bei der Übersetzung in eine andere durch 330 ein Wort ersetzt werden können, werden als Zusammensetzungen gefasst und geschrieben, vgl. z. B. Verzicht leisten (= verzichten), Halt machen, Massregeln ergreifen, in Angriff nehmen, in Aussicht stellen, in die Hand nehmen, vor Augen haben und viele andere. In der Regel muss etwas anderes hinzukommen, was das eigentlich Entscheidende für die Entstehung eines Kompositums ist. Es kommt darauf an, dass das Ganze den Elementen gegenüber, aus denen es zusammengefasst ist, in irgend welcher Weise isoliert wird. Welcher Grad von Isolierung dazu gehört, damit die Verschmelzung zum Kompositum vollendet erscheine, das lässt sich nicht in eine allgemeingültige Definition fassen.

Es kommen dabei alle die verschiedenen Arten von Isolierung in Betracht, die wir früher kennen gelernt haben. Entweder kann das Ganze eine Entwickelung durchmachen, welche die einzelnen Teile in ihrer selbständigen Verwendung nicht mitmachen, oder umgekehrt die einzelnen Teile eine Entwickelung, welche das Ganze nicht mitmacht, und zwar sowohl nach Seiten der Bedeutung als nach Seiten der Lautform, oder es können die einzelnen Teile in selbständiger Verwendung untergehen, während sie sich in der Verbindung erhalten, oder endlich es kann die Verbindungsweise aus dem lebendigen Gebrauche verschwinden und nur in der bestimmten Formel bewahrt bleiben.

Der Eintritt irgend eines dieser Vorgänge kann genügen, um ein syntaktisches Gefüge zu einem Kompositum zu wandeln. Man pflegt aber keineswegs jedes zusammengesetzte Satzglied als ein Kompositum zu betrachten, bei dem bereits eine solche Isolierung eingetreten ist. Gerade diesen Verbindungen müssen wir unsere besondere Aufmerksamkeit schenken, wenn wir die ersten Ansätze zur Verschmelzung beobachten wollen.

Der Anfang zur Isolierung wird gewöhnlichAber nicht immer, wie Dittrich a. a. O. angenommen hat, worin ihm Brugmann beigetreten ist. Dittrich nimmt an, dass eine syntaktische Verbindung schon dadurch zum Kompositum wird, dass mit ihr ein reicherer Bedeutungsinhalt verknüpft wird. Er betrachtet demnach z. B. franz. épine blanche, chemin de fer als Zusammensetzungen. Es ist nicht zu leugnen, dass das eine gewisse Berechtigung hat. Aber abgesehen davon, dass man sich dadurch mit dem Sprachgebrauch in Widerspruch setzt, so würde man doch wieder eines besonderen Ausdrucks bedürfen für die Verbindungen, die durch weitergehende, namentlich syntaktische Isolierungen enger verschmolzen sind. Dazu wären dann noch die Fälle zu berücksichtigen, in denen die Bedeutung gar nicht den Ausgang für die Verschmelzung bildet. damit gemacht, dass das syntaktische Gefüge einen Bedeutungsinhalt erhält, der sich nicht mehr genau mit demjenigen deckt, der durch die Zusammenfügung der einzelnen Elemente gewonnen wird. Wir haben diesen Vorgang schon § 73 kennen gelernt. Die Folge ist, dass die einzelnen Elemente des Gefüges nicht mehr klar zum Bewusstsein kommen. Damit wird 331 aber auch die Art ihrer Zusammenfügung verdunkelt, und damit ist der erste Ansatz zu einer syntaktischen Isolierung gemacht, womit sich auch eine formelle verbindet. Sobald aber erst einmal ein Anfang gemacht ist, so ist auch die Möglichkeit zu einem weiteren Fortschreiten der Isolierung gegeben.

In Bezug auf die syntaktische Isolierung müssen wir zwei Fälle unterscheiden. Sie braucht nur das Verhältnis der Kompositionsglieder zu einander zu betreffen wie z. B. in Hungersnot, Edelmann, es kann aber auch die Verbindung als Ganzes gegenüber den übrigen Bestandteilen des Satzes isoliert werden. Das Resultat ist dann immer ein unflektierbares Wort, vgl. keineswegs, gewissermassen, jederzeit, alldieweil, zurecht, abhanden, überhaupt, vorweg, allzumal; lat. magnopere, quare, quomodo, hodie, admodum, interea, idcirco, quapropter, quamobrem; franz. toujours, toutefois, encore (= hanc horam), malgré (= malum gratum), amont, environ, parmi, pourtant, cependant, tout-à-coup. Erst durch sekundäre Entwickelung können solche Verbindungen wieder flektierbar werden, wie z. B. zufrieden, debonnaire (= de bonne air). Wo die Flektierbarkeit durch die Isolierung nicht gestört wird, da kann der Fall eintreten, dass die Verschmelzung der Glieder durch Flexion im Innern des Gefüges gehemmt wird, z. B. in einer Verbindung wie das rote Meer, mare rubrum, wobei man durch die Flexion des roten Meeres, maris rubri etc. immer an die Selbständigkeit der einzelnen Glieder erinnert wird. Es muss erst ein weiterer Prozess hinzukommen, um die volle Verschmelzung möglich zu machen, nämlich die Erstarrung einer Flexionsform (in der Regel die des Nominativs Sg.) in Folge der Verdunkelung ihrer ursprünglichen Funktion, ein Vorgang, den wir § 164 besprochen haben.

Wie wir in § 163 gesehen haben, erhält das Kompositum dieselbe Fähigkeit Ableitungen aus sich zu erzeugen, wie das einfache Wort der nämlichen Kategorie. Wir finden nun, dass aus einer syntaktischen Verbindung, die noch nicht als Kompositum betrachtet zu werden pflegt, eine Ableitung nach dem Muster eines einfachen Wortes gemacht wird, oder dass diese Verbindung wie ein einfaches Wort zu einem Kompositionsgliede nach schon vorliegenden Mustern gemacht wird. Wir müssen daraus den Schluss ziehen, dass das Sprachgefühl dieselben als eine Einheit gefasst hat, dass also jedenfalls ihre Entwickelung zu einem Kompositum bereits bis zu einem gewissen Grade vollzogen ist.

§ 230. Kopulative Verbindungen lassen sich unter einen einheitlichen Begriff bringen erstens, wenn die verbundenen Elemente Synonyma sind, dieselbe Sache von verschiedenem Gesichtspunkte aus darstellen, vgl. Art und Weise, Grund und Boden, Wind und Wetter, Weg und Steg, Sack und Pack, Handel und Wandel, Schimpf und 332 Schande, hangen und bangen, tun und treiben, leben und weben, schalten und walten, wie er leibt und lebt, frank und frei, weit und breit, hoch und teuer, angst und bange, ganz und gar, drauf und dran, nie und nimmer; zweitens, wenn die verbundenen Elemente Gegensätze sind, die sich gegenseitig ergänzen vgl. Stadt und Land, Himmel und Hölle, Soll und Haben, Wohl und Wehe, alt und jung, gross und klein, arm und reich, dick und dünn, lieb und leid, Tun und Lassen, dieser und jener, einer und der andere, dies und das, ab und an, ab und zu, auf und ab, ein und aus, für und wider, hin und her, hin und wieder, drüber und drunter, hüben und drüben, hie und da, dann und wann. Dazu kommen noch mancherlei andere Fälle wie Haus und Hof, Weib und Kind, Kind und Kegel, Mann und Maus. Die beiden Glieder können auch durch das nämliche Wort gebildet werden, vgl. durch und durch, für und für, nach und nach, über und über, wieder und wieder, fort und fort, der und der. In dem letzten Falle stehen die beiden Glieder trotzdem in Gegensatz zu einander. Bei einigen dieser Verbindungen ist schon eine weiter gehende Isolierung eingetreten. Ein Kriterium dafür, dass eine kopulative Verbindung als eine Einheit gefasst wird, kann man bei Substantiven darin sehen, dass ein Adj. dazu nur einfach gesetzt wird, wiewohl es entweder nur mit dem ersten Gliede kongruiert,In der älteren Sprache kommt dies allerdings auch bei weniger enger Verbindung vor. vgl. dieses Herz und Sinn (Goe.); nach meinem Kopfe und Art (Goe.); durch meinen Rat und Tat (Schröder), oder, was noch beweisender ist, nur mit dem zweiten, vgl. durch meinen trewen hilff und rat (H. Sachs); mit allem mobilen Hab' und Gut (Goe.). Charakteristisch ist auch eine eigentümliche Assimilation des Geschlechtes und der Flexion, die bei Pestalozzi vorkommt: seines Habs und (seines) Guts. Ein anderes häufiger vorkommendes Kriterium ist die Flexionslosigkeit des ersten Gliedes. Bei den oben angeführten Verbindungen aus an und für sich flexivischen Wörtern wird meistens die Flexion gemieden, welche an die Selbständigkeit der Glieder erinnern würde, man kann z. B. nicht sagen mit Sacke und Packe oder Grundes und Bodens. Es findet sich aber auch Flexion bloss am zweiten Gliede, z. B. des zu Abdera gehörigen Grund und Bodens (Wieland). Vgl. ferner mit Gefahr Leib und Lebens (Grimmelshausen), von Gott und Rechtswegen (Iffland), von tausend durchgeweinten Tagund Nächten (Goe.); dem wenigen Glaube, Liebe und Hoffnung (Goe.), bei H. Sachs sogar dem nimmer golt noch geldts gebrach; auch zur Erhaltung Treu und Glaubens (Möser) wird hierher zu ziehen sein, da jedenfalls an Treu das Genitivverhältnis nicht ausgedrückt ist. Häufig 333 ist die Unterlassung der Flexion im Innern bei der Verbindung zweier Adjektiva, vgl. die blank- und blossen Widersprüche (Le.), gegen innund äussern Feind (Goe.), auf ein oder die andere Weise (Le.), mit mein und deinem Wesen (Le.).Jedoch ist das Unterbleiben der Flexion des ersten Glieds kein zweifelloses Kriterium dafür, dass eine Zusammenfassung der beiden Glieder zu begrifflicher Einheit stattgefunden hat. Es ist bei der Verbindung zweier Adjektiva im älteren Nhd. und noch bei Goethe häufig, H. Sachs sagt sogar weder mit böss noch guten Dingen. Seltener ist es bei der Verbindung zweier Substantiva, vgl. von Thier vnd Menschen (H. Sachs), von merck vnd steten (id.).

