Alexander Moszkowski
Ernste und heitere Paradoxe
Alexander Moszkowski

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Die Geiseln des Senators.

Ob wirklich nichts Neues unter der Sonne, alles vielmehr schon dagewesen, darüber mag man streiten. Nehmen wir den Satz richtig an, so ist er jedenfalls nicht umkehrbar. Die Umkehrung würde als bedeuten, daß jedes Ereignis der Vorzeit ihre Wiederkehr, mindestens ihr Abbild in unserer Gegenwart finden müsse; es gäbe dann im Ablauf der Dinge keine singulären, unwiederholbaren Vorgänge. Solche sind aber tatsächlich vorhanden, und die nachfolgende Erzählung mag einen der seltsamsten herausgreifen. In ihrem Kerne zwar stecken Personen, deren Amt und Zweck der Neuzeit wieder recht geläufig wurden: ein Diktator und Geiseln. Wie aber dieser Diktator mit diesen Geiseln zusammenhing, das hat der Weltgeist nur einmal ersonnen, nur einmal als Wirklichkeit hingestellt und niemals wiederholt.

Das begab sich im Jahre 1252 zu Rom. Die Bürger der Stadt wollten einen neuen Bürgermeister haben und hielten Umschau nach einem starken Mann. Manche lebten wohl in der Siebenhügelstadt, die sich mit Recht ihrer eisernen Fäuste rühmten, aber gerade gegen sie sollte der Neuzuwählende als der Stärkere, als der Bändiger ihrer Herrschgelüste auftreten. Ein Volksmann sollte kommen als Inhaber der höchsten Zivilgewalt, mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet und mit dem Titel eines Senators. Rang und Name war aus dem Plural des antiken Rom ins Mittelalter hinübergewandelt als Singularis. Es gab nur einen Senator, den wirklichen Herrn Roms, trotz des Papstes, trotz der weltlichen Mächte, die von jenseits der Alpen und von Sizilien her ins Tibergebiet hineinragten. Denn der Kaiser war fern, der Papst lebte in ewigen Konflikten mit der Stadt, und nur wer im Kapitol gebot, aus dessen Hand erfloß die Stadtmacht. Senator hieß er, – Diktator war er.

Man wollte einen Verwalter des Innern, suchte ihn im Äußeren und fand ihn in Bologna. Sein kraftstrotzender Name »Brancaleone«, an die Pranke des Löwen erinnernd, entsprach dem Wesenskern des Mannes: er war wirklich ein Löwe als Persönlichkeit, ein Geisteslöwe im Feld der Rechtsgelehrtheit und obendrein ein Finanzlöwe. Als er noch in Bologna wohnte, hatte er einem prinzlichen Gast aus England zur Begrüßung hundert mit Geschenken beladene Wagen zugeschickt; eine Grußspende, die den Empfänger, Eduard, den nachmaligen König, zu der Erklärung veranlaßte: ganz England sei nicht so reich wie Bologna. Das war jedenfalls keine schlechte Empfehlung für den Brancaleone, und die Römer konnten sich auf ansehnliche Repräsentation bei ihrem neuen Senator gefaßt machen.

Aber bis hierher sehen wir noch nichts Einzigartiges; auch nicht in der Wahl eines Auswärtigen zum Stadthaupt. Wir haben dafür Parallelen im neuen Deutschland. Miquel war Oberbürgermeister in Osnabrück und wurde in gleicher Eigenschaft nach Frankfurt berufen, und auch er war ein sehr kapitalkräftiger Herr. Soweit würde sich also der Satz, »alles wiederholt sich nur im Leben«, in gewisser Variation auf den vorliegenden Fall übertragen lassen. Aber von hier aus biegt die Geschichte in eine besondere Linie ein, deren Schwingung ein Unikum geblieben ist.

