Paul, Hermann
Prinzipien der Sprachgeschichte.
Paul, Hermann

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217 Elftes Kapitel.

Bildung neuer Gruppen.

§ 148. Wenn im allgemeinen der Lautwandel die Wirkung hat Unterschiede zu erzeugen, wo früher keine vorhanden waren, so dient er doch auch nicht ganz selten dazu, vorhandene Unterschiede zu tilgen. Das ist unter Umständen ganz heilsam, meistens aber schädlich, indem auch Unterschiede, welche für die Kennzeichnung der Funktion wesentlich sind, verloren gehen und ausserdem die reinliche Sonderung der einzelnen Gruppen von einander unmöglich gemacht wird. Daher pflegt auch diese Wirkung des Lautwandels weitere Folgen zu haben und namentlich viele analogische Neubildungen hervorzurufen.

§ 149. Der einfachste hierher gehörige Vorgang ist, dass Wörter, die etymologisch gar nicht zusammenhängen und auch in ihrer Bedeutung nichts mit einander zu schaffen haben, durch sekundäre Entwickelung lautlich zusammenfallen, z. B. Enkel (talus) = mhd. enkel - Enkel (nepos) = mhd. enenkel, Garbe (manipulus) = mhd. garbe - Garbe (Schafgarbe) = mhd. garwe, Kiel (carina) = mhd. kiel - Kiel (caulis pennae) = mhd. kil, Märe (narratio) = mhd. mære - Mähre (equa) = mhd. merhe, Tor (porta) = mhd. tor - Tor (stultus) = mhd. tôre, los (solutus) = mhd. lôs - Los (sors) = mhd. lôz, Ohm (amphora) = mhd. âme - Ohm (avunculus) = Oheim, Schnur (linea) = mhd. snuor - Schnur (nurus) = mhd. snur. Massenhafte Beispiele liessen sich namentlich aus dem Englischen anführen.

Mitunter verschmelzen zwei solche Wörter trotz der Verschiedenheit ihrer Bedeutung für das Sprachgefühl in eins. Niemand wird ohne sprachgeschichtliche Kenntnisse vermuten, dass in unserem unter zwei ganz verschiedene Wörter zusammengefallen sind, das eine = lat. inter, das andere verwandt mit lat. infra. Schlingen (devorare) ist mitteldeutsche Form für älteres slinden (vgl. schlund) und hat sich vielleicht deshalb in der Schriftsprache festgesetzt, weil es mit schlingen = mhd. slingen verschmolzen ist. Bei der Wendung in die Schanze 218 schlagen denkt man kaum daran, dass man es mit einem andern Worte als dem gewöhnlichen Schanze zu tun hat; es ist = franz. chance. Über die Mischung von mhd. stat und state in nhd. Statt vgl. mein Wörterbuch. Noch beweisender sind einige Fälle, in denen formale Beeinflussung stattgefunden hat. Zwar dass der Übertritt von mahlen (mhd. maln) aus der starken in die schwache Konjugation sich unter dem Einfluss von malen (mhd. mâlen) vollzogen hat, kann man nur vermuten. Schon weniger fraglich ist es, dass der Übertritt von laden einladen (= ahd. ladôn) in die starke Konjugation durch laden aufladen (ahd. hladan) veranlasst ist; umgekehrt kommen von letzterem auch schwache Formen vor, z. B. überladete bei Less., ladest, ladet auch jetzt. Sicher ist, dass ein starkes er befährt bei Jean Paul zu dem sonst schwachen befahren = mhd. vâren durch Verwechselung mit dem starken befahren (mhd. varn) veranlasst ist. In Österreich verwechselt man kennen und können, man sagt z. B.: der Schauspieler hat seine Rolle nicht gekannt. In dem letzten Falle sind zwar etymologisch verwandte, aber doch wesentlich verschiedene Wörter konfundiert. Im Mhd. existieren zwei etymologisch verschiedene Partikeln wan, die eine adversativ, die andere begründend = nhd. denn. Die letztere hat eine vollere Nebenform wande zur Seite. Diese wird nun zuweilen auch in adversativem Sinne angewendet, wo sie von Hause aus nicht berechtigt ist (vgl. Mhd. Wb. III, 479b). Im Ahd. sind die Präpositionen int- und in in der Komposition mit einem Verbum vielfach in die Form in- zusammengeflossen, indem das t durch Assimilation in den folgenden Konsonanten aufgegangen ist. Die Doppelheit int- - in- ist dann auch auf solche Fälle übergegangen, in denen in zu Grunde liegt, vgl. nhd. entbrennen, entzünden etc. Unser zerhatte früher eine Nebenform ze- (zer- vor Vokal, ze- vor Konsonant entwickelt). Diese war lautidentisch mit der ihrem Ursprunge nach ganz verschiedenen Präposition ze zu. Neben diese tratt im Mhd. die Adverbialform zuo, nhd. zu, welche allmählich die Form ze ganz verdrängt hat. Dies zu finden wir nun auch für ze- = zer-, z. B. bei Luther. Entsprechend ist ags. - in der Bedeutung von zer- zu erklären. Lat. præstare ist in dem Sinne »leisten« eine Ableitung aus *præstus (erhalten nur in dem Adv. præsto) und sollte daher regelmässig flektiert werden; das Perf. præstiti beweisst die Vermischung mit præ-stare »voranstehen«.