Notwendig ist das Unterbleiben der Flexion im Innern auch nach dem heutigen Sprachgebrauch in einem Falle wie einer schwarz- und weissen Fahne, schwarz- wnd weisse Fahnen, verschieden im Sinne von schwarze und weisse Fahnen. Dem schwarz- und weiss analog sind die auch zusammengeschriebenen Verbindungen einundzwanzig, einunddreissig etc., früher flektiert eines und zwanzig. Feste Verbindungen, die keine Flexion im Innern mehr zulassen, sind ferner all und jeder, ein und alles. Zusammengeschrieben wird einundderselbe, teils mit, teils ohne Flexion des ein-. Griech. kalokagathós ist wohl unter analogischer Einwirkung der alten indogermanischen Kompositionsweise entstanden; sonst würde die Stammform kalo- schwerlich erklärbar sein. Gänzliche Verschmelzung würde wahrscheinlich häufiger sein, wenn nicht die Kopulativpartikel hemmend wirkte. Diese Hemmung wird aufgehoben, wo dieselbe in Folge der lautlichen Abschwächung nicht mehr als solche erkannt wird, wie in dem niederdeutschen Ritensplit, zusammengesetzt aus den Imperativen von riten und spliten (reissen und spleissen). Eine kopulative Verbindung ohne Partikel verschmilzt leichter. So werden schwarzrotgolden und Östreich-Ungarn, die sich logisch verhalten wie schwarz und weiss und Neapel und Sizilien als wirkliche Komposita empfunden. In derjenigen Epoche des Indogermanischen, wo es noch keine Flexion und keine Kopulativpartikel gab oder beides wenigstens nicht notwendig erforderlich war, musste natürlich die Verschmelzung zu einem Kopulativkompositum (Dvandva) sehr leicht sein.

§ 231. Die Verbindung eines Substantivums mit einer attributiven, genitivischen oder sonstigen Bestimmung kann alle in Kap. IV besprochenen Arten des Bedeutungswandels durchmachen, ohne dass das Substantivum für sich davon betroffen wird. Sehr häufig ist es zunächst, dass das Ganze einen reicheren, bestimmteren Inhalt erhält, als denjenigen, der sich aus der Zusammensetzung der Teile ergibt. Die Bestimmung hebt namentlich häufig nur ein unterscheidendes Merkmal heraus, während andere daneben bestehende 334 verschwiegen werden. Dazu können dann weitere Modifikationen treten, in Folge deren das Epitheton in seiner eigentlichen Bedeutung gar nicht mehr zutreffend ist. So ist in der botanischen Sprache viola odorata nicht ein wohlriechendes Veilchen, sondern eine bestimmte Veilchenart, die noch durch andere Eigenschaften, als durch den Wohlgeruch charakterisiert wird und es wird mit diesem Namen auch ein getrocknetes Veilchen bezeichnet, welches keine Spur von Wohlgeruch mehr von sich gibt, und ebenso die nichtblühende Pflanze. Unter franz. moyen âge versteht man ein bestimmt begrenztes Zeitalter, ohne dass sich aus dem Worte moyen an sich eine solche Begrenzung ergibt. Geheimer Rat und Wirklicher Geheimer Rat sind Titel, die als Ganzes eine bestimmte traditionelle Geltung haben, wie sie aus den Wörtern geheim und wirklich an sich nicht zu erschliessen ist. Vgl. ferner gelbe - weisse Rüben, grüner - weisser Kohl, der heilige Geist, die heilige Schrift, die schönen Künste, gebrannte Mandeln, kaltes Blut, der blaue Montag, der grüne Donnerstag, der heilige Abend, die hohe Schule; der Stein der Weisen; die Weisen aus dem Morgenlande. Den angeführten Beispielen von syntaktischen Verbindungen sind nun viele Komposita analog, teils solche, deren Zusammenwachsen historisch verfolgbar ist, wie Schwarzwild, Weissbrot, Dünnbier, Rotdorn, Sauerkraut, Edelstein; Haubenlerche, Seidenraupe, Blumenkohl, Bundesrat, arc-en-ciel; teils solche, deren Bildungsweise schon in eine vorgeschichtliche Zeit zurückreicht, wie Eisbär, Holzwurm, Hirschkäfer, Steineiche. Nicht selten wird der nämliche Begriff in einer Sprache durch ein Kompositum, in einer andern durch eine syntaktische Verbindung bezeichnet, vgl. z. B. Mittelalter mit moyen âge.

Eine Unterabteilung dieser grossen Klasse bilden Gattungsnamen von Örtlichkeiten, die mit Hilfe einer Bestimmung, die an sich gleichfalls allgemeiner Natur sein kann, zu Eigennamen geworden sind, vgl. die goldene Aue, das rote Meer, der schwarze See, der breite Weg (Strassenname in Magdeburg und anderswo), die hohe Pforte (Torname in Magdeburg); die Inseln der Seligen, das Kap der guten Hoffnung. Damit vgl. man die Komposita Hochburg, Schönbrunn, Kaltbad, Lindenau, Königsfeld; Hirschberg, Strassburg, Steinbach. Hierher gehört es auch, wenn ein Epitheton, das einem Eigennamen als unterscheidendes Kennzeichen beigefügt ist, zu einem integrierenden Bestandteile des Eigennamens wird, indem es als an einem bestimmten Individuum haftend erlernt wird, vgl. Karl der Grosse - der Kahle - der Kühne - der Dicke, Ludwig der Fromme - der Heilige - das Kind, Wilhelm der Eroberer; Davos Platz - Davos Dörfli; Basel Land - Basel Stadt; Zell am See. Damit vgl. man die Komposita Althans, Kleinpaul; Gross-Basel - Klein-Basel, Oberfranken - Unterfranken, Eichen-Barleben; Kirchzarten. 335

Bildliche Anwendung eines Wortes wird, wie überhaupt durch den Zusammenhang (vgl. § 59), so insbesondere durch eine beigefügte Bestimmung als solche erkennbar und verständlich, vgl. der Löwe des Tages, das Haupt der Verschworenen, die Nacht des Todes, der Abend des Lebens, die Seele des Unternehmens. Dasselbe wird durch ein bestimmendes Kompositionsglied geleistet. Man wagt deshalb mit Hilfe desselben Metaphern, die man sich in Bezug auf das einfache Wort nicht gestattet, weil das Kompositionsglied gleich eine Korrektur der Metapher enthält. Vgl. Neusilber, Katzengold, Ziegenlamm, Bienenkönigin, Bienenwolf, Ameisenlöwe, Äpfelwein, Namensvetter, Hirschkuh, Heupferd, Seelöwe, Buchweizen, Erdapfel, Gallapfel, Augapfel, Zaunkönig, Stiefelknecht, Milchbruder.

