Paul, Hermann
Prinzipien der Sprachgeschichte.
Paul, Hermann

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49 Drittes Kapitel.

Der Lautwandel.Mit diesem Kap. vgl. Kruszewski II, 260-8. III, 145-170. Ausführliche prinzipielle Erörterungen auch bei Noreen, Vårt Språk, Bd 3, S. 5ff.

§ 32. Um die Erscheinung zu begreifen, die man als Lautwandel zu bezeichnen pflegt, muss man sich die physischen und psychischen Prozesse klar machen, welche immerfort bei der Hervorbringung der Lantkomplexe stattfinden. Sehen wir, wie wir hier dürfen und müssen, von der Funktion ab, welcher dieselben dienen, so ist es Folgendes, was in Betracht kommt: erstens die Bewegungen der Sprechorgane, wie sie vermittelst Erregung der motorischen Nerven und der dadurch hervorgerufenen Muskeltätigkeit zu stande kommen; zweitens die Reihe von Empfindungen, von welchen diese Bewegungen notwendigerweise begleitet sind, das Bewegungsgefühl, wie es LotzeVgl. dessen Medizinische Psychologie (1852) § 26, S. 304; auch Methaphysik II, S. 586ff. Vgl. noch über das Bewegungsgefühl G. E. Müller, Zur Grundlegung der Psychophysik, § |10. 1|1 und A. Strümpell Archiv für klinische Medizin XXII S. 321ff. Wundt gebraucht dafür den Ausdruck Innervation. Jesperson in Techmers Zschr. III, 206 schlägt die Bezeichnung »Organgefühl« vor, weil das Gefühl nicht nur einer Bewegung, sondern auch einer Stellung der Sprechorgane entspreche. In einer Anm. dazu verlangt Techmer Unterscheidung zwischen »Drucksinn« und »innerer Innervationsempfindung«. und nach ihm Steinthal genannt haben; drittens die in den Hörern, wozu unter normalen Verhältnissen allemal auch der Sprechende selbst gehört, erzeugten Tonempfindungen. Diese Empfindungen sind natürlich nicht bloss physiologische, sondern auch psychologische Prozesse. Auch nachdem die physische Erregung geschwunden ist, hinterlassen sie eine bleibende psychische Wirkung, Erinnerungsbilder, die von der höchsten Wichtigkeit für den Lautwandel sind. Denn sie allein sind es, welche die an sich vereinzelten physiologischen Vorgänge unter einander verbinden, einen Kausalzusammenhang zwischen der frühern und spätern Produktion des gleichen Lautkomplexes herstellen. Das 50 Erinnerungsbild, welches die Empfindung der früher angeführten Bewegungen hinterlassen hat, ist es, vermittelst dessen die Reproduktion der gleichen Bewegungen möglich ist. Bewegungsgefühl und Tonempfindung brauchen in keinem innern Zusammenhange unter einander zu stehen. Beide gehen aber eine äusserliche Assoziation ein, indem der Sprechende zugleich sich selbst reden hört. Durch das blosse Anhören anderer wird das Bewegungsgefühl nicht gegeben, und somit auch nicht die Fähigkeit den gehörten Lautkomplex zu reproduzieren, wesbalb es denn immer erst eines Suchens, einer Einübung bedarf, um im stande zu sein einen Laut, den man bis dahin nicht zu sprechen gewohnt ist, nachzusprechen.

§ 33. Es fragt sich, welchen Inhalt das Bewegungsgefühl und die Tonempfindung haben, und bis zu welchem Grade die einzelnen Momente dieses Inhalts bewusst werden.Vgl. S Stricker, Studien über die Sprachvorstellungen, Wien 1880. B. Erdmann, Archiv für systematische Philosophie II, 355ff, III, 31ff. 150ff. R. Dodge, Die motorischen Wortvorstellungen, Halle 1896. Ginneken, Psychologische taalwetenschap I, 1ff. Vielleicht hat nichts so sehr die richtige Einsicht in die Natur des Lautwandels verhindert, als dass man in dieser Hinsicht die Weite und die Deutlichkeit des Bewusstseins Überschätzt hat. Es ist ein grosser Irrtum, wenn man meint, dass, um den Klang eines Wortes in seiner Eigentümlichkeit zu erfassen, sodass eine Erregung der damit assoziierten Vorstellungen möglich wird, die einzelnen Laute, aus denen das Wort sich zusammensetzt, zu deutlichem Bewusstsein gelangen müssten. Es ist sogar, um einen ganzen Satz zu verstehen, nicht immer nötig, dass die einzelnen Wörter ihrem Klange und ihrer Bedeutung nach zum Bewusstsein kommen. Die Selbsttäuschung, in der sich die Grammatiker bewegen, rührt daher, dass sie das Wort nicht als einen Teil der lebendigen, rasch vorüberrauschenden Rede betrachten, sondern als etwas Selbständiges, über das sie mit Musse nachdenken, so dass sie Zeit haben es zu zergliedern. Dazu kommt, dass nicht vom gesprochenen, sondern vom geschriebenen Worte ausgegangen wird. In der Schrift scheint allerdings das Wort in seine Elemente zerlegt, und es scheint erforderlich, dass jeder, der schreibt, diese Zerlegung vornimmt. In Wahrheit verhält es sich aber doch etwas anders. Gewiss muss bei der Erfindung der Buchstabenschrift und bei jeder neuen Anwendung derselben auf eine bisher nicht darin aufgezeichnete Sprache eine derartige Zerlegung vorgenommen sein. Auch muss fortwährend mit jeder Erlernung der Schrift eine Übung im Buchstabieren gesprochener Wörter Hand in Hand gehen. Aber nachdem eine gewisse Fertigkeit erlangt ist, ist der Prozess beim Schreiben nicht gerade der, dass jedes Wort zunächst in die einzelnen 51 Laute zerlegt und dann für jeden einzelnen Laut der betreffende Buchstabe eingesetzt würde. Schon die Schnelligkeit, mit der sich der Vorgang vollzieht, schliesst die Möglichkeit aus, dass seine einzelnen Momente zu klarem Bewusstsein gelangen, und zeigt zugleich, dass das zu einem regelmässigen Ablauf nicht nötig ist. Es tritt aber auch ein wirklich abgekürztes Verfahren ein, wodurch die Schrift sich bis zu einem gewissen Grade von der Sprache emanzipiert, ein Vorgang, den wir später noch näher zu betrachten haben werden. Und sehen wir nun gar ein wenig genauer zu, wie es mit dieser Zergliederungskunst des Schriftkundigen steht, so wird uns gerade daraus recht deutlich entgegentreten, wie übel es mit dem Bewusstsein von den Elementen des Wortlautes bestellt ist. Wir können täglich die Erfahrung machen, dass die vielfachen Diskrepanzen zwischen Schrift und Aussprache von den Angehörigen der betreffenden Sprachgemeinschaft zum grossen Teil unbemerkt bleiben und erst dem Fremden auffallen ohne dass auch er in der Regel sich Rechenschaft zu geben vermag, worauf sie beruhen. So ist ein jeder nicht lautphysiologisch geschulte Deutsche der Überzeugung, dass er schreibt, wie er spricht. Wenn er aber auch dem Engländer und Franzosen gegenüber eine gewisse Berechtigung zu dieser Überzeugung hat, so fehlt es doch, von Feinheiten abgesehen, nicht an Fällen, in denen die Aussprache ziemlich stark von der Schreibung abweicht. Dass der Schlusskonsonant in Tag, Feld, lieb in einem grossen Teile von Deutschland ein anderer Laut ist als der, welcher in Tages, Feldes, liebes gesprochen wird, dass das n in Anger einen wesentlich andern Laut bezeichnet als in Land, ist Wenigen eingefallen. Dass man im allgemeinen in Ungnade gutturalen, in unbillig labialen Nasal spricht, daran denkt niemand. Vollends wird man erstaunt angesehen, wenn man ausspricht, dass in lange kein g, in der zweiten Silbe von legen, reden, Ritter, schütteln kein e gesprochen werde, dass der Schlusskonsonant von leben nach der verbreiteten Aussprache kein n, sondern ein m gleichfalls ohne vorhergehendes e sei. Ja man kann darauf rechnen, dass die meisten diese Tatsachen bestreiten werden, auch nachdem sie darauf aufmerksam gemacht worden sind. Wenigstens habe ich diese Erfahrung vielfach gemacht, auch an Philologen. Wir sehen daraus, wie sehr die Analyse des Wortes etwas bloss mit der Schrift Angelerntes ist und wie gering das Gefühl für die wirklichen Elemente des gesprochenen Wortes ist.

§ 34. Eine wirkliche Zerlegung des Wortes in seine Elemente ist nicht bloss sehr schwierig, sie ist geradezu unmöglich. Das Wort ist nicht eine Aneinandersetzung einer bestimmten Anzahl selbständiger Laute, von denen jeder durch ein Zeichen des Alphabetes ausgedrückt werden könnte, sondern es ist im Grunde immer eine kontinuierliche 52 Reihe von unendlich vielen Lauten, und durch die Buchstaben werden immer nur einzelne charakteristische Punkte dieser Reihe in unvollkommener Weise angedeutet. Das Übrige, was unbezeichnet bleibt, ergibt sich allerdings aus der Bestimmung dieser Punkte bis zu einem gewissen Grade mit Notwendigkeit, aber auch nur bis zu einem gewissen Grade. Am deutlichsten lässt sich diese Kontinuität an den sogenannten Diphthongen erkennen, die eine solche Reihe von unendlich vielen Elementen darstellen, vgl. Sievers, Phonetik Kap. 19, 2. Durch Sievers ist überhaupt zuerst die Bedeutung der Übergangslaute nachdrücklich hervorgehoben. Aus dieser Kontinuität des Wortes aber folgt, dass eine Vorstellung von den einzelnen Teilen nicht etwas von selbst Gegebenes sein kann, sondern erst die Frucht eines, wenn auch noch so primitiven, wissenschaftlichen Nachdenkens, wozu zuerst das praktische Bedürfnis der Lautschrift geführt hat.