Erstlich verlangte und erhielt der neue Senator einen Anstellungsvertrag, der weitaus alles überschreitet, was die verwegenste Phantasie eines modernen Oberbürgermeisters auszudenken vermöchte. Die Verpflichtung umfaßte zunächst ein Monatsgehalt von 250 Golddukaten, gleich 750 Talern, wobei man sich vorzustellen hat, daß der Geldeswert wenigstens um das zwanzigfache den heutigen übertraf. Hielt er es ein Jahr aus, so konnte er es, bei freier Wohnung in bevorzugter kapitolinischer Lage, nach unserem Maße geschätzt, auf reichlich eine halbe Million Mark bringen. Seine souveräne Amtsgewalt überflog das Stadtgebiet so weit, daß er Verträge mit Fürsten und Republiken abschließen, Gesandtschaften ernennen, Huldigungseide entgegennehmen durfte; seine Rechtsbefugnis erstreckte sich auf Leben und Tod; seinem eigenen Wappen fügte er das altgeschichtliche S. P. Q. R. bei, und auf die Münzen prägte er seinen Namen und sein Bild wie ein Herrscher von Gottes Gnaden.

Allein der Anstellungsvertrag enthielt auch einige unangenehme Klauseln. Mit jener üppigen Dukatenrechnung konnte es hapern, falls dem Senator irgend ein Verstoß bei Ausübung des Amtes nachgewiesen wurde; und wie das Schicksal in der Mythologie den Göttern übergeordnet war, so lagerten über ihm dunkle Gewalten der Überwachung und der Kontrolle. Das Recht des freien Bürgers, spazieren zu gehen, verkürzte sich bei ihm nach ausgezählten Schritten. Seine Burg war genau genommen auch sein Gefängnis, das er nur nach engumschriebenen Regeln in Raum und Zeit verlassen durfte; und in der langen Liste der Einschränkungen finden wir: Verbot, mit den Bürgern vertraulich zu verkehren; Verbot, im Palast eines Magnaten zu speisen; Verbot, irgend einen nahen Verwandten bei sich aufzunehmen; ja sogar das Verbot, verheiratet zu sein. War er bei Amtsantritt vermählt, so wurde für die Dauer der Würde die Witwerschaft über ihn verhängt. Im Hintergrunde stand noch am Schluß der Senatorherrlichkeit ein peinliches Examen, das bei ungenügendem Ergebnis zu Gehaltsverlust und zu Haft führen konnte.

Da der tüchtige Brancaleone diese Klauseln genau kannte, griff er in weiser Würdigung aller Möglichkeiten zu Gegenmaßregeln. Der Bolognese wußte genau: man brauchte ihn, man erwartete von ihm Allheil, also durfte er seine Gegenbedingungen stellen.

Und hier trat der dramatische Schlager ein, mit der Bedeutsamkeit des Einzigartigen: Brancaleone forderte Geiseln!

Genau so zu verstehen: Söhne edler Römer sollten in Bologna als lebendige Pfänder zur Gewähr für seine persönliche Sicherheit festgesetzt werden. Drei Jahre lang wollte er Rom regieren mit dieser gewaltsamen Bürgschaft in der Hinterhand. Ging die Schlußprüfung übel aus, dann wehe den Geiseln!

Man schaudert, wenn man sich diese Bedingung auf die Laufbahn eines neuzeitlichen Stadtbeamten projiziert denkt. Sie war schon damals, in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, abenteuerlich, unerhört. Nichtsdestoweniger – sie wurde bewilligt, die edlen Geiseln wanderten nach Bologna.

Deren Menge ist nicht genau zu ermitteln; die Chronikenschreiber gehen in der Bezifferung auseinander. In der Storia di Romagna des Vesi wird die Zahl auf 30 angegeben.

Mit diesem zuverlässigen Rückhalt durfte Brancaleone den Einzug in die Hauptstadt getrost wagen. Er gestaltete sich zu einem großartigen Gepränge, das den Vergleich mit dem Krönungsfest eines Kaisers oder Papstes sehr wohl aushielt. Und gleich im ersten Anlauf wurde ein Grundstatut durchbrochen: das unfreiwillige Zölibat, sonst unverbrüchlich für alle Senatoren, galt nicht für den Mann mit der Löwentatze: seine Löwin, die Gattin Galeana, durfte ihn begleiten. Wer über so viele Geiseln verfügte, der durfte sich schon den Luxus einer verordnungswidrigen Gemahlin erlauben.

Auf den Vorzug, bei den Granden Roms zu speisen, scheint Brancaleone keinen Wert gelegt zu haben; desto größeren auf seine Befugnis, sie und ihre Mißwirtschaft zu bekämpfen. Die Herrschaften Colonna, Orsini, Conti, Frangipani, Capocci hatten keine Veranlassung, von dem Auftreten des Herrn Senators entzückt zu sein. Der griff in Rom und der Campagna mit kraftvoller Hand durch und belebte die Architektur manchen Feudalturmes durch beweglichen Schmuck, indem er deren Inhaber mit einem Strick um den Hals an die Zinne befestigte.