Davon zu unterscheiden sind solche Fälle, in denen das Kompositum auch eine eigentliche Bedeutung hat, und erst als Kompositum bildlich verwendet wird, wie Himmelsschlüssel, Hahnenfuss, Löwenmaul, Schwalbenschwanz, Stiefmütterchen, Brummbär.

Fast durchweg syntaktische Verbindungen oder Komposita sind die § 70 besprochenen Bezeichnungen nach Teilen des Körpers und des Geistes oder Kleidungsstücken, und zwar deshalb, weil die einfachen Wörter als an sich nicht charakteristisch zu einer solchen Verwendung unbrauchbar sein würden.

Begriffliche Einheiten können syntaktische Verbindungen auch bilden, ohne dass ihre Teile nebeneinander stehen. Hierher gehören z. B. an - Statt (an Kindes Statt, an meiner Statt), um - willen, ob - gleich (schon, wohl) neben obgleich, franz. ne - pas und manches Andere, das zum Teil noch im Folgenden zur Sprache kommt.Brugmann verwendet für solche Verbindungen die Bezeichnung Distanzkomposita, wobei der von Dittrich angenommene Begriff von Kompositum zu Grunde liegt.

§ 232. Verfolgen wir nun weiter, wie die Verschmelzung der Bestimmung mit dem Bestimmten durch die syntaktische und formale Isolierung gefördert wird.

Bei dem Zusammenwachsen des Genitivs mit dem regierenden Substantivum im Deutschen ist zunächst zu beachten, dass es nur bei Voranstellung des Genitivs eintritt. Die umgekehrte Stellung taugt zunächst deshalb nicht zur Komposition, weil dabei eine Flexion im Innern der Verbindung stattfindet, wodurch man immer wieder an die Selbständigkeit der Elemente erinnert wird, weshalb auch z. B. im Lat. die Zusammenfügung in pater-familias weniger fest ist als in plebiscitum. Ferner besteht bei Voranstellung des Genitivs Analogie in der Betonung zu den echten Kompositis (ahd. táges stèrro = tágostèrro, 336 dagegen stérro des táges). Das entscheidende Moment für das Zusammenwachsen liegt aber in Veränderungen der syntaktischen Verwendung des Artikels. Wie derselbe vielfach zum blossen Kasuszeichen herabgesunken ist, so ist er insbesondere bei dem Genitiv eines jeden Appellativums, welches nicht mit einem attributiven Adjektivum verknüpft ist, allmählich unentbehrlich geworden. Nur der deutlich charakterisierte Gen. Sing. der starken Masculina und Neutra kommt zuweilen noch ohne Artikel vor, namentlich in Sprichwörtern (Biedermanns Erbe) und Überschriften (Schäfers Klagelied, Geistes Gruss, Wandrers Nachtlied etc.). Im Ahd. fehlt der Artikel noch ganz gewöhnlich. Indem sich nun bei dem allmählichen Absterben der Konstruktion gewisse Verbindungen ohne Artikel traditionell fortpflanzten, war die Verschmelzung vollzogen. Begünstigt wurde sie noch ganz besonders durch die ursprünglich allgemein übliche und dann gleichfalls absterbende Weise, den Gen. wie im Griech. zwischen Artikel und dem zugehörigen Substantivum zu setzen. Diese Konstruktion hat sich besonders in der Sprache des Volksepos lange lebendig erhalten, allerdings nur bei Eigennamen und verwandten Wörtern, vgl. im Nibelungenlied daz Guntheres lant, daz Nibelunges swert, diu Sîvrides hant, daz Etzelen wîp etc.; Verbindungen wie der gotes haz, segen, diu gotes hant, etc. sind im dreizehnten Jahrhundert noch allgemein üblich. In der älteren Zeit konnte der Genitiv eines jeden Substantivums so eingeschoben werden, ohne selbst mit dem Artikel verbunden zu sein, vgl. ther mannes sun (des Menschen Sohn) häufig bei Tatian, then hîuuiskes fater (patremfamilias) ib. 44, 16 (dagegen thes h. fater 72, 4 147, 8; fatere hîuuiskes 77, 5), ein ediles man (ein Mann von edler Abstammung) Otfrid IV, 35, 1; ähnliche Einschiebung zwischen Zahlwort und Substantivum in zwâ dûbôno gimachûn (zwei Paar Tauben) Otfrid I, 14, 24. Indem allmählich unmittelbare Nebeneinanderstellung von Artikel und Substantivum notwendig wurde, musste die Verbindung vom Sprachgefühl als eine Einheit aufgefasst werden. Mit der Zeit sind vielfach noch formale Isolierungen hinzugekommen, indem sich die älteren Formen des Genitivs in der Komposition bewahrt haben (Lindenblatt, Frauenkirche, Hahnenfuss, Schwanenhals, Gänseleber, Mägdesprung, Nachtigall etc.). Ferner dadurch, dass bei den einsilbigen Masculinis und Neutris im Kompositum gewöhnlich die synkopierten Formen verallgemeinert sind, im Simplex die nicht synkopierten, vgl. Hundstag, Landsmann, Schafskopf, Windsbraut gegen Hundes etc. (doch auch Gotteshaus, Liebeskummer). Dazu kommt endlich noch, dass die Genitivform im Kompositum häufig mit der des Nom. Pl. übereinstimmt und daher vom Sprachgefühl, wo die Bedeutung dazu stimmt, an diesen angelehnt wird, vgl. Bienenschwarm, Rosenfarbe, Bildersaal, Äpfelwein, 337 Bürgermeister. Im letzten Falle stimmt die Form auch zum Nom. Sing. in Baierland, Pommerland (ahd. Beiero lant) nur zu diesem, während der Pl. des Simplex seine Flexion verändert hat.

Die älteste Schicht genitivischer Komposita im Französischen ist hervorgegangen aus den alten lateinischen Genitivformen ohne Hinzufügung der Präp. de. Im Altfranz. ist solche Konstruktionsweise wenigstens bei persönlichen Begriffen noch allgemein lebendig, z. B. la volonté le rei (der Wille des Königs); sie musste allmählich untergehen, weil die Form mit der des Dat. und Akk. zusammengefallen und deshalb die Bezeichnung unklar geworden war. Einige traditionelle Reste der alten Weise haben sich bis heute erhalten, ohne dass in der Schrift Komposition bezeichnet würde, vgl. rue St. Jaques etc., église Saint Pierre, musée Napoléon. In andern Fällen ist die Zusammenfügung fester geworden, teilweise durch anderweitige Isolierung begünstigt, vgl. Hôtel-Dieu, Connétable (comes stabuli), Château-Renard, Bourg-la-Reine, Montfaucon, Fontainebleau (f. Blialdi). Durch das Schwinden jedes Kasuszeichens ist im Franz. im Gegensatz zum Deutschen die Verschmelzung auch bei Nachstellung des Gen. möglich gemacht. Bei der umgekehrten Stellung musste sie erst recht erfolgen, da dieselbe schon frühzeitig ausser Gebrauch kam; daher Abbeville (abbatis villa), Thionville (Theodonis villa).