Was von dem Lautbilde gilt, das gilt natürlich auch von dem Bewegungsgefühle. Ja wir müssen hier noch weiter gehen. Es kann gar keine Rede davon sein, dass der Einzelne eine Vorstellung von den verschiedenen Bewegungen hätte, die seine Organe beim Sprechen machen. Man weiss ja, dass dieselben erst durch die sorgfältigste wissenschaftliche Beobachtung ermittelt werden können, und dass über viele Punkte auch unter den Forschern Kontroversen bestehen. Selbst die oberflächlichsten und gröbsten Anschauungen von diesen Bewegungen kommen erst durch eine mit Absicht darauf gelenkte Aufmerksamkeit zu stande. Sie sind auch ganz überflüssig, um mit aller Exaktheit Laute und Lautgruppen hervorzubringen, auf die man einmal eingeübt ist. Der Hergang scheint folgender zu sein. Jede Bewegung erregt in bestimmter Weise gewisse sensitive Nerven und ruft so eine Empfindung hervor, welche sich mit der Leitung der Bewegung von ihrem Zentrum durch die motorischen Nerven assoziiert. Ist diese Assoziation hinlänglich fest geworden und das von der Empfindung hinterlassene Erinnerungsbild hinlänglich stark, was in der Regel erst durch Einübung erreicht wird (d. h. durch mehrfache Wiederholung der gleichen Bewegung, vielleicht mit vielen missglückten Versuchen untermischt), dann vermag das Erinnerungsbild der Empfindung die damit assoziierte Bewegung als Reflex zu reproduzieren, und wenn die dabei erregte Empfindung zu dem Erinnerungsbilde stimmt, dann hat man auch die Versicherung, dass man die nämliche Bewegung wie früher ausgeführt hat.

§ 35. Man könnte aber immerhin einräumen, dass der Grad der Bewusstheit, welchen die einzelnen Momente des Lautbildes und des Bewegungsgefühles durch Erlernung der Schrift und sonst durch Reflexion erlangen, ein viel grösserer wäre, als er wirklich ist; man könnte ein- 53 räumen, dass zur Erlernung der Muttersprache sowohl wie jeder fremden ein ganz klares Bewusstsein dieser Elemente erforderlich wäre, wie denn unzweifelhaft ein höherer Grad von Klarheit erforderlich ist als bei der Anwendung des Eingeübten: daraus würde aber nicht folgen, dass es nun auch immerfort wieder in der täglichen Rede zu dem selben Grade der Klarheit kommen müsste. Vielmehr liegt es in der Natur des psychischen Organismus, dass alle anfangs nur bewusst wirkenden Vorstellungen durch Übung die Fähigkeit erlangen auch unbewusst zu wirken, und dass erst eine solche unbewusste Wirkung einen so raschen Ablauf der Vorstellungen möglich macht, wie er in allen Lagen des täglichen Lebens und auch beim Sprechen erfordert wird. Selbst der Lautphysiologe von Beruf wird sehr vieles sprechen und hören, ohne dass bei ihm ein einziger Laut zu klarem Bewusstsein gelangt.

Für die Beurteilung des natürlichen, durch keine Art von Schulmeisterei geregelten Sprachlebens muss daher durchaus an dem Grundsatze festgehalten werden, dass die Laute ohne klares Bewusstsein erzeugt und perzipiert werden. Hiermit fallen alle Erklärungstheorien, welche in den Seelen der Individuen eine Vorstellung von dem Lautsystem der Sprache voraussetzen, wohin z. B. mehrere Hypothesen über die germanische Lautverschiebung gehören.

§ 36. Anderseits aber schliesst die Unbewusstheit der Elemente nicht eine genaue Kontrolle aus. Man kann unzähligemale eine gewohnte Lautgruppe sprechen oder hören, ohne jemals daran zu denken, dass es eben diese, so und so zusammengesetzte Gruppe ist; sobald aber in einem Elemente eine Abweichung von dem Gewohnten eintritt, die nur sehr geringfügig zu sein braucht, wird sie bemerkt, wofern keine besondern Hemmungen entgegenstehen, wie überhaupt jede Abweichung von dem gewohnten unbewussten Verlauf der Vorstellungen zum Bewusstsein zu gelangen pflegt. Natürlich ist mit dem Bewusstsein der Abweichung nicht auch schon das Bewusstsein der Natur und Ursache der Abweichung gegeben.

Die Möglichkeit der Kontrolle reicht soweit wie das Unterscheidungsvermögen. Dieses geht aber nicht bis ins Unendliche, während die Möglichkeit der Abstufung in den Bewegungen der Sprechorgane und natürlich auch in den dadurch erzeugten Lauten allerdings eine unendliche ist. So liegt zwischen a und i sowohl wie zwischen a und u eine unbegrenzte Zahl möglicher Stufen des Vokalklanges. Ebenso lassen sich die Artikulationsstellen sämtlicher Zungen-Gaumenlaute in dem Bilde einer kontinuierten Linie darstellen, auf welcher jeder Punkt der bevorzugte sein kann. Zwischen ihnen und den Lippenlauten ist allerdings kein so unmerklicher Übergang möglich; doch stehen die denti-labialen in naher Beziehung zu den denti-lingualen 54 (th-f). Ebenso ist auch der Übergang von Verschlusslaut zu Reibelaut und umgekehrt allmählich zu bewerkstelligen; denn vollständiger Verschluss und möglichste Verengung liegen unmittelbar beisammen. Vollends alle Unterschiede der Quantität, der Tonhöhe, der Energie in der Artikulation oder in der Exspiration sind in unendlich vielen Abstufungen denkbar. Und so noch vieles andere. Dieser Umstand ist es vor allem, wodurch der Lautwandel begreiflich wird.

Bedenkt man nun, dass es nicht bloss auf die Unterschiede in denjenigen Lauten ankommt, in die man gewöhnlich ungenauer Weise das Wort zerlegt, sondern auch auf die Unterschiede in den Übergangslauten, im Akzent, im Tempo etc., bedenkt man ferner, dass immer ungleiche Teilchen je mit einer Reihe von gleichen Teilchen zusammengesetzt sein können, so erhellt, dass eine ausserordentlich grosse Mannigfaltigkeit der Lautgruppen möglich ist, auch bei verhältnismässig geringer Differenz. Deshalb können auch recht merklich verschiedene Gruppen wegen ihrer überwiegenden Ähnlichkeit immer noch als wesentlich identisch empfunden werden, und dadurch ist das Verständnis zwischen Angehörigen verschiedener Dialekte möglich, so lange die Verschiedenheiten nicht über einen gewissen Grad hinausgehen. Deshalb kann es aber auch eine Anzahl von Variationen geben, deren Verschiedenheiten man entweder gar nicht oder nur bei besonders darauf gerichteter Aufmerksamkeit wahrzunehmen im stande ist.

§ 37. Die frühe Kindheit ist für jeden Einzelnen ein Stadium des Experimentierens, in welchem er durch mannigfache Bemühungen allmählich lernt, das ihm von seiner Umgebung Vorgesprochene nachzusprechen. Ist dies erst in möglichster Vollkommenheit gelungen, so tritt ein verhältnissmässiger Stillstand ein. Die früheren bedeutenden Schwankungen hören auf und es besteht fortan eine grosse Gleichmässigkeit in der Aussprache, sofern nicht durch starke Einwirkungen fremder Dialekte oder einer Schriftsprache Störungen eintreten. Die Gleichmässigkeit kann aber niemals eine absolute werden. Geringe Schwankungen in der Aussprache des gleichen Wortes an der gleichen Satzstelle sind unausbleiblich. Denn überhaupt bei jeder Bewegung des Körpers, mag sie auch noch so eingeübt, mag das Bewegungsgefühl auch noch so vollkommen entwickelt sein, bleibt doch noch etwas Unsicherheit übrig, bleibt es doch noch bis zu einem gewissen, wenn auch noch so geringen Grade dem Zufall überlassen, ob sie mit absoluter Exaktheit ausgeführt wird, oder ob eine kleine Ablenkung von dem regelrechten Wege nach der einen oder andern Seite eintritt. Auch der geübteste Schütze verfehlt zuweilen das Ziel und würde es in den meisten Fällen verfehlen, wenn dasselbe nur ein wirklicher Punkt ohne alle Ausdehnung wäre, und wenn es an seinem Geschosse auch nur einen 55 einzigen Punkt gäbe, der das Ziel berühren könnte. Mag jemand auch eine noch so ausgeprägte Handschrift haben, deren durchstehende Eigentümlichkeiten sofort zu erkennen sind, so wird er doch nicht die gleichen Buchstaben und Buchstabengruppen jedesmal in völlig gleicher Weise produzieren. Nicht anders kann es sich mit den Bewegungen verhalten, durch welche die Laute erzeugt werden. Diese Variabilität der Aussprache, die wegen der engen Grenzen, in denen sie sich bewegt, unbeachtet bleibt, enthält den Schlüssel zum Verständnis der sonst unbegreiflichen Tatsache, dass sich allmählich eine Veränderung des Usus in Bezug auf die lautliche Seite der Sprache vollzieht, ohne dass diejenigen, an welchen die Veränderung vor sich geht, die geringste Ahnung davon haben.

Würde das Bewegungsgefühl als Erinnerungsbild immer unverändert bleiben, so würden sich die kleinen Schwankungen immer um den selben Punkt mit dem selben Maximum des Abstandes bewegen. Nun aber ist dies Gefühl das Produkt aus sämtlichen früheren bei Ausführung der betreffenden Bewegung empfangenen Eindrücken, und zwar verschmelzen nach allgemeinem Gesetze nicht nur die völlig identischen, sondern auch die unmerklich von einander verschiedenen Eindrücke mit einander. Ihrer Verschiedenheit entsprechend muss sich auch das Bewegungsgefühl mit jedem neuen Eindruck etwas umgestalten, wenn auch noch so unbedeutend. Es ist dabei noch von Wichtigkeit, dass immer die späteren Eindrücke stärker nachwirken als die früheren. Man kann daher das Bewegungsgefühl nicht etwa dem Durchschnitt aller während des ganzen Lebens empfangenen Eindrücke gleichsetzen, sondern die an Zahl geringeren können die häufigeren durch ihre Frische an Gewicht übertreffen. Mit jeder Verschiebung des Bewegungsgefühls ist aber auch, vorausgesetzt, dass die Weite der möglichen Divergenz die gleiche bleibt, eine Verschiebung der Grenzpunkte dieser Divergenz gegeben.

