Alexander Moszkowski
Ernste und heitere Paradoxe
Alexander Moszkowski

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Das Alterswunder.

Vor wenigen Jahren richtete ein bedeutender Skandinavier an alle Geistesarbeiter über fünfzig Jahren die Mahnung: Verschwindet! Die Schaffenskraft sollte bei dieser Altersgrenze beschlossen liegen, darüber hinaus sei nichts zu erwarten, und es wäre besser, den Jungen restlos Platz zu machen, als sich mit aussichtslosen Versuchen in die höheren Jahrzehnte hinüberzuquälen.

Als diese Mahnung erging, war eine Erörterung für und gegen noch möglich. Der Krieg hat diese Möglichkeit getilgt. Ein neuer Glanz wob sich um die Häupter der alten Herren, ein neues Pantheon öffnete sich den Sechzigern und Siebzigern. Ihnen war es vorbehalten, sich auf den Steintafeln der Geschichte zu verewigen, und auf diesen treffen sie sich mit zahllosen anderen Alterswundern, die allesamt bezeugen, daß Schaffenskraft und Tat an keine Altersgrenze gebunden sind, nicht nach oben noch nach unten.

Jener Ruf nach Verzicht, der so scharf zwischen Rüstigkeit und Leistungsfähigkeit unterschied, stützte sich auf eine einseitige Statistik aus dem Leben großer Männer. Sie mußte einseitig sein, da sie den Kreis der Betrachtung nur eng umschrieb und darin Merkpunkte erfaßte, die in ihrer Vereinigung eine gültige Regel nicht ergeben können. Wenn bei einem Forscher der stärkste Genieblitz in jungen Jahren hervorzuckt, so folgt daraus keineswegs ein Abflauen seiner Genialität für einen weiteren Weg; er bleibt vielmehr so groß wie sein Gesamtwerk. Jener Genieblitz zeigt nur das erste thematische Forte einer Lebenspartitur: es mag überraschender, einschneidender klingen, als die spätere Durchführung, aber es darf nicht herausgelöst werden zur Beurteilung der Begabung nach Takten.

In solcher Ablösung mag allerdings darauf hingewiesen werden, daß Newton seine großen Entdeckungen sämtlich vor seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr fertig hatte, daß die Chemiker Scheele und Berzelius ihre Hauptarbeiten, die Physiologen Ludwig, Brücke, Du Bois-Reymond ihre Reformen, daß Carnot, Robert Mayer, Joule, Clausius, Helmholtz ihre wichtigsten Gedanken auf der Grenze zwischen Jünglings- und Mannesalter schufen oder veröffentlichten. Die Forschungen des Linné, Abel, Vesalius (denen man unter den Phänomenen der Neuzeit Einstein und Minkowski angliedern könnte), vereinigen sich mit den Frühschöpfungen Goethes und Schillers, um die Lehre Wilhelm Ostwalds zu stützen, daß der Höchstwert der Leistung fast ausnahmslos vor dem dreißigsten Lebensjahr liegt.

Ob nicht Ostwald selbst mit seiner eigenen Leistung als Gegenbeweis auftreten könnte? Und neben ihm die lange Liste der Männer, denen ihr Großes und Größtes in höheren und höchsten Lebenszonen gelang? Wo anfangen und wo aufhören! Unter den Künstlern melden sich im ersten Anlauf Michelangelo, Perugino, Tizian, Tintoretto, Velasquez, Murillo, Haydn, der Goethe des Faust gegen den Goethe des Werther, der Verdi des Falstaff gegen den Verdi des Ernani; vor ihnen und neben ihnen: Euripides, Milton, Haendel, Wagner, Meyerbeer, Liszt; unter den Erkennern, Erforschern und Systembildnern: Kolumbus, Kopernikus, Galilei, Euler, Buffon, Laplace, Lamarck, A. von Humboldt, v. Baer, Berthelot, Pasteur, W. Dove, Ranke, Mommsen, Weierstraß, Haeckel; als Zeugen gewaltiger Altersleistung aus allen Jahrhunderten treten auf: Confucius, Archimedes, Erasmus, Hobbes, Bacon, Cervantes, Voltaire, Fontenelle, Herschel, Kant, Hegel, Herbert Spencer, Fechner, Wundt, Ernst Mach, – – Bismarck, Moltke. Und wieviele sind unter ihnen von echtem Zedernwuchs des Alters, der organisch sich so sehr vom raschen Spargeltrieb des Jungtalentes unterscheidet!