§ 233. Das Zusammenwachsen des Adjektivs mit dem zugehörigen Subst. geht im Deutschen namentlich von der sogenannten unflektierten Form aus, die im attributiven Gebrauch allmählich ausstirbt, vgl. § 135. Im Mhd. sind (ein) junc geselle, (ein) edel man, (ein) niuwe jâr noch ganz übliche Konstruktionen, im Nhd. können Junggeselle, Edelmann, Neujahr nur als Komposita gefasst werden. Einen weiteren Ausgangspunkt bilden die schwachen Nominative von mehrsilbigen Adjektiven auf r, l, n, die im Mhd. ihr e abwerfen, während es im Nhd. nach Analogie der einsilbigen wieder hergestellt wird. Im Mhd. sind der ober roc, diu ober hant, daz ober teil noch reguläre syntaktische Gefüge (daher auch noch Akk. die obern hant neben die oberhant), im Nhd. können der Oberrock, die Oberhand, das Oberteil nur als Komposita gefasst werden, weil es sonst der obere Rock etc. heissen müsste. Indessen reicht das einfache Beharren bei dem älteren Zustande nicht aus, um wirkliche Komposition zu schaffen, und viele derartige Komposita sind schon vor dem Eintritt dieser syntaktischen Isolierung entstanden. Schon ahd. bestehen altfater, frîhals, guottât, hôhstuol und viele andere. Vielmehr ist der Vorgang der, dass die Verbindung so formelhaft, der Begriff so einheitlich wird, dass sich damit für das Sprachgefühl eine Flexion im Innern des Komplexes nicht mehr verträgt, und es ist dann natürlich, dass der eigentliche Normalkasus, der 338 Nom. Sg., der zugleich, weil die Flexionsendung geschwunden ist, als Stamm des Wortes erscheint, massgebend wird. Seitdem die flexionslose Form aufgehört hatte, attributiv verwendet zu werden, war Verschmelzung des Adj. mit dem Subst. viel weniger leicht. Denn die flektierten Formen des Nom. Sg. (guter, gute, gutes) hatten von Anfang an kein so grosses Gebiet und waren eben wegen der Flexionsendungen nicht so geeignet als Vertreter des Wortes an sich zu gelten. Es war nun aber auch weniger Bedürfnis zu solchen Verschmelzungen, da bereits eine Menge Komposita mit der flexionslosen Form vorhanden waren, die auch imstande waren analogische Neubildungen zu erzeugen. Doch zeigen sich auch in dieser Periode einige Verschmelzungen und Ansätze dazu, teils so, dass eine Verbindung in die Analogie der älteren verschmolzenen Verbindungen hinübergeführt wird, vgl. Geheimrat neben Geheime(r) Rat, teils so, dass die flektierte Nominativform verallgemeinert wird, wie in Krausemünze, Jungemagd, in Gutersohn, Liebeskind und anderen Eigennamen. Bei einigen Wörtern hat sich das Gefühl für die Einheitlichkeit des Begriffs darin kund getan, dass trotz der Flexion im Innern Zusammenschreibung eingetreten ist, vgl. Langeweile, Hohepriester, Hohelied, Blindekuh. Lessing schreibt sogar ein Jüngstesgericht en miniature. Vgl. auch derselbe, derjenige.

Auch wo noch keine volle Verschmelzung des attributiven Adjektivums mit dem dazu gehörigen Subst. stattgefunden hat, werden doch Ableitungen aus der Verbindung gemacht, vgl. hohepriesterlich, langweilig, kurzatmig, hochgradig, vielzüngig, vielsprachig, rotbäckig, einhändig, vierfüssig, blauäugig, blondhaarig, kleinstädtisch, einseitig, rechtzeitig, Kleinstädter, Schwarzkünstler, Tausendkünstler, Falschmünzer, Einsilber, die sich gerade so verhalten wie grossmütig, edelmännisch etc. Sie als nominale Komposita aufzufassen, hindert schon der Umstand, dass viele der dann vorauszusetzenden Simplicia wie -weilig, -atmig, -gradig gar nicht existieren und auch früher nicht existiert haben.

Ebenso werden solche Verbindungen zu Kompositionen verwendet, die sich trotz aller Anfeindungen von Seiten der Grammatiker nicht ausrotten lassen wollen. Der gewöhnliche Einwand, den man gegen Komplexe wie reitende Artillerie-Kaserne macht, dass ja die Kaserne nicht reite, ist im Grunde nicht stichhaltig. Denn das meint niemand, der sich dieser Verbindung bedient, und die Gliederung ist nicht reitende + Artillerie-Kaserne, sondern reitende Artillerie- + Kaserne. Aber man kommt dabei ins Gedränge wegen der flexivischen und nach Kongruenz strebenden Natur des Adjektivums. Dasselbe richtet sich daher in der Regel nach dem zweiten Elemente, nicht bloss wo es allenfalls auch auf dieses bezogen werden könnte wie in französischer Sprach- 339 lehrer, freie Handzeichnung, sondern auch in anderen Fällen wie in der sauern Gurkenzeit. Bei manchen dieser Verbindungen ist Zusammenschreibung üblich geworden, vgl. Alteweibersommer, Altweiberzählung (Herder), Armesünderglöckchen, Siebenmeilenstiefel, Dreimännerwein, Dreikönigstag etc. Nichtsdestoweniger kommt bei einigen von ihnen Kongruenz des Adjektivums mit dem letzten Bestandteil vor. Goethe schreibt auf dem Armensünderstühlchen, dagegen Heine auf einem Armesünderbänkchen, die Kölnische Zeitung nebst Armsündertreppe. Klopstock gebraucht sogar Hohepriestergewand, Luise Mühlbach den Gutennachtsgruss.Vgl. Andr. Sprachg. S. 152 und 64. Im Englischen, wo die Flexion nicht stört, machen solche Zusammenfügungen gar keine Schwierigkeit.

Im Franz. geht das Zusammenwachsen leichter vor sich, weil die Kasusunterscheidung verloren gegangen ist. Wenn bloss noch Sg. und Pl. unterschieden werden, so hat man jedenfalls schon erheblich weniger Veranlassung an die Fuge erinnert zu werden. Ausserdem kommen manche Verbindungen ihrer Natur nach nur im Sg. (z. B. sainte-écriture, terre-sainte) oder nur im Pl. (z. B. beaux-arts, belles-lettres) vor. Es pflegt sich daher sehr leicht das Gefühl für die Einheitlichkeit eines solchen Komplexes durch Setzung des Bindestrichs geltend zu machen. Ein anderes bedeutsameres Kriterium für das Verhalten des Sprachgefühls gibt die Verwendung des article partitif. Formale und syntaktische Isolierungen können auch hier hinzutreten, um das Gefüge fester zu machen. Im Afranz. haben die Adjektiva, die im Lat. nach der dritten Deklination flektieren, im Fem. noch kein e angenommen, welches erst später nach Analogie der Adjektiva dreier Endungen antritt, z. B. grand = grandis, später grande nach bonne etc. In Kompositis bewahren sich Formen ohne e: grand'mère, grand'messe, Granville, Réalmont, Ville-réal, Rochefort. In Vaucluse (vallis clausa) hat das Kompositum, von der sonstigen Lautgestalt abgesehen, den im Neufranz. eingetretenen Geschlechtswechsel des Simplex (le val) nicht mitgemacht. Es erfolgen dann auch Ausgleichungen ähnlich wie im Deutschen. Bei Adjektiven, die häufiger in der Komposition gebraucht werden, wird die Form des Masc. und des Sing. verallgemeinert, so in mi-, demi-, mal- (malfaçon, malheur, maltôte), nu- (nu-tête, nu-pieds). Dadurch ist die Komposition deutlich markiert.

§ 234. Wo im Nhd. der Genitiv mit einem regierenden Adj. zusammengewachsen ist, da zeigt sich auch vielfach, dass die Konstruktion entweder gar nicht oder nicht mehr allgemein üblich und durch eine andere ersetzt ist, vgl. ehrenreich - reich an Ehren, geistesarm - arm an Geist, freudenleer - leer von Freuden. 340

§ 235. Im Nhd. ist es üblich, Adverbia, wo sie nach den allgemeinen syntaktischen Regeln dem Verbum vorangehen, mit diesem zusammenzuschreiben, vgl. aufheben, vordringen, zurückweichen, wegwerfen etc. Dass noch keine eigentliche Komposition eingetreten ist, beweist die Umstellung er treibt an, er steht auf etc. Aber anderseits beweist die Zusammenschreibung, dass man anfängt das Ganze als eine Einheit zu empfinden.