§ 38. Denken wir uns nun eine Linie, in der jeder Punkt genau fixiert ist, als den eigentlich normalen Weg der Bewegung, auf den das Bewegungsgefühl hinführt, so ist natürlich der Abstand von jedem Punkte, der als Maximum bei der wirklich ausgeführten Bewegung ohne Widerspruch mit dem Bewegungsgefühl statthaft ist, im allgemeinen nach der einen Seite gerade so gross als nach der entgegengesetzten. Daraus folgt aber nicht, dass die wirklich eintretenden Abweichungen sich nach Zahl und Grösse auf beide Seiten gleichmässig verteilen müssen. Diese Abweichungen, die durch das Bewegungsgefühl nicht bestimmt sind, haben natürlich auch ihre Ursachen, und zwar Ursachen, die vom Bewegungsgefühl ganz unabhängig sind. Treiben solche Ursachen genau gleichzeitig mit genau gleicher Stärke, nach entgegen- 56 gesetzten Richtungen hin, so heben sich ihre Wirkungen gegenseitig auf, und die Bewegung wird mit voller Exaktheit ausgeführt. Dieser Fall wird nur äusserst selten eintreten. Bei weitem in den meisten Fällen wird sich das Übergewicht nach der einen oder der andern Seite neigen. Es kann aber das Verhältnis der Kräfte nach Umständen mannigfach wechseln. Ist dieser Wechsel für die eine Seite so günstig wie für die andere, wechselt im Durchschnitt eine Schwankung nach der einen Seite immer mit einer entsprechenden nach der andern, so werden auch die minimalen Verschiebungen des Bewegungsgefühls immer alsbald wieder paralysiert. Ganz anders aber gestalten sich die Dinge, wenn die Ursachen, die nach der einen Seite drängen, das Übergewicht über die entgegengesetzt wirkenden haben, sei es in jedem einzelnen Falle, sei es auch nur in den meisten. Mag die anfängliche Abweichung auch noch so gering sein, indem sich dabei auch das Bewegungsgefühl um ein Minimum verschiebt, so wird das nächste Mal schon eine etwas größere Abweichung von dem Ursprünglichen möglich und damit wieder eine Verschiebung des Bewegungsgefühls, und so entsteht durch eine Summierung von Verschiebungen, die man sich kaum klein genug vorstellen kann, allmählich eine merkliche Differenz, sei es, dass die Bewegung stetig in einer bestimmten Richtung fortschreitet, sei es, dass der Fortschritt immer wieder durch Rückschritte unterbrochen wird, falls nur die letzteren seltener und kleiner sind als die ersteren.

Die Ursache, warum die Neigung zur Abweichung nach der einen Seite hin grösser ist als nach der andern, kann kaum anders worin gesucht werden, als dass die Abweichung nach der ersteren den Organen des Sprechenden in irgend welcher Hinsicht bequemer ist. Das Wesen dieser grösseren oder geringeren Bequemlichkeit zu untersuchen ist eine physiologische Aufgabe. Damit soll nicht gesagt sein, dass sie nicht auch psychologisch bedingt ist. Akzent und Tempo, die dabei von so entscheidender Bedeutung sind, auch die Energie der Muskeltätigkeit sind wesentlich von psychischen Bedingungen abhängig, aber ihre Wirkung auf die Lautverhältnisse ist doch etwas Physiologisches. Bei der progressiven Assimilation kann es nur die Vorstellung des noch zu sprechenden Lautes sein, was auf den vorhergehenden einwirkt; aber das ist ein gleichmässig durchgehendes psychisches Verhältnis von sehr einfacher Art, während alle spezielle Bestimmung des Assimilationsprozesses auf einer Untersuchung über die physische Erzeugung der betreffenden Laute basiert werden muss.

Für die Aufgabe, die wir uns hier gestellt haben, genügt es auf einige allgemeine Gesichtspunkte hinzuweisen. Es gibt eine grosse Zahl von Fällen, in denen sich schlechthin sagen lässt: diese Lautgruppe 57 ist bequemer als jene, erfordert eine geringere Tätigkeit der Sprechwerkzeuge. So sind ital. otto, cattivo zweifellos bequemer zu sprechen als lat. octo, nhd. empfangen, als ein nicht von Ausgleichung betroffenes *entfangen sein würde. Vollständige und partielle Assimilation ist eine in allen Sprachen wiederkehrende Erscheinung. Wenn es sich dagegen um den Einzellaut handelt, so lassen sich kaum irgend welche allgemeine Grundsätze über grössere oder geringere Bequemlichkeit des einen oder andern aufstellen, und alle aus beschränkten Gebieten abstrahierten Theorien darüber zeigen sich in ihrer Nichtigkeit einer reicheren Erfahrung gegenüber. Und auch für die Kombination mehrerer Laute lassen sich keineswegs durchweg allgemeine Bestimmungen geben. Zunächst hängt die Bequemlichkeit zu einem guten Teile von den Quantitätsverhältnissen und von der Akzentuation, der exspiratorischen wie der musikalischen ab. Für die lange Silbe ist etwas anderes bequem als für die kurze, für die betonte etwas anderes als für die unbetonte, für den Zirkumflex etwas anderes als für den Gravis oder Akut. Weiter aber richtet sich die Bequemlichkeit nach einer Menge von Verhältnissen, die für jedes Individuum verschieden sein, aber auch grösseren Gruppen in gleicher oder ähnlicher Weise zukommen können, ohne von andern geteilt zu werden. Insbesondere wird dabei ein Punkt zu betonen sein. Es besteht in allen Sprachen eine gewisse Harmonie des Lautsystems. Man sieht daraus, dass die Richtung, nach welcher ein Laut ablenkt, mitbedingt sein muss durch die Richtung der übrigen Laute. Wie Sievers hervorgehoben hat, kommt dabei sehr viel auf die sogenannte Indifferenzlage der Organe an. Jede Verschiedenheit derselben bedingt natürlich auch eine Verschiedenheit in Bezug auf die Bequemlichkeit der einzelnen Laute. Eine allmähliche Verschiebung der Indifferenzlage wird ganz nach Analogie dessen, was wir oben über die des Bewegungsgefühls gesagt haben, zu beurteilen sein.

§ 39. Es ist von grosser Wichtigkeit sich stets gegenwärtig zu halten, dass die Bequemlichkeit bei jeder einzelnen Lautproduktion immer nur eine sehr untergeordnete Nebenursache abgibt, während das Bewegungsgefühl immer das eigentlich Bestimmende bleibt. Einer der gewöhnlichsten Irrtümer, dem man immer wieder begegnet, besteht darin, dass eine in einem langen Zeitraume durch massenhafte kleine Verschiebungen entstandene Veränderung auf einen einzigen Akt des Bequemlichkeitsstrebens zurückgeführt wird. Dieser Irrtum hängt zum Teil mit der Art zusammen, wie Lautregeln in der praktischen Grammatik und danach auch vielfach in Grammatiken, die den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, gefasst werden. Man sagt z. B.: wenn ein tönender Konsonant in den Auslaut tritt, so wird er in dieser Sprache 58 zu dem entsprechenden tonlosen (vgl. mhd. mîde - meit, rîbe - reip), als ob man es mit einer jedesmal von neuem eintretenden Veränderung zu tun hätte, die dadurch veranlasst wäre, dass dem Auslaut der tonlose Laut bequemer liegt. In Wahrheit aber ist es dann das durch die Überlieferung ausgebildete Bewegungsgefühl, welches den tonlosen Laut erzeugt, während die allmähliche Reduzierung des Stimmtons bis zu gänzlicher Vernichtung und die etwa damit verbundene Verstärkung des Exspirationsdruckes einer vielleicht schon längst vergangenen Zeit angehören. Ganz verkehrt ist es auch, das Eintreten eines Lautwandels immer auf eine besondere Trägheit, Lässigkeit oder Unachtsamkeit zurückzuführen und das Unterbleiben desselben anderswo einer besondern Sorgfalt und Aufmerksamkeit zuzuschreiben. Wohl mag es sein, dass das Bewegungsgefühl nicht überall zu der gleichen Sicherheit ausgebildet ist. Aber irgend welche Anstrengung zur Verhütung eines Lautwandels gibt es nirgends. Denn die Betreffenden haben gar keine Ahnung davon, dass es etwas Derartiges zu verhüten gibt, sondern leben immer in dem guten Glauben, dass sie heute so sprechen, wie sie vor Jahren gesprochen haben, und dass sie bis an ihr Ende so weiter sprechen werden. Würde jemand im stande sein die Organbewegungen, die er vor vielen Jahren zur Hervorbringung eines Wortes gemacht hat, mit den gegenwärtigen zu vergleichen, so würde ihm vielleicht ein Unterschied auffallen. Dazu gibt es aber keine Möglichkeit. Der einzige Massstab, mit dem er messen kann, ist immer das Bewegungsgefühl, und dieses ist entsprechend modifiziert, ist so, wie es zu jener Zeit gewesen ist, nicht mehr in der Seele.