§ 150. Durch zufälliges partielles Gleichwerden der Lautgestaltung treten unverwandte Wörter zu stofflichen Gruppen zusammen. Es ist dies die einfachste Art der sogenannten Volksetymologie,Vgl. Förstemann, Zschr. f. vgl. Sprachwissenschaft 1, 1. Andresen, Über deutsche Volksetymologie, 6. Aufl., Heilbronn 1899. Palmer, Folk Etymology, a Dictionary of Verbal Corruptions of Words Perverted in Form or Meaning by False Derivation or Mistaken Analogy, London 1882. K. Nyrop, Sprogets vilde skud, Kopenhagen 1882. A. Noreen, Nordisk tidskrift 1882, S. 612. 1887, S. 554 und Spridda Studier, Stockholm 1895. Nyrop und Gaidoz, L'étymologie populaire et le folk-lore (Melusine IV, 505, dazu mehrere kleinere Nachträge in Bd. V) Wundt I, 459. Kjederqvist, Lautlich-begriffliche Wortassimilationen (Beitr. z. Gesch. der deutschen Sprache 27, 409). Thurneysen IF 31, 279. die 219 sich lediglich auf eine Umdeutung durch das Sprachgefühl beschränkt, ohne dass dadurch die Lautform eine Veränderung erleidet. Vorbedingung dafür ist, dass die wahre Etymologie des einen Wortes verdunkelt ist, so dass es keine andere, berechtigtere Anknüpfung hat.

Solchen Umdeutungen unterliegen am häufigsten die Glieder eines Kompositums. So wird erwähnen als eine Zusammensetzung mit wähnen = mhd. wænen gefasst, während es vielmehr das mittelhochdeutsche (ge)wehenen enthält; bei Freitag denkt man an das Adj. frei. Am meisten sind Eigennamen der Umdeutung ausgesetzt, vgl. Reinwald, Bärwald, Braunwald, in denen der zweite Bestandteil ursprünglich nicht = silva ist, sondern nomen agentis zu walten; Glaub-recht, Lieb-recht, die ursprünglich vielmehr Komposita mit brecht = ahd. beraht sind; Sauerlant, verhochdeutscht aus Sûerland = Süderland. Hier ist die Umdeutung erfolgt, ohne dass sie von Anfang an durch eine Verwandtschaft der Bedeutung unterstützt worden wäre. Es wirkt bloss die natürliche Erwartung, in einem Worte, welches seiner Lautgestalt nach den Eindruck eines Kompositums macht, auch bekannte Elemente zu finden.

Eigennamen widerstreben einer solchen lediglich an den Laut sich haltenden sekundären Beziehung am wenigsten, weil bei ihnen zwar keine Übereinstimmung, aber auch kein Widerspruch der Bedeutungen möglich ist. Es gibt aber auch Fälle, in denen es möglich wird zwischen den Bedeutungen der betreffenden Wörter eine Beziehung herzustellen; vgl. mhd. endekrist, lautlich entwickelt aus antikrist; nhd. Lanzknecht aus Landes Knecht; Wahnwitz, Wahnsinn, wahnschaffen an Wahn (= mhd. wân) angelehnt, während mhd. wan leer, nichtig zu Grunde liegt; Friedhof aus mhd. frîthof; Vormund zu Mund Schutz; verweisen, nicht zu weisen (= mhd. wîsen) gehörig, sondern aus mhd. verwîzen. Umringen ist, wie noch die schwache Flexion zeigt, seinem Ursprunge nach kein Kompositum von ringen, sondern eine Ableitung aus dem untergegangenen mhd. úmberinc. Aber die Betonung umríngen beweist, dass es zu einem Kompositum aus um und ringen umgedeutet ist. Eine weitere Konsequenz der Umdeutung ist dann gewesen, dass man ein Part. umrungen und selbst ein Prät. umrang gebildet hat, vgl. meine Deutsche Gramm. III 183, Anm. 4. Auch Wörter, die keine 220 Komposita sind, aber wegen ihrer volleren Lautgestalt den Eindruck von solchen machen, werden auf diese Weise zu wirklichen Kompositis gestempelt; vgl. Leumund als Leutemund gefasst, aber Ableitung aus got. hliuma (Ohr); weissagen, schon mhd. wîssagen = ahd. wîzagôn, Ableitung aus wîzago der Wissende, Prophet; trübselig, armselig etc., Ableitungen aus Trübsal etc., -sal Ableitungssuffix.

Seltener ist es, dass ein Wort als Ableitung von einem andern gefasst wird, mit dem es ursprünglich nichts zu schaffen hat. Nhd. Sucht wird vom Sprachgefühl als zu suchen gehörig empfunden, ist aber hervorgegangen aus mhd. suht (= got. sauhts), das mit mhd. suochen (got. sôkjan) nichts zu schaffen hat. Die neuhochdeutsche Anlehnung an suchen ist ausgegangen von Kompositis wie Wassersucht, Mondsucht, Gelbsucht, Schwindsucht, Eifersucht, Sehnsucht, Ehrsucht etc., die man als Begierde nach dem Wasser, nach dem Monde, gelb zu werden, zu eifern etc. auffasste. H. Sachs fasst -sucht noch als Krankheit, wenn er sagt wann er hat auch die Eifersucht. Vgl. dagegen den bekannten Spruch Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Laube hat mit Laub, wozu es jetzt gezogen wird, nichts zu schaffen, da die Grundbedeutung »gedeckter Gang« ist. Laute wird als zu Laut gehörig empfunden, ist aber ein aus dem Arabischen stammendes Lehnwort. Bei hantieren aus franz. hanter denkt man an Hand, bei fallieren aus franz. faillir an fallen, bei beschwichtigen, niederdeutscher Form zu mhd. swiften, an schweigen, bei schmälen (eigentlich schmal, klein machen) an schmähen. Herrschaft, herrlich, herrschen sind aus hehr abgeleitet (daher mhd. hêrschaft etc.), werden aber jetzt auf Herr bezogen, womit sie ursprünglich nur indirekt verwandt sind.