Bei den meisten dieser Verbindungen liegt eine Isolierung gegenüber den Elementen klar vor. Die alten präpositionalen Adverbia lassen sich überhaupt nicht mehr ganz frei und selbständig verwenden, sondern sind auf einen bestimmten Kreis von Verbindungen beschränkt. Zu freier syntaktischer Zusammenfügung werden statt ihrer hauptsächlich Verbindungen mit her und hin verwendet, vgl. hinaus gehen, heran kommen, wesentlich verschieden von auskommen, ankommen. Es kommt dazu dann meistens eine selbständige Bedeutungsentwickelung der Verbindung als solcher, vgl. anstehn, ausstehn, vorstehn, zustehn, auslegen, aufbringen, umbringen, zubringen, auskommen, umkommen, vorwerfen, vorgeben etc. Unterstützt aber ist die Auffassung dieser Verbindungen als Komposita durch die parallelen Nominalkomposita wie Ankunft, Abnahme, Zunahme, Vorwurf, Ausspruch, Zusage, Anzeige etc. Diese wirken natürlich am leichtesten auf die Nominalformen des Verbums, bei denen die Verbindung schon so wie so am stabilsten ist und um so fester wird, je mehr sie sich dem Charakter eines reinen Nomens nähern (vgl. das folgende Kapitel), am festesten natürlich dann, wenn nur sie, nicht das Verb. finitum in einer bestimmten Bedeutung üblich werden oder bleiben, vgl. Aufsehen, Nachsehen, Abkommen; ausnehmend. Beim Part. kann sich die Verschmelzung in der Bildung von Komparativen oder Superlativen zeigen, die nur einen Sinn haben, wenn das Ganze als eine Einheit gefasst wird, vgl. die zwei entgegengesetztesten Eigenschaften (Goe.), der eingeborenste Begriff (Goe.), unter nachsehenderen Gesetzen (Le.); weitere Beispiele bei Andr. Sprachg. S. 119. Aus der Verbindung des Verbums mit dem Adv. entspringen dann nominale Ableitungen, die zweifellose Worteinheiten sind, wie Austreibung, Vorsehung, Auferstehung, Abschreiber, anstellig, ausgiebig, zulässig, angeblich, absetzbar.Man könnte versucht sein, diese Wörter vielmehr als nominale Komposita zu fassen, aber man würde sich dadurch mit dem Sprachgefühl in Widerspruch setzen, und man würde teilweise auf Simplicia kommen, die gar nicht existieren wie stellig und geblich. Die demonstrativen Ortsadverbien bewahren natürlich ihre Selbständigkeit aus dem § 228 angegebenen Grunde: wer da ist, her kommt nicht daist, herkommt. Bei den Nominalformen kommen allerdings Zusammenschreibungen vor wie sein Hiersein, 341 aber man empfindet das Ganze doch nicht so sehr als eine Einheit wie etwa Einkommen, Zutrauen. Ganz anders steht es mit Dasein im Sinne von »Existenz«; hier ist eben da nicht individualisierend, so wenig wie dar in darbringen etc., worüber wir schon gesprochen haben. Es zeigen sich Ansätze dazu auch das Verb. fin. in ein wirkliches Kompositum zu wandeln. Im Journalistendeutsch, dem sich hierin auch Germanisten anschliessen, ist es üblich geworden zu sagen er anerkennt. Wir sehen demnach deutlich den Weg, auf dem auch die alten verbalen Komposita im Germanischen (wie durchbréchen, betreiben) und in den anderen indogermanischen Sprachen aus syntaktischen Verbindungen entstanden sind.

Ein aus einem Adj. abgeleitetes Adv. verschmilzt zuweilen mit den Nominalformen des Verbums. Die erste Veranlassung dazu wird zum Teil dadurch gegeben, dass der eine von den beiden Bestandteilen metaphorisch verwendet wird, vgl. tieffühlend, weitgreifend, weittragend, hochfliegend. Noch enger wird die Verbindung, wenn der erste Bestandteil eine Funktion bewahrt, die er im allgemeinen verloren hat. Hierher gehören namentlich die Verbindungen mit wohl wie Wohlleben, wohlschmeckend, wohlriechend, wohltuend etc., die aus der Zeit her überliefert sind, wo wohl noch allgemeines Adv. zu gut war. Vgl. ferner erstgeboren aus der Zeit, wo erst den Sinn unseres zuerst hatte. Es wirkt auch hier die Analogie nominaler Komposita, vgl. zartfühlend - Zartgefühl, scharfblicken - Scharfblick. Auch hier kann die Komparation ein Kriterium für den Vollzug der Verschmelzung sein, vgl. bis zur schwerfälligsten, kleinkauendsten Weitschweifigkeit (Schopenhauer); den schwachdenkendsten Teil (Le.), das reingestimmteste Instrument (Wieland); die tiefschlafendsten Sinnen (S. v. la Roche), der tieffühlendste Geist (Goe.), die reingewölbteste Stirn (id.), die freigelegenste Wohnung (id.), die tief- und scharfdenkendsten Philosophen (Klinger), eines der schwerwiegendsten Blätter (Scherr), süssgestimmter als ein unsterblich Lied (Klopstock, später beseitigt). Verbreitet sind Superlative wie weitgreifendste, hochgeehrtester, hochverehrtester. Noch merkwürdiger ist, dass von einer Verbindung, in der das Adv. schon superlativisch ist, noch ein Superlativ gebildet wird. vgl. die Zunächststehendsten (Frankf. Zeit).Die Beispiele teilweise nach Andr. Sprachg. S. 120 und 42. 3, wo noch mehr aufgeführt werden.

Auf einer ähnlichen Zwitterstufe zwischen Kompositum und syntaktischem Gefüge stehen manche Verbindungen eines Verbums mit einem Objektsakkusative, vgl. Acht geben oder acht geben, haushalten, standhalten, stattfinden, teilnehmen; ferner Verbindungen eines Verbums mit einem prädikativen Adj. wie loskaufen, freigeben, freisprechen, 342 feilbieten, feilhalten, hochachten, wertschätzen, gutmachen. Die Gründe, welche hier die Annäherung an die Komposition veranlassen, sind ganz die gleichen wie bei den Verbindungen, die ein Adv. enthalten. Es kommen dabei aber auch zum Teil Gliederungsverschiebungen in Betracht, namentlich durchgängig bei der Verschmelzung des prädikativen Adj., vgl. § 207. Der Übergang zum Kompositum ist natürlich auch hier bei den Nominalformen am leichtesten. Mit einem Objektsakkusativ verwachsene Partizipia gibt es in grosser Anzahl, vgl. feuerspeiend, grundlegend, notleidend, leidtragend, wutschnaubend, segenbringend, nichtssagend. Auch hier kann die Komparation als Kriterium für eingetretene Verschmelzung dienen, vgl. die nichtsbedeutendsten Kleinigkeiten (Sch.), das grundlegendste der Maigesetze (Köln. Zeit.), am gefährlichsten und feuerfangendsten (Deutscher Reichstag).Nach Andr. a. a. O. Es lässt sich aber keine scharfe Grenze ziehen zwischen spontaner Verschmelzung und Analogiebildung nach dem Muster der nominalen Komposita, wie sie zweifellos vorliegt in Wörtern wie saftstrotzend, kraftbegabt, mondbeglänzt, die aber fast durchweg auf den höheren poetischen Stil beschränkt sind. Überführung in wirkliche Komposition haben wir bei lobsingen, wahrsagen (wahr substantivisch = Wahrheit), wobei Beeinflussung durch Ableitungen aus Kompositis wie ratschlagen, weissagen (vgl. § 171) mitgewirkt haben mag. Ableitungen werden auch aus solchen Verbindungen gebildet, bei denen die Verschmelzung noch nicht vollständig ist, vgl. Haushälter, Teilnehmer, freigebig; selbst Grundlegung, Preisverteilung, Waffenträger, Holzhauer etc., ferner Bekanntmachung, Kundgebung, Lostrennung.Auch hier könnte ein Zweifel entstehen, ob die betreffenden Wörter nicht als nominale Komposita aufzufassen sind, aber das Sprachgefühl entscheidet wieder für die oben ausgesprochene Auffassung. Die Analogie der nominalen Komposition mag allerdings etwas mitgewirkt haben, aber Bildungen wie Freisprechung, Bekanntmachung würden sich dieser Analogie wegen ihrer Bedeutung nicht fügen; sie müssten ja sonst = freie Sprechung, bekannte Machung sein.

Wie die Adverbia, so verschmelzen auch von einer Präposition abhängige Substantiva bis zu einem gewissen Grade mit dem Verb. Man pflegt zwar Verbindungen wie zu Grunde legen oder in Stand setzen nicht zusammenzuschreiben ausser beim substantivierten Inf., aber man bildet die Ableitungen Zugrundelegung, Instandsetzung, Ausserachtlassung, Zuhilfenahme. Dazu die Superlativbildungen an dem sichtbarsten, in die Augen fallendsten Orte (Le.), dem in der Erde steckendsten Wurm (Heinse).