§ 40. Eine Kontrolle gibt es aber dennoch, wodurch der eben geschilderten Entwickelung des einzelnen Individuums eine mächtige Hemmung entgegengesetzt wird: das ist das Lautbild. Während sich das Bewegungsgefühl nur nach den eigenen Bewegungen bildet, gestaltet sich das Lautbild ausser aus dem Selbstgesprochenen auch aus allem dem, was man von denjenigen hört, mit denen man in Verkehrsgemeinschaft steht. Träte nun eine merkliche Verschiebung des Bewegungsgefühles ein, der keine entsprechende Verschiebung des Lautbildes zur Seite stünde, so würde sich eine Diskrepanz ergeben zwischen dem durch ersteres erzeugten Laute und dem aus den früheren Empfindungen gewonnenen Lautbilde. Eine solche Diskrepanz wird vermieden, indem sich das Bewegungsgefühl nach dem Lautbilde korrigiert. Dies geschieht in derselben Weise, wie sich zuerst in der Kindheit das Bewegungsgefühl nach dem Lautbilde regelt. Es gehört eben zum eigensten Wesen der Sprache als eines Verkehrsmittels, dass der Einzelne sich in steter Übereinstimmung mit seinen Verkehrsgenossen fühlt. Natürlich besteht kein bewusstes Streben danach, sondern die Forderung 59 solcher Übereinstimmung bleibt als etwas Selbstverständliches unbewusst. Dieser Forderung kann auch nicht mit absoluter Exaktheit nachgekommen werden. Wenn schon das Bewegungsgefühl des Einzelnen seine Bewegungen nicht völlig beherrschen kann und selbst kleinen Schwankungen ausgesetzt ist, so muss der freie Spielraum für die Bewegung, der innerhalb einer Gruppe von Individuen besteht, natürlich noch grösser sein, indem es dem Bewegungsgefühle jedes Einzelnen doch niemals gelingen wird dem Lautbilde, das ihm vorschwebt, vollständig Genüge zu leisten. Und dazu kommt noch, dass auch dies Lautbild wegen der bestehenden Differenzen in den Lautempfindungen sich bei jedem Einzelnen etwas anders gestalten muss und gleichfalls beständigen Schwankungen unterworfen ist. Aber über ziemlich enge Grenzen hinaus können auch diese Schwankungen innerhalb einer durch intensiven Verkehr verknüpften Gruppe nicht gehen. Sie werden auch hier unmerklich oder, wenn auch bei genauerer Beobachtung bemerkbar, so doch kaum definierbar oder gar, selbst mit den Mitteln des vollkommensten Alphabetes, bezeichenbar sein. Wir können das nicht nur a priori vermuten, sondern an den lebenden Mundarten tatsächlich beobachten, natürlich nicht an solchen , die einen abgestuften Einfluss der Schriftsprache zeigen. Finden sich auch hie und da bei einem Einzelnen, z. B. in Folge eines organischen Fehlers stärkere Abweichungen, so macht das für das Ganze wenig aus. § 41. So lange also der Einzelne mit seiner Tendenz zur Abweichung für sich allein den Verkehrsgenossen gegenüber steht, kann er dieser Tendenz nur in verschwindend geringem Masse nachgeben, da ihre Wirkungen immer wieder durch regulierende Gegenwirkungen paralysiert werden. Eine bedeutendere Verschiebung kann nur eintreten, wenn sie bei sämtlichen Individuen einer Gruppe durchdringt, die wenigstens im Verhältnis zu der Intensität des Verkehrs im Innern, nach aussen hin einen gewissen Grad von Abgeschlossenheit hat. Die Möglichkeit eines solchen Vorganges liegt in denjenigen Fällen klar auf der Hand, wo die Abweichung allen oder so gut wie allen Sprechorganen bequemer liegt als die genaue Innehaltung der Richtung des Bewegungsgefühls. Sehr kommt dabei mit in Betracht, dass die schon vorhandene Übereinstimmung in Akzent, Tempo etc. in die gleichen Bahnen treibt. Dasselbe gilt von der Übereinstimmung in der Indifferenzlage. Aber das reicht zur Erklärung nicht aus. Wir sehen ja, dass von demselben Ausgangspunkte aus sehr verschiedenartige Entwickelungen eintreten, und zwar ohne immer durch Akzentveränderungen oder sonst irgend etwas bedingt zu sein, was seinerseits psychologische Veranlassung hat. Und wir müssen immer wieder fragen: wie kommt es, dass gerade die Individuen dieser Gruppe die und die Veränderung 60 gemeinsam durchmachen. Man hat zur Erklärung die Übereinstimmung in Klima, Bodenbeschaffenheit und Lebensweise herbeigezogen.Wundt handelt darüber 1, 473ff. Er unterscheidet drei Ursachen: äussere Naturumgebung, Vermischung von Völkern und Rassen, Einfluss der Kultur. Über die mittlere werden wir im zwölften Kapitel zu handeln haben. Meringer (Idg. Forschungen 16, 195 und Neue freie Presse, 21. Jan 1904) scheint der Ansicht zu sein, wenn ich ihn recht verstanden habe, dass die eigentliche Ursache der Lautveränderungen in den Gemütsbewegungen der Menschen zu suchen sei. Diese tragen jedenfalls wesentlich dazu bei, die normale Aussprache zu variieren. Aber da dieselben bei dem einzelnen Menschen wechseln und bei verschiedenen Individuen sehr verschieden sind, so ist anzunehmen, dass die entgegengesetzten Gemütsbewegungen, indem sie nach entgegengesetzten Richtungen treiben, sich im allgemeinen das Gleichgewicht halten und nur ausnahmsweise eine bleibende Wirkung auf die normale Sprache hinterlassen. Wollen wir etwas über die besonderen Ursachen eines Lautwandels ermitteln, so wird immer die erste Frage sein müssen: inwiefern hängt er mit andern Lautveränderungen und mit dem allgemeinen Lautcharakter desselben Dialekts zusammen? Hierüber lässt sich manches Ergebnis gewinnen, und damit wird man sich wohl vorläufig begnügen müssen. Jedenfalls muss diese Untersuchung erst geführt sein, bevor man irgend eine weitere Vermutung wagen darf. Ferner muss daran festgehalten werden, dass es in der Natur der Sprechtätigkeit an sich begründet ist, dass Lautveränderungen mit der Zeit nicht ausbleiben, wenn dieselben auch bald in grösserem, bald in geringerem Umfange, bald in schnellerem, bald in langsamerem Tempo sich vollziehen. Es muss auch die Ansicht zurückgewiesen werden, dass stärkere Grade von Veränderung immer durch tiefgreifende Umwälzungen in den Lebensbedingungen des betreffenden Volkes hervorgerufen sein müssten. Zum Beweise dafür brauche ich nur auf die bedeutenden Veränderungen hinzuweisen, welche die deutschen, namentlich viele oberdeutsche Mundarten seit den letzten Jahrhunderten des Mittelalters durchgemacht haben, Veränderungen, bei denen gerade die sesshaftesten und sonst konservativsten Bevölkerungsschichten am stärksten beteiligt sind. Dagegen wird man sagen können, dass die relative Abgeschlossenheit kleinerer Verkehrsgruppen ein förderndes Moment für das Durchdringen von Lautveränderungen ist, eben weil die ausgleichende Wirkung des weiteren Verkehres fehlt, die wenigstens in der Mehrzahl der Fälle hemmend wirkt. Es ist aber davon zu sagen, dass bisher auch nicht einmal der Anfang zu einer methodischen Materialiensammlung gemacht ist, aus der sich die Abhängigkeit der Sprachentwickelung von derartigen Einflüssen wahrscheinlich machen liesse. Was im einzelnen in dieser Hinsicht behauptet ist, lässt sich meist sehr leicht ad absurdum führen. Kaum zu bezweifeln ist es, dass Eigentümlichkeiten der Sprechorgane sich vererben, und nähere oder weitere Verwandtschaft ist daher gewiss mit zu den Umständen zu rechnen, die eine grössere oder geringere Übereinstimmung im Bau der Organe bedingen. Aber sie ist es nicht allein, wovon der letztere abhängt. Und ebensowenig hängt die Sprachentwickelung allein vom Bau der Organe ab. Überdies aber tritt die dialektische Scheidung und Zusammenschliessung sehr vielfach mit der leiblichen Verwandtschaft in Widerspruch. Man wird sich demnach 61 immer vergeblich abmühen, wenn man versucht das Zusammentreffen aller Individuen einer Gruppe lediglich als etwas Spontanes zu erklären, und dabei den andern neben der Spontaneität wirkenden Faktor übersieht, den Zwang der Verkehrsgemeinschaft.