§ 151. Von den besprochenen Erscheinungen zu sondern ist die kompliziertere Art der Volksetymologie. Diese besteht in einer lautlichen Umformung, wodurch ein Wort, welches durch zufällige Klangähnlichkeit an ein anderes erinnert, diesem weiter angeglichen wird. Eine solche Umformung kann absichtlich gemacht werden mit dem Bewusstsein, dass man sich eine Veränderung der richtigen Form gestattet. Derartiger Verdrehungen bedienen sich manche humoristische Schriftsteller, in ausgedehntestem Masse Fischart. Manche pflanzen sich als traditionelle Witze fort, besonders in der Studentensprache. Diese absichtlich witzige Umformung bietet dem Sprachforscher kein Problem. Sie geht ihn nur insofern an, als sie von dem naiven Sinne der Kinder und der Ungebildeten nicht als Verdrehung erkannt, sondern als die eigentliche Form aufgenommen und weiter verbreitet wird. Es gibt aber zweifellos auch eine absichtslose und unbewusste Umformung, die sich als solche durch die Abwesenheit jedes Witzes zu 221 erkennen gibt.Noch ist darauf aufmerksam zu machen, dass dieselbe nicht mit der in Kap. 22 zu besprechenden Lautsubstitution verwechselt werden darf. Die Wirkungen beider Vorgänge sind nicht immer scharf auseinanderzuhalten. Derselben unterliegen Fremdwörter, Eigennamen und andere Wörter, deren Etymologie verdunkelt ist, und zwar fast nur Komposita oder solche Wörter, die vermöge ihrer volleren Lautgestalt den Eindruck von Kompositis machen. Hierbei unterliegt entweder nur das erste Element einer Veränderung, vgl. Jubeljahr (ebräisch jobel), Dienstag, Huldreich aus mhd. Uolrîch, Maulwurf aus mhd. moltwurf, lat. aurichalcum aus griech. oreíchalkos; oder nur das zweite, vgl. hagestolz, Reinhold, Gotthold, Weinhold etc. aus -olt = walt,Das h ist allerdings wohl kaum je gesprochen worden, und dann liegt nur Umdeutung vor, die in der Orthographie ihren Ausdruck gefunden hat. abspannen aus mhd. spanen (locken), abstreifen aus mhd. ströufen,Dabei kommt aber auch der mundartliche Übergang von eu in ei in Betracht. Einöde aus mhd. einoete (-oete Suffix); oder beide, vgl. Armbrust aus lat. arcubalista, Liebstöckel aus lat. ligusticum, Felleisen aus franz. valise, Ehrenhold aus Herolt, Pultbrett (von 16. bis 18. Jahrh. üblich) aus Pulpet (lat. pulpitum), griech. sunédrion aus ebräisch sanhedrin. Der eine Bestandteil ist umgeformt, der andere nur umgedeutet in Abseite, früher apside aus griech. ápsis; Küssnacht aus Cussiniacum; wahrscheinlich auch in Mailand aus mhd. Mîlân. Wie schon aus diesen wenigen Beispielen ersichtlich ist, kann die Angleichung dadurch unterstützt sein, dass sich die Bedeutung des umgeformten Wortes zu der seines Musters in Beziehung bringen liess, aber sie bedarf solcher Unterstützung nicht notwendig. Für die Erklärung des Vorganges werden wir zunächst zu berücksichtigen haben, dass man ganz gewöhnlich die Worte und Sätze, die man hört, ihren Lautbestandteilen nach nicht vollkommen exakt perzipiert, sondern teilweise errät, gewöhnlich durch den nach dem Zusammenhange erwarteten Sinn unterstützt. Dabei rät man natürlich auf Lautkomplexe, die einem schon geläufig sind, und so kann sich gleich beim ersten Hören statt eines für sich sinnlosen Teiles eines grösseren Wortes ein ähnlich klingendes übliches Wort unterschieben. Ferner aber haftet ein Wortteil, der sonst gar keinen Anhalt in der Sprache hat, auch wenn er richtig perzipiert ist, schlecht im Gedächtnis, und es kann sich daher doch bei dem Versuche der Reproduktion ein als selbständiges Wort geläufiges Element unterschieben. Und wenn erst einmal, sei es beim Hören oder beim Sprechen, eine solche Unterschiebung stattgefunden hat, so hat das Untergeschobene vor dem Echten den Vorteil, dass es sich besser dem Gedächtnis einprägt. Es ist ganz natürlich, dass sich dieser Vorgang im allgemeinen auf längere Worte beschränkt. Denn kürzere sind 222 leichter zu perzipieren und leichter zu behalten. Ausserdem aber ist man es gewohnt, dass eine Anzahl einfacher Wörter isoliert da stehen, wenigstens nur mit den allgemein geläufigen und beliebig bildbaren Ableitungen gruppiert, während man von einem Worte, welches den Eindruck eines Kompositums macht, auch erwartet, dass die einzelnen Elemente an einfache Wörter anknüpfbar sind.

§ 152. Die Tendenz, isoliert stehende und darum fremdartige Wörter an geläufige Sprachelemente anzuknüpfen zeigt sich auch darin, dass dieselben häufig gestützt werden durch Zusammensetzung mit einer allgemeinen Gattungsbezeichnung, worauf sie dann in selbständigem Gebrauche untergehen, vgl. Maultier (einfaches Maul aus lat. mulus veraltet), Elentier (bis ins 17. Jahrh. noch einfaches Elend), Renntier (aus schwed. ren), Tigertier, Pantertier (beide früher häufig), Walfisch (mhd. wal), Dambock, -hirsch (mhd. tâme), Windhund (mhd. wint), Auerochse (mhd. ûr), Schermaus (mhd. scher), Bilchmaus (mhd. bilch), Turteltaube (aus lat. turtur), Lindwurm (mhd. auch linttrache, wofür ahd. noch einfaches lint belegt ist), Mohrrübe (neben Möhre), Kichererbse (mhd. kicher), Weichselkirsche (mhd. wîhsel, auch nhd. noch Weichsel), Salweide (mhd. salhe), Farnkraut (mhd. farn), Pfriemkraut (ahd. phrimma), Bilsenkraut (neben Bilse, ahd. bilisa) Lorbaum, -beer (aus lat. laurus), Buchsbaum (landschaftl. noch Buchs), Mastbaum (neben Mast), Kometstern (im 17. Jahrh. gewöhnlich, noch bei Hebel), Pöbelvolk (bei Lu. u. a.), Kebsweib (mhd. kebese), Schwiegermutter (mhd. swiger), Schwähervater (landschaftl., anhd. Schwäher), Wittfrau (landschaftl.), Waisenkind, Waisenknabe (volkstümlich), Quaderstein, Tuffstein, Bimsstein (bis ins 17. Jahrh. Bims = mhd. bümez aus lat. pumex), Marmorstein (s. DWb). Bei vielen ist dabei volksetymologische Umdeutung des ersten Bestandteils eingetreten. Man vergl. dazu auch die Adjektiva quittfrei, -ledig, -los, purlauter (Belege DWb).