§ 236. Ich möchte die Aufmerksamkeit noch auf die vielen Verbindungen lenken, die wie die oben angeführten kopulativen, nicht als 343 Komposita gefasst zu werden pflegen, die aber doch einen einheitlichen Begriff repräsentieren, z. B. so wie so, vor wie nach, Mann für Mann, Schritt für Schritt (vgl. franz. vis-à-vis, dos-à-dos, tête-à-tête), von Neuem, von Hause aus, sobald als möglich, so gut wie, was für ein etc. Bei manchen dieser Verbindungen ist das Zusammenwachsen zu einer Einheit zugleich eine Gliederungsverschiebung im Satze, die sich in der Konstruktionsweise bekundet. Wenn z. B. Lessing sagt ein mehr als natürliches Gift, so ist die attributive Verwendung von mehr als natürlich und die Flexion am Ende nur dadurch möglich geworden, dass diese Verbindung als eine Einheit gefasst ist wie übernatürlich, und dass damit das Gefühl für die Weise der Zusammenfügung geschwunden ist. Entsprechend verhalten sich die folgenden Konstruktionen: mehr als billigen Anteil (Goe.), den wir Deutsche noch nichts weniger als haben (Herder), mit einer nichts weniger als schönen Bewegung (Le.), in so wenig als mögliche Worte (Le.), ausser der so lang als möglichen Dauer (Le.), die so viel als mögliche Vermeidung alles Ominösen (Le.), unter gleichviel welchem Vorwande (Spielhagen), wo sonst sich nichts als rasche Blätter regen (Haller), eine Fabrike, in welcher nichts als Nähnadeln gemacht werden (Hebel), indem das Fräulein fast nichts als weinte und zitterte (S. v. la Roche). Noch auffallender und dadurch abweichend, dass auch eine Flexion im Innern des Gefüges vorhanden ist, ist die mehrfach bei Lessing vorkommende Konstruktion in der letzten ohn eine Zeile. Für so gut wie vgl. man Wendungen wie er hat mirs so gut wie versprochen. Das zu was für (= qualis) gehörige Subst. war ursprünglich von für abhängig. So ist z. B. was habt ihr für Pferde eigentlich = »was habt ihr an Stelle der Pferde«. Wenn man aber jetzt sagt mit was für Pferden, so ergibt sich daraus, dass was für vom Sprachgefühl als ein indeklinables Attribut zu dem Subst., welches eigentlich von für abhängen sollte, gefasst wird.

§ 237. Die Unmöglichkeit, zwischen Kompositum und syntaktischem Gefüge eine feste Grenze zu ziehen, zeigt sich auch darin, dass öfters Glieder eines sonst zweifellosen Kompositums mit selbständigen Wörtern auf gleiche Linie gestellt werden. Man scheut sich nicht zu sagen öffentliche und Privatmittel, das ordinäre und das Feierkleid. Hans Sachs verbindet sogar gesotten, pachen und pratfisch. Damit vgl. man bei Herder in einer andern als Kathedersprache; es ist durch den menschlichen, nicht Standescharakter. Es werden ferner zu dem ersten bestimmenden Gliede eines Kompositums wie zu einem selbständigen Worte Bestimmungen hinzugefügt, nicht bloss solche, die allenfalls auch auf das Ganze bezogen werden könnten, wie Dankesworte für die Gnade, sondern auch andere wie ein Herausforderungslied zum Zweikampf (Le.), ein böses Erinnerungszeichen für ihn an die treulosen Griechen (Herder), 344 Reisebeschreibungen in den fünften Weltteil (id.), Glaubensfreiheit an Wunder und Zeichen (Goe.), manche Erpressungsgeschichten unter allerlei Vorwänden (id.), der Vertragsentwurf mit Deutschland (Köln. Zeit.), hoffnungsvoll auf die Zukunft (Goe.), erwartungsvoll des Ausgangs (Wieland), hopeless to circumvent us join'd (Milton), fearless to be overmatch'd (id.). Es werden endlich Pronomina auf ein Kompositionsglied bezogen: Menschengebote, die sich von der Wahrheit abwenden (Lu.), er hatte einen Ameisenhaufen zertreten, die seine Herrschaft nicht anerkennen wollten (Goe.), es gibt im Menschenleben Augenblicke, wo er dem Weltgeist näher ist als sonst (Schi.), ein streitendes Gestaltenheer, die seinen Sinn in Sklavenbanden hielten (id.).Vgl. auch Siesbye, Dania 10, 39.

§ 238. Zu Lautveränderungen, die eine isolierende Wirkung haben, ist in den traditionellen Gruppen mannigfache Veranlassung gegeben. Wir dürfen wohl behaupten, wenn wir die Entwickelung auch nicht historisch verfolgen können, dass solche Veränderungen meistens zuerst allgemein bei engerer syntaktischer Verbindung eintreten, dann aber durch Ausgleichung wieder beseitigt werden, und nur da, wo in Folge der Bedeutungsentwickelung die Elemente schon zu eng mit einander verwachsen sind, bewahrt bleiben. Die leichteste Veränderung ist Hinüberziehung eines auslautenden Konsonanten zur folgenden Silbe, vgl. nhd. hinein, hieran, allein, einander, lat. etenim, etiam. Eine solche Hinüberziehung wirkt da nicht isolierend, wo sie wie im Französischen allgemein bei engerer syntaktischer Verbindung eintritt. Sie kann z.B. in Fällen wie peut-être nicht dazu beitragen, einen engeren Zusammenhang zu begründen, weil sie auch in il peut avoir eintritt. Wo sie aber durch Einwirkung des etymologischen Prinzips auf die traditionellen Formen beschränkt wird, da werden diese eben dadurch fester zusammengefügt. Ferner kommt in Betracht Kontraktion eines auslautenden Vokals mit dem anlautenden des folgenden Wortes, resp. Elision eines von beiden vgl. lat. reapse, magnopere, aliorsum, rursus (aus *re-vorsus), franz. aubépine (alba espina), Bonnétable (Ort im Departement Sarthe), malaise, got. sah (dieser, aus sa-uh), þammuh (diesem, aus þamma-uh), mhd. hinne (= hie inne), hûzen = nhd. haussen, nhd. binnen. Die Ausstossung im französischen Artikel (l'état) oder in der Präposition de begründet wieder keine Komposition, weil sie nach einer allgemeinen Regel erfolgt und nicht auf einzelne Formeln beschränkt ist. Ein dritter, häufig vorkommender Fall ist Assimilation eines auslautenden Konsonanten an den Anlaut des folgenden Wortes, vgl. nhd. Hoffart, Homburg (= Hohenburg), Bamberg (= Babenberg), empor (= entbor), sintemal (sint dem mâle), lat. illico, affatim, possum. 345 Die durchgreifendste Isolierung aber wird durch Wirkungen des Akzents geschaffen, vgl. nhd. Nachbar (= mhd. nâchgebûr), Junker (= juncherre), Jungfer (= juncfrouwe), Grummet (= gruonmât), immer (ie mêr), Mannsen, Weibsen (= mannes, wîbes name), neben (aus in eban, eneben), lat. denuo (= de novo), illico, franz. celle (ecce illa); vgl. die entsprechenden Erscheinungen bei den nach indogermanischer Weise gebildeten Kompositis; nhd. Adler (mhd. adel-ar), Wimper (wint-brâ), Wildpret (wiltbrât oder wiltbræte), Schulze - Schultess (schultheize), Schuster (schuochsûtære, Schuhnäher), Glied (gelit), bleiben (belîben), franz. conter (computare), coucher (collocare), coudre (consuere), lat.Man muss, um die Entstehung der angeführten Formen zu verstehen, auf die vorhistorische Betonungsweise zurückgehen. subigere (gegen agere), reddere (gegen dare), surgere (aus sub-regere), præbere (aus præ-hibere), contio (aus coventio), coetus (aus co-itus).

Seltener ist es, dass lautliche Veränderungen der einfachen Wörter die Veranlassung zur Isolierung geben. Es geschieht das z. B. in der Weise, dass ein auslautender Konsonant durch Hinüberziehen zum folgenden Worte sich erhält, während er sonst abfällt; vgl. nhd. da (ahd. dâr), wo (ahd. wâr) gegen daran, woran etc., mhd. hieran etc. gegen hie, sârie gegen . Eine andere Modifikation ist durch die Hinüberziehung vermieden in vinaigre gegen vin. Wie die geringere Tonstärke eines Kompositionsgliedes Veränderungen hervorrufen kann, denen das Simplex nicht unterliegt, so kann sie umgekehrt auch schützend wirken, wo das Simplex unter dem Einflusse des Haupttones verändert wird, vgl. nhd. heran, herein gegen her. Im Nhd. wird der Vokal eines ersten Kompositionsgliedes durch die folgende Doppelkonsonanz vor der Dehnung geschützt, der das Simplex unterliegt, vgl. Herzog, Hermann, Herberge, Wollust.

Dieselben Lautveränderungen, welche das Kompositum vom Simplex trennen, trennen auch die einzelnen Komposita, welche das gleiche Glied enthalten, voneinander, und auch dadurch verliert das Gefühl für die Selbständigkeit der Glieder an Kraft.

Besonders entscheidend für das Zusammenwachsen der Elemente ist es natürlich auch, wenn das eine als Simplex verloren geht; vgl. nhd. Bräutigam (ahd. -gumo Mann), Nachtigall (-gala Sängerin), Augenlid (-lid Deckel), einerlei (-leie Art), wahrnehmen, beginnen, befehlen, empfehlen, franz. aubépine (alb-), printemps (primum-), tiers-état (tertius-), minuit (media-), bonheur (-augurium), ormier (-merum).

