Alexander Moszkowski
Ernste und heitere Paradoxe
Alexander Moszkowski

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Die siebente Ernte.

An der sanftgeneigten Böschung des Hügels, nahe dem Dorfe, saßen zwei Männer, dem Anschein nach Genossen unserer Zeit. Wer aber in ihr Inneres geblickt hätte, der würde entdeckt haben: hier ist Seelenwanderung! Diese beiden waren schon früher einmal über die Erde geschritten, und, obschon sie als lebendige Kraftgestalten ganz zu uns gehörten, bewahrten sie doch die Erinnerung an ihre eigene weitentlegene Vorzeit. Als persönliches Erlebnis trugen sie in sich, was uns durch Goethes Dichtung vertraut wurde, diese beiden: der Doktor Faust und sein Famulus Wagner.

Und so ist es mein Wille, sagte Faust, dort anzuknüpfen, wo ich einstmals aufhörte. Damals fand ich der Weisheit letzten Schluß: daß der Mensch nur für den Menschen da ist, und daß nur, wenn er für die Menschen wirkt und arbeitet, seinem Streben ein echtes Glück erwachsen kann. Damals hatte ich angefangen, Land dem Meere abzugewinnen und es durch meiner Hände Schaffen urbar zu machen . . .

– Jawohl, ergänzte Wagner, so hat's ja auch Goethe im zweiten Teil des Faust getreu geschrieben.

– Und nun rüste ich mich zur ersten Aussaat. Weißt du, was das heißt?

– Selbstverständlich, Magister. Man sät, die Keime gehen auf, und dann erntet man. Das ist doch höchst einfach.

– Es ist noch ein Geheimnis dabei, das du gar nicht kennst. Ein staunenswertes Geheimnis, eine Unglaublichkeit, und trotzdem wahr wie der Tag, den wir erleben. Bist du bereit, mir beizustehen als werktätiger Ackersmann, so will ich dir dieses Geheimnis enthüllen. Und erst dann wirst du erkennen, an welchem Zauber wir teilnehmen, wenn wir Landarbeit verrichten.

– Ihr macht mich neugierig, Doktor! Neugieriger noch als damals, da ich euch gestand: zwar weiß ich viel, doch möcht' ich alles wissen!

Faust griff in die Tasche seines Gewandes und holte ein unscheinbares Etwas daraus hervor: Kennst du das?

– Aber gewiß doch! Das ist ja ein Getreidekorn.

– Und was wird sich daraus entwickeln? Sagen wir einmal: in sieben Jahren etwa?

– In sieben Jahren? Das ist doch nicht allzulang. Also Halme werden sich daraus entwickeln, ein ganzes Bündel Halme.

– Wieviel wohl, besten Falles?

– Nun, wenn's hoch kommt, ein ganzer Wagen voll; bedenkt doch, Magister, aus einem einzigen Korn!

– Gewiß, Wagner, der Anfang ist gering, und es kommt ja bei weitem nicht alles zur Reife, was reifen soll und könnte. Aber nehmen wir einmal an, es wäre so und es käme wirklich alles zur Entfaltung, was der Grundwille der Natur in den Keimling gesteckt hat. Dann wirst du mit deinem Wagen nicht ausreichen. Überlegen wir einmal: ein Maisstengel trägt zum Beispiel bis zweitausend, eine Sonnenblumenpflanze bis viertausend, eine Gerstenpflanze bis siebentausend Samen. Ein achthundertfacher Ertrag in der Nachfolge ist schon wirklich erzielt worden, und den verbesserten Methoden der Zukunft kann die Verdoppelung solchen Ertrages gelingen. So weit wollen wir indes gar nicht gehen, wir rechnen vielmehr im Durchschnitt tausend, also fürs zweite Jahr tausend mal tausend, und so fort sieben Jahre lang. Das ergibt: tausend Trillionen Körner, verständlicher ausgedrückt: tausend Milliarden von Milliarden.

– Das scheint ziemlich viel zu sein.