Solche Zusammensetzungen können unter Umständen auch den Vorteil gewähren, dass nach ihrem Muster andere gebildet werden können, die dann ev. wieder einfache, isoliert dastehende Wörter verdrängen. So sind nach Schwiegermutter gebildet Schwiegervater, -sohn, -tochter an Stelle der jetzt veralteten Schwäher, Eidam, Schnur. Ähnlich wird schon in einer früheren Periode die Reihe Stiefvater, -mutter, -sohn, -tochter, -kind entstanden sein; im Anord. besteht noch einfaches stjúpr = Stiefsohn.

§ 153. Viel durchgreifender als auf dem stofflichen wirkt der lautliche Zusammenfall auf dem formalen Gebiete. Wir scheiden die hierher gehörigen Vorgänge zunächst in zwei Hauptgruppen, nämlich je nachdem Formen zusammenfallen, die funktionell gleich, oder solche, die funktionell verschieden sind. 223

Die Aufhebung lautlicher Verschiedenheiten bei funktioneller Gleichheit kann sehr wohltätig wirken, weil sie die Bildung der formalen Gruppen vereinfacht. Mitunter wird dadurch nur die im vorigen Kapitel besprochene lautliche Differenzierung wieder aufgehoben. So fallen z. B. die auf gleicher Grundlage beruhenden althochdeutschen Bildungssilben -ul, -al, -il im Mhd. in -el zusammen, ebenso -un, -an, -in in -en etc. Zwecklos sind aber auch solche Unterschiede wie die doppelte Bildung des Komparativs und Superlativs im Ahd. -iro, -ist - -ôro, -ôst oder die beiden synonymen Weisen der Adjektivbildung auf -ag und -îg,Abzusehen ist von dem vereinzelten Falle einag - einîg, wo eine Verschiedenheit der Bedeutung vorliegt. und es ist daher nur ein Vorteil, wenn wir jetzt nur -er, -[e]st und -ig haben. Auch der Zusammenfall zweier ganzer Flexionsklassen wie der althochdeutschen Verba auf -ôn und -ên in mhd. -en ist nur eine zweckmässige Vereinfachung.

Aber nicht immer geht lautlicher Zusammenfall so gleichmässig durch ganze Systeme von stofflich-formalen Proportionen hindurch. Meistens trifft er nur einen Teil der unter einander zusammenhängenden Formen. Dann trägt er nicht zur Vereinfachung, häufig aber zur Verwirrung der Verhältnisse bei.

a) Der lautliche Zusammenfall geht zwar durch sämtliche Formen eines Flexionssystemes hindurch, er trifft aber in der einen Flexionsklasse oder in mehreren nur einen Teil der Wörter, die ursprünglich dazu gehören. Während, wie wir eben gesehen haben, von den drei althochdeutschen Klassen der schwachen Verba im Mhd. zwei ganz zusammengefallen sind, haben sich ihnen von der dritten Klasse (got. auf -jan) nur die kurzsilbigen vollständig angeschlossen, die langsilbigen bleiben noch unterschieden durch die alte Synkope des Mittelvokals im Prät. und Part. Perf. und eventuell durch den Rückumlaut, vgl. manete, lebete, wenete aus manôta, lebêta, wenita zu manen, leben, wenen neben neicte, brante zu neigen, brennen. Die althochdeutsche i-Deklination ist mit der o-Deklination in Bezug auf die Endungen vollständig zusammengefallen, in Bezug auf die Gestalt des Stammes im Plur. aber nur, wenn der Wurzelvokal nicht umlautsfähig ist. Es ist also hier mit dem Zusammenfall immer eine Spaltung verbunden, respektive eine Spaltung dem Zusammenfall vorangegangen.

b) Der Zusammenfall geht zwar durch alle Wörter mehrerer Flexionsklassen hindurch, aber nicht durch alle Formen des Flexionssystems. Dieser Fall ist sehr häufig. So ist die zweite lateinische Deklination mit der vierten nur im Nom. und Akk. Sing. zusammengefallen; ebenso die o- und i-Deklination im Gotischen (fisks, fisk - gasts, gast). 224

c) Der Zusammenfall trifft nur einen Teil der Wörter mehrerer Flexionsklassen und nur einen Teil der Formen des Flexionssystems. So ist im Ahd. der Nom. und Akk. der langsilbigen und mehrsilbigen i-, u- und o-Stämme zusammengefallen, während diese Kasus bei den kurzsilbigen verschieden geblieben sind, vgl. gast, wald, arm aus *gasti(z), *waldu(z), *armo(z) gegen wini, sunu und wenigstens vorauszusetzendes *goto oder *gota.

§ 154. Wo der Fall a eingetreten ist, da ist der Zusammenfall wie die Trennung der Flexionsklassen eine definitive, wogegen keine Reaktion möglich ist. Die bleibende Folge ist eine Verschiebung in den Machtverhältnissen der betreffenden Gruppen, indem ja die eine einen Zuwachs auf Kosten der andern erhält. Fall b und c dagegen erzeugen eine Verwirrung in den Gruppierungsverhältnissen. Wo einmal verschiedene lautliche Modifikationen für die nämliche Funktion angewendet werden, da ist es am zweckmässigsten, wenn die lautliche Verschiedenheit durch alle Formen eines Systems hindurchgeht, so dass sich die einzelnen Flexionsklassen reinlich voneinander sondern lassen, dass man es jeder einzelnen Form ansieht, welcher Klasse sie angehört. Sind nun in zwei Klassen einige Formen übereinstimmend, einige abweichend, so wird ein Wort auf Grund der übereinstimmenden Formen leicht falsch eingeordnet und es treten an Stelle der traditionellen Formen der einen Klasse Analogiebildungen, die der andern angehören. Aus dem Schwanken und der Verwirrung, die dadurch entsteht, kann sich dann die Sprache allmählich wieder zu einfacheren und festeren Verhältnissen durcharbeiten.