§ 239. Wir haben bisher immer nur den Gegensatz von Wortgruppe und Worteinheit im Auge gehabt und uns bemüht, alle Momente zusammenzufassen, welche dazu dienen, die erstere immer entschiedener 346 zur letzteren umzugestalten. Es kommt dabei aber noch ein anderer Gegensatz in Betracht. Die geschilderte Entwickelung muss bis zu einem gewissen Punkte gediehen sein, damit der Komplex den Eindruck eines Kompositums macht, sie darf aber auch nicht über einen gewissen Punkt hinausgehen, wenn er noch diesen Eindruck machen soll und nicht vielmehr den eines Simplex. Was man vom Standpunkte des Sprachgefühls ein Kompositum nennen darf, liegt in der Mitte zwischen diesen Punkten.

Syntaktische und formale Isolierung führen nicht leicht zu Überschreitung dieses zweiten Punktes; in der Regel ist es Untergang des einen Elementes in selbständigem Gebrauche, was die Veranlassung gibt, oder lautliche Isolierung, namentlich das Zusammenschmelzen des Lautkörpers unter Akzenteinflüssen.

Die Lebendigkeit des Gefühls für die Komposition zeigt sich besonders in der Fähigkeit eines Kompositums, als Muster für Analogiebildungen zu dienen. Wenn wir die Komposition aus der Syntax abgeleitet haben, so soll damit keineswegs gesagt sein, dass jedes einzelne Kompositum aus einem syntaktischen Komplex entstanden ist. Vielmehr sind vielleicht die meisten sogenannten Komposita in den verschiedenen Sprachen nichts anderes als Analogiebildungen nach solchen, die im eigentlichen Sinne Komposita zu nennen wären. So ist z. B. jedes in der flexivischen Periode der indogermanischen Grundsprache und vollends jedes innerhalb der einzelsprachlichen Entwickelung neugeschaffene eigentliche Nominalkompositum als eine Analogiebildung aufzufassen und nicht als Zusammensetzung eines gar nicht mehr existierenden reinen Stammes mit einem flektierten Worte. Ebenso sind unsere neuhochdeutschen genitivischen und adjektivischen Komposita zum grossen Teile von Anfang an nicht syntaktisch gewesen. Das sieht man am besten an solchen Fällen, wo das aus der Genitivendung entstandene s des ersten Gliedes auf Wörter übertragen wird denen es im Gen. gar nicht zukommt (Regierungsrat etc.), und auf solche, wo der Genitiv gar nicht hingehört, vgl. wahrheitsliebend nach Wahrheitsliebe, Bauersmann u. dergl.

Wird die Grenze überschritten, bis zu welcher das Kompositum dem Sprachgefühl noch als solches erscheint, so macht das Gebilde, von den eventuellen Flexionsendungen abgesehen, entweder den Eindruck vollkommener Einfachheit oder den einer mit einem Suffix oder Präfix gebildeten Ableitung. So nehmen sich Wörter wie nhd. Welt (mhd. werlt aus wer-alt), Öhmd (mhd. uo-mât), Schulze (mhd. schult-heize), echt (aus mnd. êhaht = mhd. ê-haft), heute (aus *hiu tagu), heint (mhd. hî-naht), Seibt (ahd. Sigi-boto), bange (aus *bi-ango), gönnen (aus *giunnan), fressen (got. fra-itan), nicht (aus ni io wiht), lat. demere (aus 347 *de-emere), promere (aus *pro-emere), surgere (aus *sub-regere), prorsus (aus *pro-versus) nicht anders aus wie etwa Stand, Hase, bald, binden, pangere, versus; und Wörter wie Adler (ahd. adal-ar), Schuster (mhd. schuochsûtære), Wimper (ahd. wint-brâwa), Drittel (= dritte Teil), Meinert (= Meinhard) nicht anders als solche wie Schneider, Leiter, Mittel, Hundert. Auch in Wörtern wie Nachbar, Bräutigam, Nachtigall wird die letzte Silbe nicht anders aufgefasst werden wie die vollen Ableitungssilben in Trübsal, Rechnung u. dergl.

§ 240. Hier sind wir bei dem Ursprunge der Ableitungssuffixe und Präfixe angelangt. Dieselben entstehen anfänglich stets so, dass ein Kompositionsglied die Fühlung mit dem ursprünglich identischen einfachen Worte verliert. Es muss aber noch mehreres andere hinzukommen, damit ein wortbildendes Element entsteht. Erstens muss das andere Glied etymologisch klar mit einem verwandten Worte oder einer verwandten Wortgruppe assoziiert sein, was z. B. bei Adler, Wimper nicht der Fall ist. Zweitens muss das Element nicht bloss in vereinzelten Wörtern auftreten (wie in Nachbar, Bräutigam), sondern in einer Gruppe von Wörtern und in allen mit gleicher Bedeutung. Sind diese beiden Bedingungen erfüllt, so kann die Gruppe schöpferisch werden und sich durch Neuschöpfungen nach den auf dem Wege der Komposition entstandenen Mustern vermehren. Es muss dann aber drittens noch die Bedeutung des betreffenden Kompositionsgliedes entweder schon im Simplex eine gewisse abstrakte Allgemeinheit haben (wie Wesen, Eigenschaft, Tun) oder sich innerhalb der Komposition aus der individuelleren, sinnlicheren des Simplex entwickeln. Dieser letztere Umstand kann sogar unter Umständen entscheidend sein, wenn auch das Gefühl des Zusammenhangs mit dem Simplex noch nicht ganz verloren ist.

Wir haben innerhalb der verfolgbaren historischen Entwickelung Gelegenheit genug zu beobachten, wie auf die bezeichnete Weise ein Suffix entsteht. Am bekanntesten sind aus dem Deutschen -heit, -schaft, -tum, -bar, -lich, -sam, -haft. Der Typus eines Wortes wie weiblich z. B. geht zurück auf ein altes Bahuvrîhi-Kompositum, urgermanisch *wîðolîkizMir kommt es hier und im Folgenden nur darauf an, die Bildungsweise zu veranschaulichen, und ich will nicht behaupten, dass gerade das als Beispiel gewählte Wort zu den ursprünglichen Bildungen gehört habe. eigentlich `Weibergestalt', dann durch Metapher `Weibesgestalt habend'. Zwischen einem derartigen Kompositum und dem Simplex, mhd. lîch, nhd. Leiche ist eine derartige Diskrepanz anfänglich der Bedeutungen, später auch der Lautformen herausgebildet, dass jeder Zusammenhang aufgehoben ist. Vor allem aber hat sich aus der sinnlichen Bedeutung des Simplex `Gestalt, äusseres Ansehen' die ab- 348 straktere `Beschaffenheit' entwickelt. Bei einem Worte wie Schönheit hat sich erst innerhalb des Westgermanischen aus der syntaktischen Gruppe ein Kompositum, aus dem Kompositum eine Ableitung entwickelt. Urgerm. *skauniz haiðuz `schöne Eigenschaft', daraus regelrecht lautlich entwickelt ahd. scônheit. Durch Übertragung der flexionslosen Form in die obliquen Kasus ist die Komposition vollzogen gerade wie in hôchzît u. dergl., vgl. § 233. Vermöge seiner abstrakten Bedeutung wird dann das zweite Glied zum Suffix, zumal nachdem es in selbständiger Verwendung verloren gegangen ist.Über entsprechende Entstehung von Suffixen aus Kompositionsgliedern im Ungarischen vgl. Simonyi S. 275ff.

Auch noch in einer späteren Zeit nähern sich manche zweite Kompositionsglieder dem Charakter eines Suffixes. So sind schmerzvoll, schmerzensreich in ihrer Bedeutung nicht verschieden von lat. dolorosus, franz. douloureux, der Unterschied zwischen anmutsvoll und anmutig, reizvoll und reizend ist ein geringer. Das -tel (= Teil) in Drittel, Viertel etc. ist dem Sprachgefühl ein Suffix. Auch in allerhand, allerlei, gewissermassen, seltsamerweise etc. ist der Ansatz zur Suffixbildung gemacht. Von -weise könnte man sich recht gut vorstellen, dass es sich bei weiter gehender Verallgemeinerung zum durchgehenden Adverbialsuffix hätte entwickeln können gerade wie -mente in der romanischen Volkssprache.