§ 42. Gehen wir davon aus, dass jedes Individuum besonders veranlagt und in besonderer Weise entwickelt ist, so ist damit zwar die Möglichkeit ausserordentlich vieler Variationen gegeben, nimmt man aber jedes einzelne Moment, was dabei in Betracht kommt, isoliert, so ist die Zahl der möglichen Variationen doch nur eine geringe. Betrachten wir die Veränderungen jedes einzelnen Lautes für sich, und unterscheiden wir an diesem wieder Verschiebung der Artikulationsstelle, Übergang von Verschluss zu Engenbildung und umgekehrt, Verstärkung oder Schwächung des Exspirationsdruckes u. s. f., so werden wir häufig in der Lage sein nur zwei Möglichkeiten der Abweichungen zu erhalten. So kann z. B. das a sich zwar nach und nach in alle möglichen Vokale wandeln, aber die Richtung in der es sich bewegt, kann zunächst doch nur entweder die auf i oder die auf u sein. Nun kann es zwar leicht geschehen, dass sich die zwei oder drei möglichen Richtungen in einem grossen Sprachgebiete, alles zusammengefasst, ungefähr die Wage halten. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass das an allen verschiedenen Punkten zu jeder Zeit der Fall sein sollte. Der Fall, dass in einem durch besonders intensiven Verkehr zusammengehaltenen Gebiete die eine Tendenz das Übergewicht erlangt, kann sehr leicht eintreten lediglich durch das Spiel des Zufalls, d. h. auch wenn die Übereinstimmung der Mehrheit nicht durch einen nähern innern Zusammenhang gegenüber den ausserhalb der Gruppe stehenden Individuen bedingt ist, und wenn die Ursachen, die nach dieser bestimmten Richtung treiben, bei den einzelnen vielleicht ganz verschiedene sind. Das Übergewicht einer Tendenz in einem solchen beschränkten Kreise genügt, um die entgegenstehenden Hemmungen zu überwinden. Es wird die Veranlassung, dass sich der Verschiebung des Bewegungsgefühles, wozu die Majorität neigt, eine Verschiebung des Lautbildes nach der entsprechenden Richtung zur Seite stellt. Der Einzelne ist ja in Bezug auf Gestaltung seiner Lautvorstellungen nicht von allen Mitgliedern der ganzen Sprachgenossenschaft abhängig, sondern immer nur von denen, mit welchen er in sprachlichen Verkehr tritt und wiederum von diesen nicht in gleicher Weise, sondern in sehr verschiedenem Masse je nach der Häufigkeit des Verkehres und nach dem Grade, in welchem sich ein jeder dabei betätigt. Es kommt nicht darauf an, von wie vielen Menschen er diese oder jene Eigentümlichkeit der Aussprache hört, sondern lediglich darauf, wie oft er sie hört. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass dasjenige, was von der gewöhnlich vernommenen Art abweicht, wieder unter sich 62 verschieden sein kann, und dass dadurch die von ihm ausgeübten Wirkungen sich gegenseitig stören. Ist nun aber durch Beseitigung der vermittelst des Verkehres geübten Hemmung eine definitive Verschiebung des Bewegungsgefühles eingetreten, so ist bei Fortwirken der Tendenz eine weitere kleine Abweichung nach der gleichen Seite ermöglicht. Mittlerweile wird aber auch die Minorität von der Bewegung mit fortgerissen. Genau dieselben Gründe, welche der Minderheit nicht gestatten in fortschrittlicher Bewegung sich zu weit vom allgemeinen Usus zu entfernen, gestatten ihr auch nicht hinter dem Fortschritt der Mehrheit erheblich zurückzubleiben. Denn die überwiegende Häufigkeit einer Aussprache ist der einzige Massstab für ihre Korrektheit und Mustergültigkeit. Die Bewegung geht also in der Weise vor sich, dass immer ein Teil etwas vor dem Durchschnitt voraus, ein anderer etwas hinter demselben zurück ist, alles aber in so geringem Abstande von einander, dass niemals zwischen Individuen, die in gleich engem Verkehr unter einander stehn, ein klaffender Gegensatz hervortritt.Wundt muss wohl meine oben gegebenen Auseinandersetzungen schlecht in der Erinnerung gehabt haben, wenn er (Sprachgesch. und Sprachpsychologie S. 59) es als eine vornehmlich von mir zur Geltung gebrachte Anschauung bezeichnet, dass eine Neuerung in der Lautgebung bei einem Einzelnen begönne und sich von ihm aus in weitere und weitere Kreise fortsetzte, während ich doch ausdrücklich das Zusammentreffen einer Überwiegenden Menge von Einzelnen in ihrer Tendenz als Bedingung für das Zustandekommen des normalen Lautwandels hingestellt habe. Was soll man nun vollends dazu sagen, wenn weiterhin (S. 62. 3) meine allgemeinen Anschauungen über das Wesen der sprachlichen Veränderungen durch die Worte charakterisiert werden: »dieser besonders von H. Paul so stark betonte Gedanke, in der Sprache könne nur das usuell werden, was ursprünglich individuell gewesen, also von einem Einzelnen ausgegangen sei«. Einen nur einigermassen ähnlich gefassten Gedanken wird man vergebens in meinem Buche suchen. Freilich vertrete ich die Ansicht, dass jede Veränderung des Sprachgebrauches sich nirgends anders als an den einzelnen Individuen vollziehen kann, und dass dabei immer nur ein Teil derselben Spontan aktiv zu sein braucht, während der andere sich nur aufnehmend verhält; aber wo habe ich denn behauptet, dass die Spontaneität und Aktivität immer oder auch nur in der Regel auf der Seite eines Einzelnen sei? Das Gegenteil ist überall zu finden. Es ist also eine Karrikatur meiner Auffassung, die Wundt bekämpft, was ihm dann unschwer gelingen muss. Es ist das übrigens kein vereinzelter Fall. Auch sonst sind die Anschauungen derjenigen, gegen die Wundt polemisiert, von vornherein unrichtig gefasst, und es werden öfters aus Äusserungen eines Einzelnen, die vielleicht nicht sehr sorgfältig überlegt sind, Schlüsse auf die Anschauungen einer Gruppe von Forschern gezogen, zu der Wundt diesen Einzelnen rechnet. Eine nicht unwichtige Rolle spielen dabei Charakterisierungen solcher angenommenen Gruppen durch ein nicht ganz zutreffendes Schlagwort. Ein Beispiel dafür ist die Charakterisierung der früheren Lehren vom Bedeutungswandel. Vgl. darüber Marty, Grundlegung S. 544ff.

§ 43. Innerhalb der nämlichen Generation werden auf diese Weise immer nur sehr geringfügige Verschiebungen zu stande kommen. Merk- 63 lichere Verschiebungen erfolgen erst, wenn eine ältere Generation durch eine neu heranwachsende verdrängt ist. Zunächst, wenn eine Verschiebung schon bei der Majorität durchgedrungen ist, während ihr eine Minorität noch widersteht, so wird sich das heranwachsende Geschlecht naturgemäss nach der Majorität richten, zumal wenn die Aussprache derselben die bequemere ist. Mag nun die Minorität auch bei der älteren Gewohnheit verharren, sie stirbt allmählich aus. Weiterhin aber kann es sein, dass sich das Bewegungsgefühl der jüngeren Generation von Aufang an nach einer bestimmten Richtung hin abweichend von dem der älteren gestaltet. Die selben Gründe, welche bei der älteren Generation zu einer bestimmten Art der Abweichung von dem schon ausgebildeten Bewegungsgefühl treiben, müssen bei der jüngeren auf die anfängliche Gestaltung desselben wirken. Man wird also wohl sagen können, dass die Hauptveranlassung zum Lautwandel in der Übertragung der Laute auf neue Individuen liegt. Für diesen Vorgang ist also der Ausdruck Wandel, wenn man sich an das wirklich Tatsächliche hält, gar nicht zutreffend, es ist vielmehr eine abweichende Neuerzeugung.

§ 44. Bei der Erlernung der Sprache werden nur die Laute überliefert, nicht die Bewegungsgefühle. Die Übereinstimmung der selbsterzeugten mit den von anderen gehörten Lauten gibt dem Einzelnen die Gewähr dafür, dass er richtig spricht. Dass dann auch das Bewegungsgefühl sich in annähernd gleicher Weise gebildet hat, kann nur unter der Voraussetzung angenommen werden, dass annähernd gleiche Laute nur durch annähernd gleiche Bewegungen der Sprechorgane erzeugt werden können. Ist es möglich, durch verschiedene Bewegungen einen annähernd gleichen Laut zu erzeugen, so muss es auch möglich sein, dass sich das Bewegungsgefühl desjenigen, der die Sprache erlernt, anders gestaltet als dasjenige der Personen, von denen er sie lernt. Für einige wenige Fälle wird wohl eine solche abweichende Gestaltung des Bewegungsgefühles als möglich zugegeben werden müssen. So sind z. B. die dorsalen t- und s-Laute im Klange nicht sehr von den alveolaren verschieden, trotzdem die Artikulation wesentlich verschieden ist. Linguales und uvulares r sind zwar noch ziemlich leicht zu unterscheiden, und es pflegt auch, soviel mir bekannt ist, in den verschiedenen Mundarten entweder das eine oder das andere durchzugehen; aber der Übergang des einen in das andere ist doch wohl kaum anders zu erklären, als dass abweichende Hervorbringungen nicht korrigiert wurden, weil die Abweichungen des Klanges nicht genug auffielen.

§ 45. Es gibt nun noch andere lautliche Veränderungen, die nicht auf einer Verschiebung oder abweichenden Gestaltung des Bewegungsgefühls beruhen, die man also von dem bisher geschilderten Lautwandel im engeren Sinne zu scheiden hat, die aber das mit ihm gemein haben, 64 dass sie ohne Rücksicht auf die Funktion des Wortes vor sich gehen. Es handelt sich hierbei nicht um eine Veränderung der Elemente, aus denen sich die Rede zusammensetzt, durch Unterschiebung, sondern nur um eine Vertauschung dieser Elemente in bestimmten einzelnen Fällen.Vgl. Brugmann, Zum heutigen Stand der Sprachwissenschaft S. 50. Ders., Kurze vgl. Grammatik der idg. Sprachen S. 39ff. 235ff. Delbrück, Die neueste Sprachforschung S. 18. Behrens, Über reziproke Metathese im Romanischen, Greifswald 1888. Nigra, Metathesi (Zschr. f. rom. Philol. 28, 1). H. Schröder, Beitr. z. Gesch. d. deutschen Sprache und Lit. 29, 355 und Zschr. f. deutsche Philol. 37, 256. Bechtel, Über gegenseitige Assimilation und Dissimilation der beiden Zitterlaute, Göttingen 1876. Grammont, La dissimulation consonantique dans les langues indoeuropéennes et dans les langues romanes, Dijon 1895. Hoffmann-Krayer, Ferndissimilation von r und l im Deutschen (Festschrift zur 49. Versammlung deutscher Philologen, Basel 1907, S. 491ff.). Edw. Schröder, Pfennig (Zschr. f. deutsches Altert. 37, 124) und Blachfeld (Nachr. der Gesellsch. der Wissensch. zu Göttingen, philol.histor. Kl. 1908, 15). Meringer und Mayer, Versprechen und Verlesen, Stuttgart 1895. Meringer, Aus dem Leben der Sprache, Versprechen, Kindersprache. Nachahmungstrieb. Berlin 1906. K. Brugmann, Das Wesen der lautlichen Dissimilationen (Abh. d. sächs. Gesch. d. W. 57, 139 178). Behaghel, Gesch. d. deutsch. Sprache § 232ff.