Beispiele stehen massenhaft zur Verfügung. Ich verweise insbesondere auf die gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Deklinationsklassen des Indogermanischen in den Einzelsprachen, die fast immer die Folge des lautlichen Zusammenfalls in mehreren Kasus, namentlich im Nom. und Akk. Sg. gewesen ist. Meistens haben die so zusammenfallenden Klassen schon früher einmal eine völlig oder überwiegend identische Bildungsweise gehabt, und diese ursprüngliche Identität ist erst durch sekundäre Lautentwickelung verdunkelt worden, gegen die eine sofortige Reaktion deshalb nicht möglich gewesen ist, weil die Differenzierung eine zu sehr durchgehende war. So ist z. B. die Einheit der indogermanischen Deklination hauptsächlich vernichtet durch die unter dem Einflusse des Akzentes eingetretene Vokalspaltung und die Kontraktion des Stammauslauts mit der eigentlichen Flexionsendung. Dies waren so durchgreifende Wandlungen, dass es erst vieler weiterer Veränderungen und namentlich Abschwächungen bedurfte, um das Getrennte auf einer ganz andern Grundlage teilweise wieder zu vereinigen. 225

Das Resultat bei dieser Art Ausgleichung ist in der Regel, dass Wörter aus der einen Bildungsklasse in die andere übertreten, und zwar entweder alle oder nur einige, entweder in allen Formen oder nur in einigen. Für das letztere mag Folgendes als Beispiel dienen. Im Gotischen sind die Maskulina der i-Deklination im Sg. in die a-Deklination übergetreten wegen des lautlichen Zusammenfalls im Nom. und Akk., ähnlich im Ahd. Der Plur. bleibt aber in beiden Dialekten noch verschieden flektiert. Dass die Ausgleichung zunächst bei diesem Punkte stehen bleibt, ist eine Folge des nie fehlenden Mitwirkens der etymologischen Gruppierung, und es bestätigt sich in sofern dadurch wieder der Satz: je enger der Verband, je leichter die Beeinflussung.

Es ist entweder nur die eine Gruppe aktiv, während die andere sich mit einer passiven Rolle begnügt, oder es sind beide Gruppen zugleich aktiv und passiv. Im Nhd. sind eine Menge schwacher Maskulina in die Flexion der starken auf -en übergetreten, von denen sie sich schon im Mhd. nur durch den Nom. und Gen. Sg. unterschieden, vgl. Bogen (= mhd. boge), Garten, Kragen, Schaden etc. Es gibt aber auch einige Fälle, in denen umgekehrt ein Maskulinum auf n in die schwache Flexion übergetreten ist: Heide (= mhd. heiden), Krist(e) (= mhd. kristen), Rabe (= mhd. raben).

Tritt eine solche gegenseitige Beeinflussung zweier Gruppen an den nämlichen Wörtern hervor, so kann es geschehen, dass nach längeren Schwankungen sich eine ganz neue Flexionsweise herausbildet. So ist durch Kontamination der beiden eben besprochenen Klassen eine Mischklasse erwachsen: der Glaube - des Glaubens, der Gedanke - des Gedankens etc. Die Entstehung dieser Mischklasse erklärt sich einfach, wenn wir bemerken, dass einmal im Nom. wie im Gen. Doppelformen bestanden haben: der Glaube - der Glauben, des Glauben - des Glaubens. Es hat sich dann in der Schriftsprache der Nom. der einen, der Gen. der andern Klasse festgesetzt. So ist ferner aus der gegenseitigen Beeinflussung der schwachen Maskulina mit abgeworfenem Endvokal und der starken eine Mischklasse entstanden, die den Sing. stark und den Plur. schwach flektiert: Schmerz, -es, -e - Schmerzen. Entsprechend bei den Neutris: Bett, -es, -e - Betten. Das am weitesten greifende Beispiel der Art im Nhd. ist die regelmässige Flexion der Feminina auf -e, die zusammengeschmolzen ist aus der alten a-Deklination und der n-Deklination (der schwachen). Im Mhd. flektiert man noch:

Sg.
N. vröude zunge
G. vröude zungen
D. vröude zungen
A. vröude zungen
Pl.
N. vröude zungen
G. vröuden zungen
D. vröuden zungen
A. vröude zungen.

Im Nhd. heisst es durch den ganzen Sg. hindurch Freude, Zunge, durch den ganzen Pl. hindurch Freuden, Zungen. Wieder ein charakteristisches Beispiel einer zweckmässigen Umgestaltung, die ohne Bewusstsein eines Zweckes erfolgt ist. Die grössere Zweckmässigkeit der neuhochdeutschen Verhältnisse beruht nicht bloss darauf, dass das Gedächtnis ganz erheblich entlastet ist; es sind auch die beiden allein vorhandenen Endungen in der angemessensten Weise verteilt. Die Unterscheidung der Numeri ist deshalb viel wichtiger als die Unterscheidung der Kasus, weil die letzteren noch durch den in den meisten Fällen beigefügten Artikel charakterisiert werden. Im Mhd. kann die vröude und die zungen Akk. Sg. und Nom. Akk. Pl. sein, der zungen Gen. Sg. und Pl. Diese Unsicherheiten sind jetzt nicht mehr möglich, dagegen ist nur die Unterscheidung zwischen Nom. und Akk. Sg. bei Zunge aufgehoben. Sehen wir aber, wie sich die Verhältnisse entwickelt haben, so finden wir als Vorstufe ein allgemeines Übergreifen jeder von beiden Klassen in das Gebiet der andern, welches sich ganz natürlich ergeben musste, nachdem einmal in drei Formen (Nom. Sg., Gen. und Dat. Pl.) lautlicher Zusammenfall eingetreten war. So hatte sich ein Zustand ergeben, dass die meisten Formen sowohl auf -e als auf -en auslauten konnten. Es ist dabei keine einzige Form mit Rücksicht auf einen Zweck gebildet, sondern nur für Erhaltung oder Untergang der einzelnen Formen ist ihre Zweckmässigkeit entscheidend gewesen.

