Balder Olden
Madumas Vater
Balder Olden

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Mucius Scaevola

Wie leicht wäre es gewesen, den Vater in's Vertrauen zu ziehn – dann würde er selbst eine Safari ausrüsten und an ihrer Spitze gehn, den verschollenen Freund zu suchen.

Oder er würde Boten hinaus senden, Boten um Boten mit Brief und Gruß:

»Wir sind wieder im Land, Gregorius! Du hast nichts mehr zu fürchten – Deutsche dürfen wieder in Ostafrika siedeln, arbeiten, sich begraben lassen.«

Aber sein Eid band Rudis Zunge – in keines Weißen Ohr durfte die Kunde fallen, daß Bwana Raffiki lebte, vor sechs Jahren wenigstens noch gelebt hatte. Ein Geheimnis, das die Neger in ihrer Treue sechs Jahre lang gehütet hatten, – wie dürfte er es preisgeben! 80

Selbst handeln, freilich: das durfte und mußte er! Selbst hinausziehn, den Onkel ausforschen, ihn im Triumph nach Boloti führen!

Als er es in Hannover der Mutter versprochen hatte, war er noch ein Kind, ein europäischer Schuljunge.

Jetzt aber war er Afrikaner, der sich als Mann fühlte. Er wollte marschieren und bis an's Ende seiner Tage marschieren oder siegreich nachhause kommen.

Das konnte eine Safari von vielen Tagen, von Wochen und Monaten werden, zu der man vieles benötigte. Eine echte Patrouille, wie sie im Krieg der Vater, Onkel Gregorius gegangen waren und all die tapferen, frohen Männer, von denen so viele begraben lagen. Zu Pferd oder zu Fuß, zahllose Meilen . . . Rudi kannte alle Bücher, die später darüber geschrieben worden, kannte jeden Tag und jede Not aus den Patrouillenjahren seines Vaters. Er wußte, wie man sich im Pori zurecht findet, wie man eine Patrouille ausrüstet, das später keine Nadel und kein Salzkorn fehlt. Nur das Wichtigste, das ganz Unentbehrliche nahm man mit, nach strengem Plan verpackt und geschnürt, in Lasten verteilt – im Lager wie auf dem Marsch mußte jedes Ding pedantisch an seiner Stelle sein. 81

Die Kinder hatten alles besprochen, arbeiteten Hand in Hand nach hundertfach erprobtem Muster. Von jedem Stück Wild, das Rudi in die Küche lieferte, wurden lange Streifen Fleisch geschnitten, gesalzen und in der Sonne getrocknet. Es war in dieser Regenzeit keine leichte Aufgabe, diesen eisernen Bestand, Bittong, zu bereiten. Aber Muhmadi und Maduma waren ja beinahe frei von anderen Pflichten.

»Später einmal wird der Vater uns loben!« verhieß Rudi und wies seine Untergebenen an, täglich und unermüdlich zu stehlen, zu hamstern, was an Reiseproviant erreichbar wurde.

»Wenn der Bwana Heiliges Buch uns erwischt, gibt's sehr viel Wichse,« prophezeite Muhmadi, als er das erstemal zwei Büchsen kondensierte Milch in das herrlich gegrabene Kellerloch rollen ließ, während Rudi einen Strumpf voll Salz aus der Hosentasche zog und Maduma eine Schürze voll Patronen den Büchsen nachwarf. Muhmadi rieb sich ahnungsvoll die Keulen.

»Wenn er's bemerkt, will ich die Hiebe haben!« gab Maduma stolz zurück. »Du sollst Prügel kriegen – was geht dich mein Vater an?«

»Still, ihr Zwei!« kommandierte Rudi, daß Maduma und Muhmadi erschraken. »Wer ist der 82 Herr unter uns? Wer ist der Befehlshaber? Wenn der Vater uns erwischt, bin ich ganz allein der Dieb gewesen, und nur ich bekomme die Hiebe!«

Dem stolzen Rudi war eine Auseinandersetzung mit seinem Vater viel näher, als er dachte.

Mit Ingrimm prüfte Dr. Schukrin, was er lernte, mit Gram sah er seine Hefte durch.