Aber auch der Gegenpol der herrlichen Altersblüte verdient eine Betrachtung, und hier ist es, wie allbekannt, vornehmlich die Musik, deren Gehege dem Zeitwunder üppigsten Nährboden bietet. Im Felde der Tonkunst, wo der Trieb, der Instinkt vorwaltet und die Gattungserfahrung oft wirksamer durchschlägt als das persönlich Erworbene, tritt die Frühreife fast als Regel auf, und man sollte eigentlich nur noch über diejenigen staunen, die sich immer wieder wundern. In Legionen sind sie vor uns vorübergewandelt, die phänomenalen Knirpse, die Dengremont, Josef Hofmann, Koczalsky, Argiewicz, Hubermann, Becsey, Heifez, Erich Korngold, die doch gar nicht aus dem natürlichen Ablauf der Dinge herausfielen, sondern bestenfalles die Stammesgeschichte ihres Faches wiederholten: Haendels Wunderkindlichkeit offenbarte sich im achten Lebensjahre und trieb bald darauf kompositorische Früchte von unabsehbarer Anzahl. Cherubinis erste Messe war das Werk eines noch nicht Dreizehnjährigen, Mozarts früheste Kompositionen, vom Vater notiert und noch heute erhalten, stellen einen Rekord dar, denn Wolfgang zählte damals noch nicht soviel Lenze im Dasein, als Finger an einer Hand. Doppelt so alt, nämlich zehnjährig, war Beethoven bei seinen ersten Sonaten, Méhul, da er seine Meisterschaft als Orgelspieler bewies, und Hummel, als er seine Konzertreisen antrat. Der Schwan von Pesaro begann mit dem Schaffen eher als mit dem Lernen; eine namenlos hinausflatternde Oper hatte an vielen Orten Erfolg, ohne daß ihr Publikum von ihrem Verfasser, dem zwölfjährigen Rossini, Kenntnis erhalten hätte. Felix Mendelssohn, Meyerbeer, Franz Liszt, Max Bruch, Joachim, Sarasate, Anton Rubinstein, Clara Schumann, Wilhelmine Normann-Neruda waren Wunderkinder; und wieviele man ihrer auch nennen mag, die Liste der Gefeierten, die früh anfingen, wird nie zu erschöpfen sein. Die Dogmatik unterscheidet zwischen Wundern »contra naturam« und »extra naturam«; aber auf diesem Parnaßgipfel gelten vorwiegend die Wunder »secundum naturam«, die in zahllosen Einzelfällen das zur natürlichen Regel erheben, was im gewöhnlichen Konzertbetrieb als Ausnahme um Beifall buhlt.

Weit zurückhaltender äußert sich die Statistik über die Jugendwunder auf den Gebieten der Wissenschaft, des Schrifttums, der Technik. Die Statistik? Sie harrt noch des Sonderforschers, der sie aufstellt, und ich fürchte, sie wird nicht weit über das knappe Register ragen, das hier aufgerollt werden möge:

Pascal fand als Knabe die Elemente der Euklid'schen Geometrie; die Holzdiele der Kinderstube und ein Stück Kreide ersetzten ihm Anleitung und Lehrmeister, und so schöpfte er die Lehrsätze mit ihren Beweisen aus der Tiefe seines Gemütes. Als Siebzehnjähriger schrieb er eine Abhandlung über die Kegelschnitte; und man darf wohl allgemeines Einverständnis darüber voraussetzen, daß solches Alter bei einem Mathematiker als ebenso mirakulös anzusetzen ist, wie acht Jahre bei einem Musiker.