Gegenseitige Beeinflussung zweier Gruppen setzt immer voraus, dass das Kräfteverhältnis kein zu ungleiches ist. Denn andernfalls wird die Beeinflussung einseitig werden, auch durchgreifender und rascher zum Ziele führend. Es sind natürlich immer diejenigen Klassen besonders gefährdet, die nicht durch zahlreiche Exemplare vertreten sind, falls diese nicht durch besondere Häufigkeit geschützt sind. Der geringe Umfang gewisser Klassen andern gegenüber kann von Anfang an vorhanden gewesen sein, indem überhaupt nicht mehr Wörter in der betreffenden Weise gebildet sind, meistens aber ist er erst eine Folge der sekundären Entwickelung. Entweder sterben viele ursprünglich in die Klasse gehörigen Wörter aus, wobei namentlich der Fall in Betracht kommt, dass eine ursprünglich lebende Bildungsweise abstirbt und nur in einigen häufig gebrauchten Exemplaren sich usuell weiter vererbt. Oder die Klasse spaltet sich durch lautliche Differenzierung in mehrere Unterabteilungen, die, indem nicht sogleich dagegen reagiert 227 wird, den Zusammenhalt verlieren. Möglichste Zerstückelung der einen ist daher mitunter das beste Mittel um zwei verschiedene Bildungsweisen schliesslich miteinander zu vereinigen. Beobachtungen nach dieser Seite hin lassen sich z. B. an der Geschichte des allmählichen Untergangs der konsonantischen und der u-Deklination im Deutschen machen.

Hat einmal eine Klasse eine entschiedene Überlegenheit über eine oder mehrere andere gewonnen, mit welchen sie einige Berührungspunkte hat, so sind die letzteren unfehlbar dem Untergange geweiht. Nur besondere Häufigkeit kann einigen Wörtern Kraft genug verleihen sich dem sonst übergewaltigen Einflusse auf lange Zeit zu entziehen. Diese existieren dann in ihrer Vereinzelung als Anomala weiter.

§ 155. Jede Sprache ist unaufhörlich damit beschäftigt alle unnützen Ungleichmässigkeiten zu beseitigen, für das funktionell Gleiche auch den gleichen lautlichen Ausdruck zu schaffen. Nicht allen gelingt es damit gleich gut. Wir finden die einzelnen Sprachen und die einzelnen Entwickelungsstufen dieser Sprachen in sehr verschiedenem Abstande von diesem Ziele. Aber auch diejenige darunter, die sich ihm am meisten nähert, bleibt noch weit genug davon. Trotz allen Umgestaltungen, die auf dieses Ziel losarbeiten, bleibt es ewig unerreichbar.

Die Ursachen dieser Unerreichbarkeit ergeben sich leicht aus den vorangegangenen Erörterungen. Erstens bleiben die auf irgend welche Weise isolierten Formen und Wörter von der Normalisierung unberührt. Es bleibt z. B. ein nach älterer Weise gebildeter Kasus als Adverbium oder als Glied eines Kompositums, oder ein nach älterer Weise gebildetes Partizipium als reine Nominalform. Das tut allerdings der Gleichmässigkeit der wirklich lebendigen Bildungsweisen keinen Abbruch. Zweitens aber ist es ganz vom Zufall abhängig, ob eine teilweise Tilgung der Klassenunterschiede auf lautlichem Wege, die so vielfach die Vorbedingung für die gänzliche Ausgleichung ist, eintritt oder nicht. Drittens ist die Widerstandsfähigkeit der einzelnen gleicher Bildungsweise folgenden Wörter eine sehr verschiedene nach dem Grade der Stärke, mit dem sie dem Gedächtnisse eingeprägt sind, weshalb denn in der Regel gerade die notwendigsten Elemente der täglichen Rede als Anomalieen übrig bleiben. Viertens ist auch die unentbehrliche Übergewalt einer einzelnen Klasse immer erst Resultat zufällig zusammentreffender Umstände. So lange sie nicht besteht, können die einzelnen Wörter bald nach dieser, bald nach jener Seite gerissen werden, und so kann gerade durch das Wirken der Analogie erst recht eine chaotische Verwirrung hervorgerufen werden, bis eben das Übermass derselben zur Heilung der Übelstände führt. Bei so vielen 228 erschwerenden Umständen ist es natürlich, dass der Prozess auch im günstigsten Falle so langsam geht, dass, bevor er nur annähernd zum Abschluss gekommen ist, schon wieder neu entstandene Lautdifferenzen der Ausgleichung harren. Dieselbe ewige Wandelbarkeit der Laute, welche als Anstoss zum Ausgleichungswerke unentbehrlich ist, wird auch die Zerstörerin des von ihr angeregten Werkes, bevor es vollendet ist.