»Dem bekommt Afrika nicht, Mutter . . . er wird faul und verkommt hier. Er muß nach Europa zurück.«

»Mein Gott . . . Unser einziges Kind so weit von uns? Tu's nicht, Vater, denk an die teure Reise, das teure Leben in Hannover! Es muß auch so gehn.«

»Ich kann's auch gar nicht, in diesem Jahr noch nicht. Wo nehm ich das Geld her? Aber so geht's nicht weiter!«

»Wenn du dich mehr um ihn kümmern würdest? Ach, ich weiß, dein Tag hat auch nur vierundzwanzig Stunden. Red ihm einmal ins Gewissen!«

»Ins Gewissen reden sollte ich ihm, im stillen Wald irgendwo, daß er drei Tage lang nicht sitzen kann!« Später lag die hohe Mamma fast auf den Knien vor Rudi:

»Ist es nicht eine Schande, wenn der Vater dich großen Jungen durchprügeln muß?« 83

Sie weinte und war gerührt, als Rudi in ihrem Arm mit weinte und versprach:

»Ihr sollt noch stolz auf mich sein!«

»Ein Kind, das noch so weinen kann, ist nicht schlecht!«

Sie glaubte, daß Rudi aus Angst und Reue seine Tränen vergoß. Er aber vergoß nur Tränen der Rührung über sein eignes Märtyrertum.

Wenn die Stunde solcher Prüfung kam, wollte er denken:

»Armer Vater, du wirst dich einmal schämen!« und keinen Ton von sich geben, bis alles vorbei war. Wie hatte Mucius Scaevola gesprochen, als er seine Hand in die glühenden Kohlen hielt?

»Sieh her, wie wenig der den Schmerz fürchtet, der hohen Ruhm vor Augen hat!«

Ganz so wollte er zu sich sprechen, an den Ruhm denken, Onkel Gregorius für sein Kind gerettet zu haben.

Im übrigen dachte Dr. Schukrin bald nicht mehr daran, seine Drohung wahr zu machen. Viel zu fest hoffte er, daß Rudi von selbst zur Pflicht zurück fand – im Anfang hatte er vielleicht übereifrig studiert, um sich Afrikas würdig zu zeigen. Jetzt kam die Rückwirkung. Vielleicht wäre es gut, ihm jetzt Weihnachtsferien zu gönnen, erst zu Beginn des nächsten Jahres andere Saiten aufzuziehn? 84

Während der Regenzeit stockten die Zufuhren aus Aruscha. Darauf hatte Dr. Schukrin gewartet, um seine Duka ganz instandzusetzen. Regale liefen die Wände hinauf, alle voll lockender Ware. Bücher wurden angelegt, Bestellung und Lieferung verglichen, Kosten geprüft, Preiszettel an die Waren geheftet – es war eine ganz neue, ganz besonders mühselige Arbeit. Herr Schukrin, der vor sechs Monaten erst in Doktorexamen geschwitzt hatte, der Theologe und Naturwissenschaftler, Jäger, Pflanzer und rauher Reiter gewesen, Viehhalter und Forscher, Lehrer und Arzt – war alles, alles, nur nicht Kaufmann.

Wenn die Regenzeit vorbei, die Duka eingerichtet und in Gang war, gab's in der jungen Pflanzung wenig zu tun. Der Haushalt lief bis dahin mühelos – dann sollten Unterricht und Vaterpflichten an die Reihe kommen.

Daß Rudi ein wenig »verbuschnegert« war, hatte doch einen unschätzbaren Gewinn gebracht: Maduma! Maduma war noch immer ein strenges, verschlossenes Kind – sie schien abwartend und wollte sich nicht ganz ergeben. Aber sie trug ein Kleidchen, aß bei Tisch mit Löffel und Gabel, sie erstarrte nicht mehr zur Unnahbarkeit, wenn man ihr Haar streichelte und ihre meerschaumbraunen Wangen. Sie lachte 85 manchmal fast glücklich, wenn Rudi etwas Kluges sprach oder siegreich von der Jagd heimkam. Manchmal sogar gebrauchte sie deutsche Worte! So tief Rudi vielleicht unter die Schwarzen gesunken war, so hoch hatte er Maduma aus ihren Hütten emporgehoben. Die schlimmste Sorge hatte doch er von den Herzen seiner Eltern genommen.