Die Scheidelinie zwischen Kompositionsglied und Suffix kann nur nach dem Sprachgefühl bestimmt werden. Objektive Kriterien zur Beurteilung desselben haben wir in der Hand, sobald durch die Analogie Bildungsweisen geschaffen werden, die als Komposita undenkbar sind. So könnte man zwar franz. fièrement noch als fera mente auffassen, aber z. B. récemment wäre auf recente mente zurückgeführt widersinnig. Die Grundbedeutung unseres -bar (= mhd. bære) ist `tragend, bringend'. Wörter wie ehrbar, furchtbar, wunderbar würden dazu noch einigermassen passen; aber schon mhd. magetbære (jungfräulich), meienbære (zum Mai gehörig), scheffenbære (zum Schöffenamt befähigt) nicht mehr. Vollends entschieden ist der Suffixcharakter, wenn die Analogie zum Hinübergreifen in ganz andere Sphären führt wie in vereinbar, begreiflich, duldsam etc., die nur als Ableitungen aus vereinen, begreifen, dulden gefasst werden können (vgl. darüber § 169); oder wenn Suffixverschmelzungen stattfinden (vgl. darüber § 170) wie in mhd. miltecheit, miltekeit aus miltec-heit, woraus dann Analogiebildungen entspringen wie einerseits Frömmigkeit, Gerechtigkeit, anderseits Eitelkeit, Heiterkeit, Dankbarkeit, Abscheulichkeit, Folgsamkeit.

§ 241. Aus diesen Beobachtungen, zu denen wir leicht aus andern Sprachen eine Menge ähnlicher hinzufügen könnten, müssen 349 wir schliessen, dass die Suffixbildung nicht das Werk einer bestimmten vorhistorischen Periode ist, das mit einem bestimmten Zeitpunkte abgeschlossen wäre, sondern vielmehr ein, so lange die Sprache sich lebendig fortentwickelt, ewig sich wiederholender Prozess. Wir können speziell vermuten, dass auch die gemeinindogermanischen Suffixe nicht schon alle vor der Entstehung der Flexion vorhanden waren, wie die zergliedernde Grammatik gewöhnlich annimmt, sondern dass auch die vorgeschichtliche flexivische Periode nicht ganz unfruchtbar in dieser Beziehung gewesen sein wird. Wir müssen die vorgeschichtliche Entstehung von Suffixen durchaus nach dem Massstabe beurteilen, den uns die geschichtliche Erfahrung an die Hand gibt, und mit allen Theorieen brechen, die nicht auf diese Erfahrung basiert sind, die uns zugleich den einzigen Weg zeigt, auf welchem der Vorgang psychologisch begreifbar wird.

Noch ein wichtiger Punkt muss hervorgehoben werden. Die Entstehung neuer Suffixe steht in stetiger Wechselwirkung mit dem Untergang alter. Wir dürfen sagen, dass ein Suffix als solches untergegangen ist, sobald es nicht mehr fähig ist zu Neubildungen verwendet zu werden. In welcher Weise namentlich der Lautwandel darauf hinwirkt diese Fähigkeit zu vernichten, ist oben § 137 auseinandergesetzt. So stellt sich immer von Zeit zu Zeit das Bedürfnis heraus ein zu sehr abgeschwächtes, in viele Lautgestaltungen zerspaltenes Suffix durch ein volleres, gleichmässiges zu ersetzen. Dazu bieten sich häufig die verschmolzenen Suffixkomplexe dar. Man sehe z. B., wie im Ahd. von den Nomina agentis auf -âri, den Nomina actionis auf -unga, den Abstractis auf -nissa die älteren einfacheren Bildungsweisen zurückgedrängt werden. In andern Fällen aber sind es die Komposita von der beschriebenen Art, die den willkommenen Ersatz bieten, in der Regel zunächst neben die älteren Bildungen treten, dann aber rasch wegen ihrer grösseren Deutlichkeit, ihrer innigeren Beziehungen zum Grundworte ein entschiedenes Übergewicht über diese erlangen und sie bis auf eine grössere oder kleinere Zahl traditioneller Reste überwältigen. So verdrängt Schönheit das jetzt veraltete Schöne, Finsterkeit das noch im Mhd. lebendige diu vinster etc.

§ 242. Auf die gleiche Weise wie die Ableitungssuffixe entstehen Flexionssuffixe. Zwischen beiden gibt es ja überhaupt keine scharfe Grenze. Wir haben auch hier für die vorgeschichtlichen Vorgänge einen Massstab an den geschichtlich zu beobachtenden. Das Anwachsen des Pronomens an den Tempusstamm lässt sich z. B. durch Vorgänge aus heutigen bairischen Mundarten erläutern, die schon § 217 besprochen sind. Die Bildung eines Tempusstammes zeigt sich am handgreiflichsten am romanischen Fut.: j'aimerai = amare habeo. Doch es scheint mir 350 überflüssig aus der Masse des allgemein bekannten und jedem zur Hand liegenden Materials noch weitere Beispiele zusammenzutragen.

§ 243. Zieht man aus unserer Betrachtung die methodologischen Konsequenzen, so wird man zugestehen müssen, dass das Verfahren, welches früher bei der Konstruktion der Verhältnisse des Indogermanischen eingeschlagen zu werden pflegte, sehr verwerflich ist. Ich hebe einige nach dem Obigen selbstverständliche Sätze hervor, nach denen die bestehenden Theorieen zu korrigieren oder gänzlich umzustossen sind.

Wenn man die indogermanische Grundform eines Wortes, auch vorausgesetzt, dass sie richtig konstruiert ist, nach der üblichen Weise im Stamm und Flexionssuffix und den Stamm wieder in Wurzel und Ableitungssuffix oder Suffixe zerlegt, so darf man sich nicht einbilden, damit die Elemente zu haben, aus denen das Wort wirklich zusammengesetzt ist. Man darf z. B. nicht glauben, dass die 2. Sg. Opt. Präs. *bherois (früher als *bharais angesetzt) aus bher + o + i + s entstanden sei. Erstens muss man in Betracht ziehen, dass zwar die ersten Grundlagen der Wortbildung und Flexion durch das Zusammenwachsen ursprünglich selbständiger Elemente geschaffen sind, dass aber diese Grundlagen sobald sie einmal vorhanden waren, auch sofort als Muster für Analogiebildungen dienen mussten. Wir können von keiner einzelnen indogermanischen Form wissen, ob sie aus einem syntaktischen Wortkomplex entstanden oder ob sie eine Analogiebildung nach einer fertigen Form ist. Wir dürfen aber auch gar nicht einmal ohne weiteres voraussetzen, dass der Typus einer Form auf die erstere Weise entstanden sein müsste. Vielmehr müssen wir auch schon für die älteste Periode den Faktor in Anschlag bringen, der in den jüngeren eine so grosse Rolle spielt, die Verschiebung des Bildungsprinzipes durch Analogiebildung. So wenig wie wir die Typen Besuch, unbestreitbar, unveränderlich, Verwaltungsrat auf einen syntaktischen Komplex zurückführen können, ebenso wenig wird das bei vielen indogermanischen Bildungen statthaft sein. Zweitens muss berücksichtigt werden, dass auch in denjenigen Formen, die wirklich syntaktischen Ursprungs sind, die Elemente nicht mehr in der Lautgestaltung vorzuliegen brauchen, die sie vor ihrem Aneinanderwachsen hatten. So wenig wie Schusters aus Schu + ster + s entstanden ist, so wenig braucht ein indogermanischer Gen. akmenos aus ak + men + os entstanden zu sein. Eine Reihe von Veränderungen, welche die Elemente erst innerhalb des Gefüges erlitten haben können, hat man längst erkannt, andere sind neuerdings nachgewiesen. Es ist aber durchaus möglich und sogar wahrscheinlich, dass die Summe dieser Veränderungen mit dem Erkannten noch lange nicht erschöpft ist. 351

Noch weniger darf man glauben, dass die durch Analyse gefundenen Elemente die Urelemente der Sprache überhaupt sind. Unser Unvermögen ein Element zu analysieren beweist gar nichts für dessen primitive Einheit.

Gänzlich fallen lassen muss man die für die Geschichte der indogermanischen Flexion beliebte Scheidung in eine Periode des Aufbaues und eine Periode des Verfalls. Das, was man Aufbau nennt, kommt ja, wie wir gesehen haben, nur durch einen Verfall zu Stande, und das, was man Verfall nennt, ist nur die weitere Fortsetzung dieses Prozesses. Aufgebaut wird nur mit Hilfe der Syntax. Ein solcher Aufbau kann in jeder Periode stattfinden, und Neuaufgebautes tritt immer als Ersatz ein da, wo der Verfall ein gewisses Mass überschritten hat.


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