Wir können uns das an den Deklinationsverhältnissen der neuhochdeutschen Schriftsprache veranschaulichen. Im Fem. sind die drei Hauptklassen des Mhd., die alte i-, a- und n-Deklination auf zwei reduziert, vgl. § 154. Da nun auch die Reste der konsonantischen und der u-Deklination (vgl. z. B. mhd. hant, Pl. hende, hande, handen, hende) sich allmählich in die i-Klasse eingefügt haben, so hätten wir zwei einfache und leicht von einander zu sondernde Schemata: 1. Sg. ohne -e, Pl. mit -e und eventuell mit Umlaut (Bank - Bänke, Finsternis - Finsternisse), 2. Sg. mit -e, Pl. -en (Zunge - Zungen). In diese Schemata aber fügen sich zunächst nicht ganz die mehrsilbigen Stämme auf -er und -el (Mutter - Mütter, Achsel - Achseln), die nach allgemeiner schon mittelhochdeutscher Regel durchgängig das e eingebüsst haben (wo es überhaupt vorhanden war). Diese würden noch wenig störend sein. Aber es haben auch sonst viele Feminina das auslautende -e im Sg. eingebüsst, sämtliche mehrsilbige Stämme auf -inn und -ung und viele einsilbige, wie Frau, Huld, Kost etc. = mhd. frouwe, hulde, koste etc. Der Gang der Entwickelung bei den letzteren ist wahrscheinlich der gewesen, dass ursprünglich bei allen zweisilbigen Femininis auf -e Doppelformen entstanden sind je nach der verschiedenen Stellung im Satzgefüge, und dass dann die darauf eingetretene Ausgleichung verschiedenes Resultat gehabt hat. Ausserdem kommt dabei der Kampf des Oberdeutschen und des Mitteldeutschen um die Herrschaft in der Schriftsprache in Betracht. Wie dem auch sei, jedenfalls ist eine neue Spaltung da: Zunge - Zungen, aber Frau - Frauen. Und gleichzeitig ist es wieder vorbei mit der klaren Unterscheidbarkeit der beiden Hauptklassen. Frau stimmt im Sg. zu Bank, im Pl. zu Zunge. Diese neue Verwirrung war nun allerdings förderlich für die weitere Ausgleichung. Die Berührung zwischen der Formation Frau mit der Formation Bank hat zur Folge gehabt, dass eine grosse Menge von Wörtern, ja die Mehrzahl aus der ersteren in die letztere hinübergezogen sind, vgl. Burg (Pl. Burgen mhd. bürge), Flut, Welt, Tugend etc., sämtliche Wörter auf -heit, -keit, -schaft. Auf diesem Wege hätte sich eine einheitliche Pluralbildung erlangen lassen, auf -en (n), und nur im Sg. wäre noch die Verschiedenheit von Wörtern mit und ohne e geblieben. Aber die Bewegung ist eben nicht zu Ende gediehen, 229 und erhebliche Reste der alten i-Deklination stehen störend im Wege.

Ganz ähnliche Beobachtungen lassen sich am Maskulinum und Neutrum machen, nur dass bei diesen noch mehr verwirrende Umstände zusammentreffen. Auch hier wären die Verhältnisse darauf angelegt gewesen, eine reinliche Scheidung in der Flexion zwischen den Substantiven ohne -e und denen mit -e im Nom. Sg. herauszubilden (Arm - Arme, Wort - Worte, aber Funke - Funken, Auge - Augen), wenn nicht wieder die Abwerfung des -e in einem Teile der Wörter dazwischen gekommen wäre (Mensch - Menschen, Herz - Herzen).

§ 156. Der lautliche Zusammenfall funktionell verschiedener Formen vollzieht sich innerhalb der etymologischen Gruppen. So wird im Ahd. der Übergang von auslautendem unbetonten m zu n die Veranlassung zum Zusammenfall der sekundären Endung für die 1. und 3. Pl.: in den älteren Quellen gâbum - gâbun, gâbîm - gâbîn, in den jüngeren für beide Personen gâbun, gâbîn. In ausgedehntestem Masse ist solcher Zusammenfall veranlasst durch die Abschwächung der vollen Endvokale des Ahd. zu gleichförmigem e. So steht mhd. tage = ahd. tage (Dat. Sg.) - taga (Nom. Pl.) - tago (Gen. Pl.); mhd. hanen = ahd. hanin (Gen. Dat. Sg.) - hanun (Akk. Sg., Nom. und Akk. Pl.) - hanôno (Gen. Pl.) - hanôm (Dat. Pl.), und in den althochdeutschen Formen liegt zum Teil bereits ein Zusammenfall früher verschiedener Formen vor. Der Zusammenfall geht nicht immer durch eine ganze Flexionsklasse hindurch, er braucht nur einen Teil der ursprünglich hineingehörigen Wörter zu treffen; vgl. z. B. Tag - Tage - Tagen mit Sessel - Sessel - Sesseln, Winter - Winter - Wintern und Wagen - Wagen - Wagen. Seltener als bei Flexionsformen ist der Zusammenfall bei Ableitungen aus der gleichen Grundlage. Da solche Ableitungen schon für sich ein ganzes System von Formen bilden können, so kann der Zusammenfall nach zwiefacher Richtung hin ein partieller sein. Es kann einerseits aus mehreren ursprünglich lautlich verschiedenen Wortklassen nur ein Teil der Wörter zusammenfallen. So können im Ahd. aus jedem Adj. zwei schwache Verba abgeleitet werden, ein intransitives auf -ên und ein transitives auf -en (= got. -jan). Im Mhd. fallen beide Klassen in den Endungen alle zusammen, in der Gestalt der Wurzelsilbe aber nur zum Teil, weil die meisten durch das Vorhandensein oder Fehlen des Umlautes geschieden bleiben, vgl. einerseits leiden aus leidên = unangenehm werden und leiden aus leiden = unangenehm machen, rîchen reich werden und reich machen, niuwen neu werden und neu machen; anderseits armen arm werden - ermen arm machen, swâren schwer werden - swæren schwer machen. Es 230 braucht anderseits der lautliche Zusammenfall sich nicht auf sämtliche Formen zweier verwandter Wörter zu erstrecken. In nhd. schmelzen sind zwei im Mhd. durchaus verschiedene Wörter zusammengefallen, smëlzen (mit offenem e), stark und intransitiv, und smelzen (mit geschlossenem e), schwach und transitiv. Der Zusammenfall erstreckt sich aber nur auf die Formen des Präs., und auch von diesen sind die 2. 3. Sing. Ind. und 2. Sg. Imp. ausgeschlossen: schmilzt, schmilz - schmelzt, schmelze.