Es gehört hierher zunächst die Erscheinung der Metathesis. Es sind folgende Hauptarten zu unterscheiden. Erstens: zwei unmittelbar auf einander folgende Laute werden umgestellt, vgl. angelsächsisch fix neben fisc, ácsian (áhsian) neben áscian = ahd. eiscôn (forschen), lat. ascia gegenüber griech. axínê, got. aqizi (Axt), dialektisch-franz. fisque = fixe, sesque - sexe, lat. vespa aus *vepsa wie deutsch Wespe gegen oberd. Wefse, vulgärlat. ispe = ipse, span. escarbar aus scabrare, olvidar = franz. oublier; ags. fierst = frist, irnan = rinnan, nhd. (ursprünglich nd.) bersten = mhd. bresten, Born neben Brunnen, Bernstein, zu brennen, Kersten, Karsten aus Christian, mnd., auch md. nâlde, ndl. naald aus nâdelWo Metathesis zwischen sonorem Konsonanten und Vokal in unbetonter Silbe vorzuliegen scheint, ist die Erscheinung allerdings wohl meist als das Ergebnis einer anders gearteten Entwickelung aufzufassen. Es kann zunächst der Vokal der Silbe geschwunden sein, wodurch dann der konsonantische Sonorlaut sonantisch geworden ist, und daraus kann sich dann ein neuer Vokal, nun in anderer Stellung entwickelt haben. So sind wahrscheinlich viele scheinbare Metathesen in den romanischen Sprachen aufzufassen, z. B. dialektisch-franz. vous pernez = prenez, franz. fromage aus formaticum; vgl. Behrens a. a. O. So wird auch die mhd. Negationspartikel en- aus ahd. ni zu erklären sein. Eine etwas andere Entwickelung, die gleichfalls zu scheinbarer Metathesis führt, ist die, dass ohne Vokalausstossung aus folgendem Sonorlaut ein sogenannter Svarabhakti-Vokal entsteht, der weiterhin bewahrt bleibt, während der ursprüngliche Vokal ausgestossen wird. Ein sicheres Beispiel ist unser -brecht in Personennamen gegenüber got. bairhts (glänzend); ahd. erscheint es noch als selbständiges Wort in der Form beraht, daneben aber steht z. B. der Eigenname Werinbraht (Otfried), und wir haben uns die Entwickelung so zu denken, dass in *Wérinbèraht zunächst eine Verschiebung des Nebenakzentes eingetreten ist (Wérinberàht), wodurch dann die Ausstossung des Wurzelvokales veranlasst ist.. Zweitens: zwei nicht aufeinander folgende, in der Regel irgendwie verwandte Laute 65 vertauschen ihre Stellen; am häufigsten ist die Vertauschung zwischen r und l, vgl. ahd. erila neben elira = nhd. erle - eller, ags. weleras Lippen gegen got. wairilos, it. dialektisch grolioso = glorioso, toskanisch balire = it. barile (Fass), span. milagro aus miraculum, span.-port. palabra aus parabola; aber auch andere Konsonanten werden vertauscht: ahd. ezzih, welches vor der Lautverschiebung *etik gelautet haben muss, = lat. acetum, franz. étincelle aus *stincilla = scintilla, sizilianisch vispicu aus episcopus, nordd. mundartl. Schersant = Sergeant, span. ajuagas (Beulenkrankheit der Pferde) neben aguaja (zu lat. aqua), mailändisch valmasia = it. malvasia, it. padule neben palude, it. cofaccia (Kuchen) neben focaccia (zu focus), dialektisch-it. telefrago = telegrafo. Drittens: seltener ist es, dass ein Konsonant in eine andere Silbe tritt, ohne dass ein anderer seine frühere Stelle einnimmt. Am häufigsten erfährt r diese Versetzung, vgl. dialektisch-it. crompare = comprare, it. strupo neben stupro und span. estrupo neben estupro (stuprum), mlat. lampreda neben lampetra, franz. abreuver aus *adbibrare, mlat. cocodrillus (aus crocodilus), woraus it. coccodrillo, mhd. kokodrille. Schuchardt hat in Bezug auf diese Fälle die Ansicht vertreten, dass zunächst Assimilation, dann Dissimilation eingetreten sei (also z. B. stupro - *strupro - strupo), eine Erklärung, die mindestens teilweise zutreffen mag.

Ferner gehören hierher Assimilationen zwischen zwei nichtbenachbarten Lauten wie lat. lilium aus griech. leírion, lat. quinque aus *pinque, urgermanisch *finfi (fünf) = *finhwi, sanskr. çvaçuras statt *svaçuras (= lat. socer), lat. bibo gegen aind. pibâmi, lat. barba statt des nach deutsch Bart zu erwartenden *farba (wobei freilich auch Zusammensetzungen wie imberbis, in denen b lautgesetzlich entwickelt war, mitgewirkt haben können), griech. Mekaklê^s aus Megaklê^s, lat. forfex aus forpex.Nur scheinbar gehören hierher viele vokalische Assimilationen wie z. B. der Umlaut in den germanischen Sprachen. Diese sind durch eine Modifikation der dazwischenstehenden Konsonanten vermittelt, also in Wahrheit keine Fernassimilationen.

Häufiger sind Dissimilationen zwischen zwei nicht aneinander angrenzenden gleichen Lauten, wobei für den einen ein nur ähnlicher Laut eintritt. Am gewöhnlichsten ist dabei die Ersetzung von r durch l und demnächst die umgekehrte, vgl. ahd. turtiltûba aus lat. turtur, murmulôn aus lat. murmurare, marmul aus lat. marmor, mhd. martel neben marter aus martyrium, prîol neben prîor, nhd. Mörtel = mhd. mörtel neben mörter aus lat. mortarium, mhd. u. anhd. körpel neben körper, anhd. erkel neben Erker, Christoffel aus Christophorus, Herbolzheim aus Herbortsheim, it. mercoledi aus Mercurii dies, vulgär balbieren = barbieren, mlat. almaria (woraus mhd. almer) aus armarium, mlat. 66 pelegrinus neben peregrinus, ahd. fluobra (Trost) gegen asächs. frôfra und ags. frófor, vulgärlat. meletrix = meretrix, Maulbeere, mhd. mûlbere aus ahd. mûrberi (lat. morum); mhd. pheller neben phellel aus lat. palliolum, lat. consularis, militaris gegen aequalis etc., lucrum, simulacrum gegen piac(u)lum, caeruleus zu caelum, griech. kephalargê's aus kephalalgê's. Andere Veränderungen: Knäuel aus älterem Kläuel (mhd. kliuwel), Knoblauch aus älterem Kloblauch (zu Kloben), Knüppel aus Klüppel (= Klöppel), it. calonaco neben canonico, Bologna (franz. Boulogne) aus Bononia, Palermo aus Panormus, Girolamo aus Hieronymus, anhd. Nollhard, Nollbruder aus Lollhard, Lollbruder, franz. niveau zu libella, vulgärlat. conuclus (Grundlage für die romanischen Sprachen) aus *coluclus (zu colus), anhd. Marbel aus marmel (Marmor), murbeln aus murmeln; Kartoffel aus Tartuffel, lat. meridies aus medidies, Fibel aus Bibel, Blachfeld = flach Feld. Meistens, aber nicht immer ist es der Konsonant in der unbetonten Silbe, der ausweicht.

Als Dissimilation kann auch der Ausfall eines Lautes betrachtet werden, wenn er dadurch veranlasst ist, dass der gleiche Laut in der Nähe steht, vgl. Köder aus Körder (ahd. querdar), fodern neben fordern, mhd. und anhd. mader = Marder, Polier (Palier) aus mhd. parlier, Hatschier neben Hartschier (aus it. arciere), maschieren in vielen deutschen Mundarten für marschieren, lat. fragare neben fragrare, praestigia zu praestringere, it. frate, prete, griech. phatría neben phratría, drúphaktos (hölzerner Verschlag) zu phrássô, ékpaglos zu pléssô, lat. laterna neben lanterna, vulgärlat. cinque, cinquaginta (Grundlage für die romanischen Sprachen) aus quinque, quinquaginta, griech. putizô zu ptúô, mhd. pherit (Pferd) aus älterem pherfrit; lateinische Perfekta wie steti, spopondi werden zunächst auf *stesti, *spospondi zurückgehen. In den meisten Fällen schwindet der Konsonant in der unbetonten Silbe. Das Zusammenwirken mit geringer Tonintensität zeigt sich besonders bei dem Ausfall eines Nasals vor Konsonant im Deutschen. Auf der schwächsten Tonstufe kann der Ausfall zwar in jeder Umgebung eintreten (vgl. mhd. helde = helende, gebe wir = geben wir), doch ist er besonders in den Fällen verallgemeinert, in denen ein anderer Nasal in der Nachbarschaft stand, vgl. mhd. künec = ahd. kuning, honec = ahd. honang, senede zu senen, nhd. Pfennig aus phenninc, Wernigerode gegen Elbingerode, Leineweber zu Leinen, Schöneberg, Schönebeck gegen Schwarzenberg (alte Dative). Auch eine ganze Silbe kann neben einer ähnlichen, mit dem gleichen Konsonanten anlautenden ausfallen, vgl. lat. semestris statt *semimestris, nutrix statt *nutritrix, stipendium statt *stipipendium, griech. hêmédimnon neben hêmimédimnon, amphoreús neben amphiphoreús, kelainephê's statt *kelainonephê's; hierher gehören auch tragikomisch statt tragikokomisch und Mineralogie statt *Mineralologie. 67