Nein, er gefiel ihnen nicht, der neue Bürgermeister, der sich selbst so unangreifbar zu machen wußte und in ihre Privilegien so unhistorisch hineinwüstete. Dieser demokratische Satan war doch eigentlich ein Fremdling, ein Zugereister, ein lästiger Ausländer. In einem Jahre brach er 140 feste Türme nieder, ungefähr die Hälfte aller Zwingburgen, die damals, auf klassischem Schutt und auf Bauwerken des Altertums errichtet, zum Himmel starrten. Wo blieb da die Pietät für das geschichtlich Gewordene, für das Monumentale, zumal Brancaleone nicht abließ, zum Ersatz für zerstörte Säulen minderwertige Galgen für die Besitzer der Kastelle zu errichten?

Endlich war das Maß voll. Zwingbarone vereinigten sich mit Kardinälen zu einer Revolution von oben, nach drei Jahren seiner Amtstätigkeit wanderte der Senator selbst in eines der ihm so verhaßten Kastelle. Und im Turm Passerano war er dem Urteil und Tod verfallen, falls es vorher gelang, das Problem der Geiseln in Bologna zu lösen.

Aber Bologna blieb standhaft und hielt die römischen Jünglinge unter festem Verschluß. Gegen dieses Prinzip der Lebensversicherung war nichts auszurichten, selbst nicht mit einem Bannstrahl des Papstes. Bologna legte den Bann zu den Akten, verschärfte die Gefangenschaft der Bürgen und drohte: tilgst du meinen Brancaleone, so tilge ich deinen jugendlichen Edelnachwuchs. Die Partie stand dreißig gegen eins, und das Gesetz der großen Zahl setzte sich durch.

Die weise Vorsicht des Herrn Senators, der seinen Dienstvertrag mit lebenden Paragraphen zu umgittern verstanden hatte, triumphierte und die Entwirrung der Fäden gelang wie nach einem vorausberechneten Schema: Der gestrenge Herr und seine Geiseln wurden gegeneinander abgetauscht, die Fesseln fielen hüben und drüben, das Interdikt wurde gelöst, und der ausgeliehene Löwe hielt wieder einmal festlichen Einzug, diesmal in seinem Heimatsort.

Nicht seinen letzten. Denn schon nach kurzem Zwischenspiel regte sich in Rom die Sehnsucht nach der prachtvollen Bestie, von deren Tatze das Volk abermals Gewaltiges erwartete. So erschien Brancaleone zum zweiten Male als Roms Senator mit unvermindertem Rüstzeug an Verwaltungsmaßregeln, Sanierungsplänen und hochstrebenden Galgen. Aber diesmal geriet er an einen Gegner, gegen den es keine Geiseln gibt: die Malaria streckte ihn nieder. Er starb auf dem Kapitol im Jahre 1258, lebhaft betrauert von der Masse, die ihm die seltsamste Nachfeier bereitete: sein Leichnam wurde kunstreich geköpft, das abgetrennte Haupt, in einer kostbaren Vase verwahrt, auf einer Marmorsäule an bevorzugtem Platz als Volksheiligtum ausgestellt.

Aber die Säule mit der Vase ist verschwunden, kein Denkmal, keine Inschrift des späteren Rom gemahnt an den großen Senator. Wie er Trümmer geschaffen, so verging er unter Trümmern. Aber erstaunlich bleibt es, daß kein Dramatiker seine Spur gefunden, daß kein dichtender Gestalter diesen Übermenschen wiederhergestellt hat. Ein Mann wie er, auf dem Hintergrund wimmelnder Geiseln, ruft geradezu nach dem Fünfakter! Fraglich bliebe es allerdings, ob solches Stück mit dem Vorgang ohne Seitenstück dramatisch glaubhaft erscheinen könnte. Die historische Nichtigkeit reicht hierzu nicht aus; und es ist nicht jedermanns Sache, den enormen Gregorovius solange zu wälzen, bis er auf Grund der Einzeldaten die Überzeugung gewinnt, daß solch ein Überbürgermeister wirklich gelebt hat.


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