– Und noch etwas mehr als man vermutet. Du darfst ruhig an einen Ozean denken, und an die Tropfen, die er enthält. Sinnfälliger wird es, wenn du dir ein Binnengewässer vorstellst von der Größe des ganzen deutschen Reiches. Bei durchschnittlich zwanzig Meter Tiefe kämen wir da auf zehn Trillionen Wassertropfen. Dieser See, verhundertfacht, würde also etwa zum Maß dienen können. Aber wir wollen lieber auf dem festen Lande bleiben. Wenn ich mit der Körnermenge der siebenten Ernte alles feste Land der ganzen Erde bedecke, so würde die Höhe der aufgeschichteten Kornmasse ungefähr einen halben Meter betragen.

– Und das habt Ihr so im Augenblick ausgerechnet?

– Das wohl nicht. Aber seit wir uns das letzte Mal vor vierhundert Jahren in Wittenberg unterhielten, hatte ich ja genügend Zeit dazu.

– Und wenn ich noch weitere vierhundert Jahre darüber nachdenke, könnte ich's nicht fassen. So ein Haufen Getreide! Allmächtiger, wer könnte denn den aufessen?

– Ein Land und ein Volk gewiß nicht.

– Am Ende wäre die ganze Menschheit dazu nötig?

– Da kommst du der Wahrheit schon näher. Also denken wir uns die gesamte Menschheit als Verzehrer. Wie lange würde sie wohl damit reichen?

– Ich denke mir: bis zur zwanzigsten Ernte, wenigstens. Oder gar bis zur dreißigsten? oder noch weiter?

– Du überschätzt den Appetit unserer irdischen Mitbewohner. Nein, mit so knapper Zeitspanne ist da nicht durchzukommen. Die gesamte Menschenbevölkerung hätte vielmehr an jener Kornmenge reichlich genug, um sich vierzigtausend Jahre daran zu sättigen. Wir können auch den Marktwert annähernd ermitteln. Gehen wir von Nahrungspreisen aus, wie sie vordem im Frieden bestanden, so finden wir: achttausend Billionen Mark. Das ist nun auch nicht leicht zu erfassen. Stelle dir einmal die ägyptische Cheops-Pyramide vor, massiv und aus gediegenem Golde . . .

– Aber nein, Magister! Jetzt geratet Ihr bestimmt an eine Übertreibung; das kann doch nicht stimmen!

– Du sagst ganz recht: so einfach stimmt es noch nicht. Allein, dreihundert solcher ungeheuren Goldpyramiden würden allerdings ausreichen, um die siebente Ernte zu bezahlen; jene aus einem einzigen Korn entwickelte siebente. Selbstverständlich ist alle Ackerfläche der Welt viel zu beschränkt im Raume, als daß sie solche Ernten verwirklichen könnte, nicht nur Wetter und organische Bedingungen verhindern das volle Ausreifen, sondern die geometrische Möglichkeit auf unserem allzukleinen Erdglobus. Nichtsdestoweniger zeigt dieser phantastische Ausblick etwas sehr Wichtiges: nämlich, daß bei keiner Arbeit so viel herauskommen kann, wie bei der Tätigkeit auf dem Acker. In der Seele des Mannes, der den fruchttragenden Boden bebaut, lebt eine Ahnung, daß er mit seiner Mühe um unermeßlichen Lohn ringt; denn seiner Hand ist ein Same anvertraut, der schon als einzelnes Körnchen eine ganze Welt umschließt. Mit der Vorstellung von dieser wundervollen Ergiebigkeit wollen wir uns erfüllen, wenn wir nunmehr ans Werk schreiten. Und erst jetzt, da ich beginne, Furchen zu ziehen und der Mutter Erde das Saatkorn in den Schoß zu senken, erreichen ihre volle Geltung meine Worte:

Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Aeonen untergehn!
Im Vorgefühl von diesem hohen Glück
Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick!

Komm, Freund, dort überall liegt das Ackerland, es wartet auf unseren Fleiß!

Zweite Abteilung: Erlebnisse.


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