Alle diese Vorgänge fliessen jedenfalls aus der nämlichen Ursache, die so häufig Veranlassung zum Versprechen wird.Von dem reichen Materiale, das in dem angeführten Werke von Meringer und Mayer gesammelt ist, kommt wenigstens ein grosser Teil für unsere Frage in Betracht. Dass sich beim Sprechen häufig die Reihenfolge der Wörter, Silben oder Einzellaute verschiebt, indem ein Element sich zu früh ins Bewusstsein drängt, ist eine bekannte Tatsache. Es ist ferner bekannt, dass es besondere Schwierigkeiten macht ähnliche und doch verschiedene Laute rasch hintereinander korrekt auszusprechen. Hierauf beruht ja der Scherz mit Sprechkunststücken wie der Kutscher putzt den Postkutschkasten u. dgl.Weitere Beispiele bei Meringer und Mayer S. 87. Desgleichen ist es schwierig, dasselbe Element mehrmals kurz hintereinander in verschiedenen Kombinationen auszusprechen, vgl. das Sprechkunststück Fischers Fritz isst frische Fische; frische Fische isst Fischers Fritz. Dass es für gewisse Versprechungen begünstigende Bedingungen gibt, dass sie daher bei verschiedenen Personen und wiederholt auftreten, wird also nicht zu leugnen sein. Zur normalen Form können dann die Versprechungen durch die Überlieferung auf die jüngere Generation werden. Dass diese auch von sich aus bei der Nachbildung des richtig Vorgesprochenen Umbildungen in entsprechender Richtung vornimmt, dürfte sich durch Beobachtungen an der Kindersprache bestätigen. Als Beispiele von Assimilation im Kindermunde kann ich anführen Plampe für Lampe, Plappen für Lappen. Am leichtesten begreifen sich die besprochenen Vorgänge, wenn sie Fremdwörter betreffen, die dem eigenen Idiom nicht geläufige Lautfolgen enthalten. Bei diesen kommt ungenaue Perzeption und mangelhafte Einprägung hinzu. Die Erscheinungen sind daher auch nicht immer leicht von denjenigen zu trennen, die wir in Kapitel 22 als Lautsubstitution kennen lernen werden. Ebenso bedarf es in manchen Fällen der Erwägung, ob nicht Volksetymologie im Spiele ist. Neben den Fremdwörtern sind es besonders Ortsnamen, an denen diese Vorgänge häufig sind, einerseits wohl deshalb, weil die Namen von unbedeutenden Orten gewöhnlich nur innerhalb einer kleinen Verkehrsgruppe zur Anwendung kommen, bei der sich Neuerungen leichter durchsetzen als auf einem grösseren Gebiete, anderseits weil bei den Ortsnamen der Zusammenhang mit den zugrundeliegenden Appellativen geschwächt oder ganz verloren ist, weshalb analogische Wiederherstellung der alten Formen unterbleibt, vgl. Kapitel 10.

§ 46. Es bleibt uns jetzt noch die wichtige Frage zu beantworten, um die so viel gestritten ist: wie steht es um die Konsequenz 68 der Lautgesetze?Vgl. L. Tobler, Über die Anwendung des Begriffs von Gesetzen auf die Sprache (Vierteljahrschrift f. wissenschaftl. Philosophie III, S. 32ff.). Misteli, Lautgesetz und Analogie (Zschr. f. Völkerps. II, 365. 12, 1). Wundt, Über den Begriff des Gesetzes, mit Rücksicht auf die Frage der Ansnahmslosigkeit der Lautgesetze (Philosophische Studien III). Schuchardt, Über die Lautgesetze. Gegen die Junggrammatiker, Berlin 1886. Jespersen, Zur Lautgesetzfrage (Techmer III, 188). E. Wechssler, Gibt es Lautgesetze, Halle 1900 (auch in Forschungen zur romanischen Philologie. Festgabe für H. Suchier [im Anhang reichliche Literaturangaben]). E. Herzog, Streitfragen zur romanischen Philologie. Erstes Bändchen: Die Lautgesetzfrage. Halle 1904. Zunächst müssen wir uns klar machen, was wir denn überhaupt unter einem Lautgesetze verstehen. Das Wort `Gesetz' wird in sehr verschiedenem Sinne angewendet, wodurch leicht Verwirrung entsteht. In dem Sinne, wie wir in der Physik oder Chemie von Gesetzen reden, in dem Sinne, den ich im Auge gehabt habe, als ich die Gesetzeswissenschaften den Geschichtswissenschaften gegenüber stellte, ist der Begriff `Lautgesetz', nicht zu verstehen. Das Lautgesetz sagt nicht aus, was unter gewissen allgemeinen Bedingungen immer wieder eintreten muss, sondern es konstatiert nur die Gleichmässigkeit innerhalb einer Gruppe bestimmter historischer Erscheinungen.

Bei der Aufstellung von Lautgesetzen ist man immer von einer Vergleichung ausgegangen. Man hat die Verhältnisse eines Dialektes mit denen eines andern, einer älteren Entwickelungsstufe mit denen einer jüngeren verglichen. Man hat auch aus der Vergleichung der verschiedenen Verhältnisse innerhalb desselben Dialektes und derselben Zeit Lautgesetze abstrahiert. Von der letzteren Art sind die Regeln, die man auch in die praktische Grammatik aufzunehmen pflegt. So ein Satz, den ich wörtlich Krügers griechischer Grammatik entlehne: ein t-Laut vor einem andern geht regelmässig in s über; Beispiele: anusthê^nai von anútô, ereisthê^nai von ereídô, peisthê^nai von peíthô. Ich habe schon § 39 hervorgehoben, dass man sich durch derartige Regeln nicht zu der Anschauung verführen lassen darf, dass die betreffenden Lautübergänge sich immer von neuem vollziehen, indem man die eine Form aus der andern bildet. Die betreffenden Formen, die in einem derartigen Verhältnis zu einander stehen, sind entweder beide gedächtnismässig aufgenommen, oder die eine ist aus der andern nach Analogie gebildet, worüber in Kapitel V. Ich bezeichne dies Verhältnis im Folgenden auch nicht als Lautwandel, sondern als Lautwechsel. Der Lautwechsel ist nicht mit dem Lautwandel identisch, sondern er ist nur eine Nachwirkung desselben. Demgemäss dürfen wir auch den Ausdruck Lautgesetz nie auf den Lautwechsel beziehen, sondern nur auf den Lautwandel. Ein Lautgesetz kann sich zwar durch die hinterlassenen Wirkungen in den neben einander bestehenden Verhältnissen 69 einer Sprache reflektieren, aber als Lautgesetz bezieht es sich niemals auf diese, sondern immer nur auf eine in einer ganz bestimmten Periode vollzogene historische Entwickelung.

Wenn wir daher von konsequenter Wirkung der Lautgesetze reden, so kann das nur heissen, dass bei dem Lautwandel innerhalb desselben Dialektes alle einzelnen Fälle, in denen die gleichen lautlichen Bedingungen vorliegen, gleichmässig behandelt werden. Entweder muss also, wo früher einmal der gleiche Laut bestand, auch auf den späteren Entwickelungsstufen immer der gleiche Laut bleiben, oder, wo eine Spaltung in verschiedene Laute eingetreten ist, da muss eine bestimmte Ursache und zwar eine Ursache rein lautlicher Natur wie Einwirkung umgebender Laute, Akzent, Silbenstellung u. dgl. anzugeben sein, warum in dem einen Falle dieser, in dem andern jener Laut entstanden ist. Man muss dabei natürlich sämtliche Momente der Lauterzeugung in Betracht ziehen. Namentlich muss man auch das Wort nicht isoliert, sondern nach seiner Stellung innerhalb des Satzgefüges betrachten. Erst dann ist es möglich die Konsequenz in den Lautveränderungen zu erkennen.

§ 47. Es ist nach den vorangegangenen Erörterungen nicht schwer, die Notwendigkeit dieser Konsequenz darzutun, soweit es sich um den eigentlichen Lautwandel handelt, der auf einer allmählichen Verschiebung des Bewegungsgefühles beruht; genauer genommen, müssten wir allerdings sagen die Einschränkung der Abweichungen von solcher Konsequenz auf so enge Grenzen, dass unser Unterscheidungsvermögen nicht mehr ausreicht.

Dass zunächst an dem einzelnen Individuum die Entwickelung sich konsequent vollzieht, muss für jeden selbstverständlich sein, der überhaupt das Walten allgemeiner Gesetze in allem Geschehen anerkennt. Das Bewegungsgefühl bildet sich ja nicht für jedes einzelne Wort besonders, sondern überall, wo in der Rede die gleichen Elemente wiederkehren, wird ihre Erzeugung auch durch das gleiche Bewegungsgefühl geregelt. Verschiebt sich daher das Bewegungsgefühl durch das Aussprechen eines Elementes in irgend einem Worte, so ist diese Verschiebung auch massgebend für das nämliche Element in einem anderen Worte. Die Aussprache dieses Elementes in den verschiedenen Wörtern schwankt daher gerade nur so wie die in dem nämlichen Worte innerhalb derselben engen Grenzen. Schwankungen der Aussprache, die durch schnelleres oder langsameres, lauteres oder leiseres, sorgfältigeres oder nachlässigeres Sprechen veranlasst sind, werden immer dasselbe Element in gleicher Weise treffen, in was für einem Worte es auch vorkommen mag, und sie müssen sich immer in entsprechenden Abständen vom Normalen bewegen. 70

Soweit es sich um die Entwickelung an dem einzelnen Individuum handelt, ist es hauptsächlich ein Einwand, der immer gegen die Konsequenz der Lautgesetze vorgebracht wird. Man behauptet, dass das etymologische Bewusstsein, die Rücksicht auf die verwandten Formen die Wirkung eines Lautgesetzes verhindere. Wer das behauptet, muss sich zunächst klar machen, dass damit die Wirksamkeit desjenigen Faktors, der zum Lautwandel treibt, nicht verneint werden kann nur dass ein Faktor ganz anderer Natur gesetzt wird, der diesem entgegenwirkt. Es ist durchaus nicht gleichgültig, ob man annimmt, dass ein Faktor bald wirkt, bald nicht wirkt, oder ob man annimmt, dass er unter allen Umständen wirksam ist und seine Wirkung nur durch einen andern Faktor paralysiert wird. Wie lässt sich nun aber das chronologische Verhältnis in der Wirkung dieser Faktoren denken? Wirken sie beide gleichzeitig, so dass es zu gar keiner Veränderung kommt, oder wirkt der eine nach dem andern, so dass die Wirkung des letzteren immer wieder aufgehoben wird? Das erstere wäre nur unter der Voraussetzung denkbar, dass der Sprechende etwas von der drohenden Veränderung wüsste und sich im voraus davor zu hüten suchte. Dass davon keine Rede sein kann, glaube ich zur Genüge auseinandergesetzt zu haben. Gesteht man aber zu, dass die Wirkung des lautlichen Faktors zuerst sich geltend macht, dann aber durch den andern Faktor wieder aufgehoben wird, den wir als Analogie im Folgenden noch näher zu charakterisieren haben werden, so ist damit eben die Konsequenz der Lautgesetze zugegeben. Man kann vernünftigerweise höchstens noch darüber streiten, ob es die Regel ist, dass sich die Analogie schon nach dem Eintritt einer ganz geringen Differenz zwischen den etymologisch zusammenhängenden Formen geltend macht, oder ob sie sich erst wirksam zu zeigen pflegt, wenn der Riss schon klaffend geworden ist. Im Prinzip ist das kein Unterschied. Dass jedenfalls das letztere sehr häufig ist, lässt sich aus der Erfahrung erweisen, worüber weiter unten. Es liegt aber auch in der Natur der Sache dass Differenzen, die noch nicht als solche empfunden werden, auch das Gefühl für die Etymologie nicht beeinträchtigen und von diesem nicht beeinträchtigt werden.Die Ansicht, dass etymologische Verwandtschaft den Eintritt des Lautwandels verhindern könne, wird unter anderm vertreten durch H. Pipping, Zur Theorie der Analogiebildung (Mémoires de la société néophilologique à Helsingfors IV), Helsingfors 1906. Die Abhandlung ist aber durchaus nicht geeignet seine Anschauung von den sogenannten »erhaltenden Analogiebildungen« zu erweisen. Wie kann es derselben zur Stütze dienen, dass sie die notwendige Voraussetzung für missliche Hypothesen des Verfassers über schwierige Probleme der altnordischen Lautverhältnisse ist? Will man die Frage aus der Erfahrung entscheiden, so muss man sich doch an die Fälle halten, wo man die Entwickelung in Folge reichlicher Überlieferung Schritt vor Schritt verfolgen und zweifellos deuten kann. Diese aber sprechen durchaus für die Richtigkeit der entgegengesetzten Anschauung, vgl. Kapitel X. 71