§ 157. Der lautliche Zusammenfall funktionell verschiedener Formen hat nun öfters weitere Konsequenzen. Eine solche Konsequenz ist die, dass man sich an die lautliche Gleichheit so sehr gewöhnt, dass man sie auch auf Fälle überträgt, in denen sie durch die Lautentwickelung noch nicht herbeigeführt ist. Im ahd. Verbum ist durch Übergang des auslautenden m in n die 1. Plur. der 3. Plur. gleich geworden (gâbun aus gâbum - gâbun) mit Ausnahme des Ind. Präs., wo die Verschiedenheit noch in die mittelhochdeutsche Zeit hinübergenommen wird: geben - gebent. Diese Verschiedenheit wird zuerst im Md., dann auch im Oberd., wie schon oben bemerkt ist, durch Angleichung der 3. Pl. an die 3. Pl. des Prät. und des Konj. beseitigt. Es kann sein, dass dabei auch die Gewöhnung an die Übereinstimmung der 1. und 3. Pl. mitgewirkt hat. Sicher Wirkung dieser Gewöhnung ist es, wenn im Alemannischen seit dem 14. Jahrhundert Formen auf -ent auch für die 1. Pl. gebraucht werden. Die Ausgleichung zwischen 1. und 3. Pl. liegt auch in der jetzigen Schriftsprache vor in sind = mhd. sîn - sint; im Obersächsischen lautet umgekehrt auch die 3. Pl. sein. Ein anderes Beispiel liefert uns die Ausgleichung zwischen Nom. und Akk. im Deutschen. Im Urgermanischen waren beide Kasus beim Mask. und Fem. meistens noch verschieden. Gleichheit bestand wahrscheinlich nur im Plur. der weiblichen a-Stämme (got. gibôs, anord. gjafar). Im Ahd. ist wie in den übrigen westgermanischen Dialekten der Nom. Sg. der o-, i- und u-Stämme und der konsonantischen mit Ausnahme der sogenannten schwachen Deklination durch Abfall des auslautenden s dem Akk. gleich geworden (fisc, balg, sunu, man = got. fisks - fisk, balgs - balg, sunus - sunu und anord. fiskr - fisk, belgr - belg, sonr - son, maðr - mann); ferner ist lautlicher Zusammenfall eingetreten im Nom. Akk. Pl. der schwachen Deklination (hanun, zungûn, urgerm. wahrscheinlich *hanoniz - *hanonz). Dadurch ist die Veranlassung zu einer weiteren Ausgleichung gegeben. Die Form des Nom. Pl. der o-, i- und u-Stämme und der konsonantischen ist in den Akk. gedrungen und so dieselbe Übereinstimmung wie im Sg. hergestellt: taga, balgi (belgi), suni = got. dagôs - dagans, balgeis - balgins, sunjus - sununs, und anord. dagar - daga, belgir - belgi, 231 synir - sunu (sonu). Die nach den Lautgesetzen im Ahd. zu erwartenden Formen des Akk. wären *tagun, *balgin, *sunun. Bei den konsonantischen Stämmen ist auch im Got. und Anord. Ausgleichung eingetreten; urgerm. wäre anzusetzen *manniz - *mannunz = ahd. man - *mannun, welche letztere Form durch die erstere verdrängt ist. Auch bei dem Adj. und dem geschlechtlichen Pron. ist die Nominativform in den Akk. gedrungen blinte (a), die (dia) = got. blindai - blindans, þai - þans. Bei den weiblichen a-Stämmen hat umgekehrt die lautliche Gleichheit beider Kasus im Pl. eine Ausgleichung im Sg. herbeigezogen. Es wurden zunächst beide Formen, die des Nom. und die des Akk. promiscue gebraucht, dann setzte sich im allgemeinen die Akkusativform fest, während die Nominativform auf bestimmte Fälle beschränkt wurde und mehr und mehr ganz verschwand. Während das Angelsächsische unterscheidet ziefu - ziefe, âr - âre, haben wir im Ahd. nur die Akkusativformen geba und êra und nebeneinander als Nom. und Akk. halba und halb, wîsa und wîs etc. Im Nhd. ist weiter im Fem. des schwachen Adjektivums die Akkusativform durch die Nominativform verdrängt: lange = mhd. lange - langen; ferner die weibliche Nominativform des Artikels durch die Akkusativform: die = mhd. diu - die; schon im mhd. Nom. siu durch Akk. sie. Im Rheinfränkischen und Alemanischen findet man endlich auch die Nominativform des Artikels der akkusativisch verwendet.

Tritt in einer Sprache Zusammenfall der ursprünglich lautlich verschiedenen Kasusformen in sehr ausgedehntem Masse ein, so kann das Veranlassung dazu werden, dass die vom Zusammenfall verschonten Reste ganz oder grösstenteils getilgt werden, wie dies im Englischen und in den romanischen Sprachen geschehen ist. Es entstehen so wieder reine Stammformen, wie sie vor der Kasusbildung bestanden, die man mit Unrecht als Nominativ oder Akkusativ bezeichnet.

§ 158. Durch partiellen Zusammenfall der Formen verwandter Wörter wird das Gefühl für die Verschiedenheit dieser Wörter abgestumpft, und es mischen sich daher leicht auch die nicht zusammengefallenen Formen untereinander. Der oben berührte partielle Zusammenfall von mhd. smëlzen und smelzen hat die Folge gehabt, dass die starken Formen schmilzt, schmolz, geschmolzen auch transitiv verwendet sind; die schwachen sind jetzt fast ganz ausser Gebrauch gekommen. Ebenso sind die schwachen Formen von verderben, denen ursprünglich allein transitive Bedeutung zukam, durch die ursprünglich nur intransitiven starken zurückgedrängt und können jetzt nur noch im moralischen Sinne gebraucht werden. Bei quellen, schwellen, löschen ist in der gegenwärtig als korrekt geltenden Sprache der Unterschied 232 gewahrt; aber von löschen kommen zuweilen schwache Formen in intransitiver Bedeutung vor, z. B. es löscht das Licht der Sterne (Schi.); bei quellen und schwellen findet sich Vermischung nach beiden Richtungen, z. B. dem das frischeste Leben entquellt (Goe.) - gleichwie ein Born sein Wasser quillt (Lu.); schwelle, Brust (Goe.); die Haare schwellten (Tieck) - die Ehrsucht schwillt die Brust (Günther), was ist, das mit Sehnsucht den Busen dir schwillt (Z. Werner), Seifenblasen, die mein Hauch geschwollen (Chamisso).


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