Gauß entzündete sich zur Leuchte der Menschheit, als er noch die Schulbank drückte. Einen Teil der Untersuchungen aus seinem berühmten späteren Werk »Disquisitiones arithmeticae« hatte er in Wolkenhöhe über seinem Pensum schon als Pennäler aufgezeichnet. Noch stürmischer äußerte sich frühreifer Scharfsinn in einem von der Berliner Akademie 1734 veröffentlichten Aufsatz: sein Verfasser war Alexis Clairaut, damals zwölfjährig, dem bald darauf von der Akademie in Paris das Zeugnis des »Wunders« ausgestellt wurde. Clairaut entstammte mit zahlreichen Geschwistern einer Mathematiker-Familie, einem Seitenstück der noch berühmteren Dynastie Bernoulli, und hier wie dort zeigte sich, daß die Erblichkeit ein frühes Hervorbrechen des Talentes begünstigt.

Die dichtenden Frühwunder sind selten; wenn man nämlich nur diejenigen anerkennt, deren Namen in der Literatur einen Nachhall erwirkt hat. Pope begann mit zwölf, Victor Hugo mit vierzehn, Thomas Chatterton gar mit zehn Jahren. Dessen Denkmal in Bristol gilt wirklich einem Dichterknaben, der, siebzehnjährig, ein bedeutendes Lebenswerk durch Selbstmord abschloß.

Die Chronisten melden etliche seltsame Jugendwunder, die zwar durch gute Gewährsmänner beglaubigt werden, aber trotzdem lebhaften Zweifeln begegnen müssen. Das sogenannte »Lübecker Wunderkind« ist in die Literatur übergegangen. Sein Lehrer, Christian von Schöneich, hat ihm eine Schrift gewidmet, und in Jean Pauls Werken liegt es eingekapselt und versteinert wie die Fliege im Bernstein. Dem kleinen Lübecker, Christian Heinrich Heineke, geboren 1721, wird bescheinigt, daß er schon im 15. Monat Weltgeschichte zu studieren begann; daß er bald darauf die lateinische und französische Sprache verstanden, Kenntnisse von der Theologie und Anatomie gehabt, Witz wie Scharfsinn bewiesen habe, und von Weisheit und Ammenmilch schwer vor Vollendung des fünften Lebensjahres in die Gefilde der Seligen entwichen sei. Sein Altersgenosse Bavatiers, 1721 zu Schwabach geboren, erwarb sich unter ähnlichen Anzeichen überstürzter Gelehrsamkeit den Titel des fränkischen Wunderkindes. Zu den erfreulichen Erscheinungen können beide nicht gezählt werden, ebensowenig wie die rechnenden Wunderknaben, von denen sich nicht ein einziger über das Kuriosum hinaus zur wirklichen Leistung entwickelt hat. In dem zehnjährigen Rechenkünstler Frank, der vor einem Menschenalter Deutschland bereiste, ist vielleicht ein Genie verpfuscht worden; er arbeitete nach selbständigen Methoden, die über die Tricks der Jahrmarktsbuden hinaus- und in die ernsthafte Zahlentheorie hineinragten; aber ihm fehlte der Tropfen Gauß'schen Blutes, der im Wunderkind fließen muß, wenn ein Wundermann draus werden soll. Ganz abseits steht H. Potter, der als Kind der Erfinder der selbsttätigen Steuerung an der Dampfmaschine wurde. Bei ihm hatte die Langeweile einförmiger Handgriffe einen vereinzelten Genieblitz ausgelöst. An einem einzigen Tage seines Lebens ist Potter Wundermensch gewesen, nie vorher, nie nachher; aber dieser einzige durchleuchtete Augenblick hat geschichtliche Geltung behalten.

Zwischen den Polen der Jung- und Altwunder besteht eine Spannung, die sich vielleicht in ganz einfacher Weise lösen läßt: man braucht sich nur zu entschließen, die Leistung als unabhängig vom Zeitablauf anzusehen. Die Statistik ist hier immer dem zu Willen, der ihr schon mit der Fragestellung eine bestimmte Antwort in den Mund legt. Nicht dem Alter noch der Jugend werden Wunder abgetrotzt; sie erscheinen vielmehr, ohne die Stufen zu zählen, ohne sich zu einem Gesetz zu verdichten, wunderbarer in der Jugend, wundervoller im Alter.


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