Ebenso zurückzuweisen ist die Annahme, dass Rücksichten auf die Klarheit und Verständlichkeit einer Form einen Lautübergang verhinderten. Man stösst zuweilen auf Verhältnisse, die eine solche Rücksicht zu beweisen scheinen. So ist z. B. im Nhd. das mittlere e der schwachen Praeterita und Partizipia nach t und d erhalten (redete, rettete), während es sonst ausgestossen ist. Geht man aber in das sechzehnte Jahrhundert zurück, so findet man, dass bei allen Verben Doppelformigkeit besteht, einerseits zeigete neben zeigte, anderseits redte neben redete. Der Lautwandel ist also ohne Rücksicht auf Zweckmässigkeit eingetreten, und nur für die Erhaltung der Formen ist ihre grössere Zweckmässigkeit massgebend gewesen.

§ 48. Somit kann also nur noch die Frage sein, ob der Verkehr der verschiedenen Individuen unter einander die Veranlassung zu Inkonsequenzen geben kann. Denkbar wäre das nur so, dass der Einzelne gleichzeitig unter dem Einflusse von mehreren Gruppen von Personen stünde, die sich durch verschiedene Lautentwickelung deutlich von einander gesondert hätten, und dass er nun einige Wörter von dieser, andere von jener Gruppe erlernte. Das setzt aber ein durchaus exzeptionelles Verhältnis voraus. Normaler Weise gibt es innerhalb derjenigen Verkehrsgenossenschaft, innerhalb deren der Einzelne aufwächst, mit der er in sehr viel innigerem Verbande steht als mit der weiteren Umgebung, keine derartige Differenzen. Wo nicht in Folge besonderer geschichtlicher Veranlassungen grössere Gruppen von ihrem ursprünglichen Wohnsitze losgelöst und mit andern zusammengewürfelt werden, wo die Bevölkerung höchstens durch geringe Ab- und Zuzüge modifiziert, aber der Hauptmasse nach konstant bleibt, da können sich ja keine Differenzen entwickeln, die als solche perzipiert werden. Spricht A auch einen etwas anderen Laut als B an der entsprechenden Stelle, so verschmilzt doch die Perzeption des einen Lautes ebensowohl wie die des anderen mit dem Lautbilde, welches der Hörende schon in seiner Seele trägt, und es kann demselben daher auch nur das gleiche Bewegungsgefühl korrespondieren. Es ist gar nicht möglich, dass sich für zwei so geringe Differenzen zwei verschiedene Bewegungsgefühle bei dem gleichen Individuum herausbilden. Es würde in der Regel selbst dann nicht möglich sein, wenn die äussersten Extreme, die innerhalb eines kleinen Verkehrsgebietes vorkommen, das einzig Existierende wären. Würde aber auch der Hörende im stande sein den Unterschied zwischen diesen beiden zu erfassen, so würde doch die Reihe von feinen 72 Vermittelungsstufen, die er immerfort daneben hört, es ihm unmöglich machen eine Grenzlinie aufrecht zu erhalten. Mag er also auch immerhin das eine Wort häufiger und früher von Leuten hören, die nach diesem Extreme zu neigen, das andere häufiger und früher von solchen, die nach jenem Extreme zu neigen, so kann das niemals für ihn die Veranlassung werden, dass sich ihm beim Nachsprechen die Erzeugung eines Lautes in dem einen Worte nach einem andern Bewegungsgefühl regelt, als die Erzeugung eines Lautes in dem andern Worte, wenn das gleiche Individuum an beiden Stellen einen identischen Laut setzen würde.

Innerhalb des gleichen Dialekts entwickeln sich also keine Inkonsequenzen, sondern nur in Folge einer Dialektmischung oder wie wir genauer zu sagen haben werden, in Folge der Entlehnung eines Wortes aus einem fremden Dialekte. In welcher Ausdehnung und unter welchen Bedingungen eine solche eintritt, werden wir später zu untersuchen haben. Bei der Aufstellung der Lautgesetze haben wir natürlich mit dergleichen scheinbaren Inkonsequenzen nicht zu rechnen.

Kaum der Erwähnung wert sind die Versuche, die man gemacht hat, den Lautwandel aus willkürlichen Launen oder aus einem Verhören zu erklären. Ein vereinzeltes Verhören kann unmöglich bleibende Folgen für die Sprachgeschichte haben. Wenn ich ein Wort von jemand, der den gleichen Dialekt spricht wie ich, oder einen andern, der mir vollständig geläufig ist, nicht deutlich perzipiere, aber aus dem sonstigen Zusammenhange errate, was er sagen will, so ergänze ich mir das betreffende Wort nach dem Erinnerungsbilde, das ich davon in meiner Seele habe. Ist der Zusammenhang nicht ausreichend aufklärend, so werde ich vielleicht ein falsches ergänzen, oder ich werde nichts ergänzen und mich beim Nichtverstehen begnügen oder noch einmal fragen. Aber wie ich dazu kommen sollte zu meinen ein Wort von abweichendem Klange gehört zu haben und mir doch dieses Wort an Stelle des wohlbekannten unterschieben zu lassen, ist mir gänzlich unerfindlich. Einem Kinde allerdings, welches ein Wort noch niemals gehört hat, wird es leichter begegnen, dass es dasselbe mangelhaft auffasst und dann auch mangelhaft wiedergibt. Es wird aber auch das richtiger aufgefasste vielfach mangelhaft wiedergeben, weil das Bewegungsgefühl noch nicht gehörig ausgebildet ist. Seine Auffassung wie seine Wiedergabe wird sich rektifizieren, wenn es das Wort immer wieder von neuem hört, wo nicht, so wird es dasselbe vergessen. Das Verhören hat sonst mit einer gewissen Regelmässigkeit nur da statt, wo sich Leute mit einander unterhalten, die verschiedenen Dialektgebieten oder verschiedenen Sprachen angehören, und die Gestalt, in welcher Fremdwörter aufgenommen werden, ist allerdings vielfach 73 dadurch beeinflusst, mehr aber gewiss durch den Mangel eines Bewegungsgefühls für die dem eigenen Dialekte fehlenden Laute.

Abgesehen ist hierbei von den oben besprochenen geringfügigen Differenzen zwischen den einzelnen Individuen, die allerdings nie fehlen, aber im allgemeinen unbemerkt bleiben. Am ehesten kann sich ein Gegensatz zwischen älterer und jüngerer Generation bemerklich machen. Es ist vielfach behauptet worden, dass dieser Gegensatz in manchen Mundarten ein ganz schroffer sei. Doch, soweit die Beobachtung richtig ist, handelt es sich, so viel ich sehe, wieder um einen Fall von Sprachmischung. In der Regel verhält es sich so, dass die jüngere Generation stärker von der Schule beeinflusst ist und sich daher der Schriftsprache nähert. Wer den Satz vertreten will, dass eine starke Differenzierung der jüngeren Generation von der älteren durch die mundartliche Entwickelung entstehen kann, der darf dafür nur solche Abweichungen anführen, die nicht in einer Annäherung an die Schriftsprache bestehen.

§ 49. Es bleiben nun allerdings einige Arten von lautlichen Veränderungen übrig, für die sich konsequente Durchführung theoretisch nicht als notwendig erweisen lässt. Diese bilden aber einen verhältnismässig geringen Teil der gesamten Lautveränderungen, und sie lassen sich genau abgrenzen. Einerseits also gehören hierher die Fälle, in denen ein Laut vermittelst einer abweichenden Artikulation nachgeahmt wird, anderseits die § 45 besprochenen Metathesen, Assimilationen und Dissimilationen. Übrigens hat tatsächlich auch hier zum Teil vollständige Konsequenz statt, so namentlich bei der Metathesis unmittelbar auf einander folgender Laute, ferner z. B. bei der Dissimilation der Aspiraten im Griechischen (kéchuka, pépheuga) und der entsprechenden im Sanskrit und sonst.

§ 50. Aus dem vorliegenden Sprachmaterial lässt sich die Frage, wieweit die Lautgesetze als ausnahmslos zu betrachten sind, nicht unmittelbar entscheiden, weil es Sprachveränderungen gibt, die, wiewohl ihrer Natur nach vom Lautwandel gänzlich verschieden, doch entsprechende Resultate hervorbringen wie dieser. Daher ist unsere Frage aufs engste verknüpft mit der zweiten Frage: wieweit geht die Wirksamkeit dieser andern Veränderungen und wie sind sie vom Lautwandel zu sondern? Darüber weiter unten.


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