Seltsam – aber ungefährlich und vielleicht einmal nützlich – war der Morseeifer aller drei Kinder. Sobald die Sonne schien, standen sie an ihren Spiegeln, schrieben sich immer längere Briefe in kurz-kurz, lang-lang, unterhielten sich bei Tisch oder durch die Wände der Hütte in Klopfzeichen. Beim Essen sogar, in Gegenwart der Eltern, trommelten sie sich, die Finger auf dem Kistendeckel, der als Tischplatte diente, Rede und Gegenrede zu, viel zu schnell, als daß Vater Schukrin hätte folgen können. So hatte er die Morsekunst nie beherrscht wie diese drei Meister!

»Es ist gewiß ein hübsches Spiel, Kinder. Aber sehr höflich ist es nicht, sich geheim zu unterhalten, wenn man beisammen ist.«

»Verzeih, Papa, aber wir wollen es lernen wie eure Signaljungens im Krieg. Die haben auch von früh bis abends geübt, das hast du mir selbst erzählt.«

»In Gottes Namen bleibt dabei, bis ihr's satt habt!« 86

»Bis Onkel Gregorius hier unter uns sitzt!« telegraphierte Rudi seiner Mitverschworenen zu.

Und von draußen – denn bei Tisch erschien er nicht gern, obwohl er freundlich eingeladen wurde – trommelte Muhmadi auf einen Blecheimer:

»Ich hab dem Pastor Schukrin zwei Liter Mais gebracht.«

Das Maultier Pastor Schukrin lebte jetzt auch von gestohlenem Gut, dies ehrliche Maultier, auf seine alten Tage! Es wurde für die Safari gemästet, kaute Körner von früh bis spät und zeigte unter seinem fast wieder glänzenden Fell neu wachsende Muskeln.

Pastor Schukrin war ja Hauptperson bei dem nahen, schon ganz vorbereiteten, großen Unternehmen! Sein Tragsattel war gerüstet; links Zelttuch, Decken, Patronen, der Helioapparat, Buschmesser, Kochgeschirr, rechts Lasten von Bittong, Milchdosen und Butterdosen, gedörrtem Gemüse, Wassersäcken, Mehl, Hefe und Kleidern.

»Die Regen sind vorbei, Bwana Rudi! Wann gibst du uns Befehl zum Marsch?«

Maduma hatte sich mit Wickelgamaschen, Khakihemd und Hosen, Stiefeln sogar, für die Reife durch Steppe, Dorn- und Sansivierenbusch vorbereitet. 87

»Wann?«

»Du bleibst auf Posten am Helioapparat, Maduma!«

»Ich – hier bleiben!«

In Stiefeln und Hosen schien Maduma kein richtiges Mädchen mehr. Sie sah wie ein winzig kleiner Reitersmann aus und war bestimmt gefährlich. Jetzt stürzte sie sich, nicht wie ein Mann mit Waffen oder Fäusten, aber mit gezückten Nägeln auf Rudi! Die zitternden Hände vor seinem Gesicht, kratzte sie aber nicht, sondern fiel plötzlich in die Knie vor ihm und wand sich in Verzweiflung.

»Ich darf nicht mit zu meinem Papa?«

Es ging nicht – auf Posten mußte einer bleiben, um Nachricht zu geben, Nachrichten aufzunehmen, den Eltern zu erklären, was sie wissen durften. Da war Maduma besser am Platz, Muhmadi aber besser an der Spitze. Er schoß ja fast so gut wie Rudi, kochte besser als Maduma, las Spuren besser als sie beide – und war ein Mann!

 

»Die Kinder haben sich gezankt« glaubten Vater und Mutter, denn Madumas Gesicht war plötzlich verändert. Viele vergossene Tränen hatten es gezeichnet, vergeblich gestammelte Bitten hatten es hart gemacht.

Fiel sie in den feindseligen Trotz zurück? 88

Eines Tages aber schaute Rudi in den Himmel, lang und witternd:

»Nun wird es nicht mehr regnen, Vater?«

Bei diesen Worten sprang aus Madumas Augen wieder die helle Flamme der Bewunderung!

Sie hatten sich wohl gezankt, aber es war sichtbar vorbei. 89

 


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