Alexander Moszkowski
Ernste und heitere Paradoxe
Alexander Moszkowski

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Die Wissenschaft des Teufels.

Faust, letzter Teil.

Faust: Nur hereinspaziert. Genier dich nicht. Der Drudenfuß auf meiner Schwelle ist erledigt.

Mephistopheles: Habe ich bemerkt. Der ist beim letzten Großreinemachen fortgescheuert worden.

Faust: Und der größte Teil meiner Retorten und Phiolen ebenfalls. Ich habe jetzt ein Hausmädchen – alle Achtung! Das gemein Körperliche in jeder Form ist ihr ein Greuel. Sie drängt mich immer mehr aufs rein Geistige. Was bringst du Neues?

Mephisto: Eine ganze Menge. Wir werden frisch inszeniert. An zwanzig Theatern zugleich. Von hundert Dramaturgen, die Goethes letzte Absichten erraten haben. Hast du eine Ahnung, Faust!

Faust: Ich fürchte, es wird schließlich von uns beiden nicht viel mehr übrig bleiben; man ersäuft uns in Regie, Musik und Ausstattung.

Mephisto: Und in Textkorrektur. Man nennt das: veredeln. In ein paar Jahren bist du so weit, daß du Gretchen auf der Bühne heiratest, wie es schon Du Bois-Reymond angeregt hatte. Alle Bedenken, die dieser einzig moralistischen Lösung entgegenstehen, werden von der Brandung der Sittlichkeitsbewegung hinweggeschwemmt werden.

Faust: Da wird aber der Goethebund ein Wörtchen mitreden. Er würde sich an seinem Namen versündigen . . .

Mephisto: Das ist ganz unmöglich, Faust; wer schläft, sündigt nicht. Bis der Goethe-Bund erwacht, existieren wir beide längst in Schüttelreimen mit Musik vom jüngsten Neutöner und einem radioaktiven Pudel.

Faust: Wenn sie wenigstens noch da ansetzen würden, wo unser Drama wirklich reformbedürftig ist, ich meine: bei der Wissenschaft. Ganz offen gestanden, ich empfinde da selbst eine Lücke.

Mephisto: Bravo, Faust! Du berührst hier den wundesten Punkt. Und bei allem Respekt vor Goethe muß es doch endlich einmal ausgesprochen werden: Um diese Schwierigkeit hat sich der Altmeister einfach herumgedrückt. Man bedenke nur: Faust, ein Drama des geistigen Ringens, mit einem Forscher im Mittelpunkt, der als der tiefgründigste seiner Zeit gelten soll; ihm zur Seite der scharfsinnigste Teufel, dessen Witz da anfängt, wo das immense Wissen Faustens versagt; dazu ein Programm, das von wissenschaftlichen Perspektiven strotzt; – und das Resultat? Eine Weibergeschichte! Ein Don Juan-Abenteuer! Beginnt wie Aristoteles und verläuft im Boccaccio. Statt der Lösung großer Probleme eine Tändelei vor dem Spiegel, ein flirtendes Blättergezupfe, eine Animierkneipe im Garten, ein Saufgelage im Keller. Unwürdige Fortsetzung eines großartigen Anfangs.

Faust: Und bin so klug als wie zuvor; fast seh' ich wie ein Rhinozeros aus! Wahr, wahr! So geht es immer in den vermaledeiten Bühnenstücken. Was man fragen soll, das fragt man nicht, und was man erfährt, das ist des Erfahrens nicht wert. Aber noch ist es nicht zu spät. Was ich in Jahrhunderten versäumte, soll endlich nachgeholt werden. Noch gilt unser Blutkontrakt. Heute sollst du mir auf die letzten Dinge Rede stehen.

Mephisto: Eine Zwischenfrage, Faust: glaubst du, daß sich das große Publikum dafür interessieren wird?

Faust: Das soll mir zunächst furchtbar gleichgültig sein. Ich interessiere mich dafür, das genügt. Und übrigens: wende ich mich denn mit meinen Fragen an einen Akademiker, von dem ich steifleinene Antworten in Professorendeutsch erwarte? Nein, vom Satan will ich Kunde. Und wenn der Teufel doziert, das kann doch unmöglich langweilig werden. Irgend etwas Destruktives wird dabei schon herausschauen, und dafür interessiert sich das Publikum immer, mag das Thema selbst noch so schwierig sein. Es ahnt, hier werden Werte zerstört, Voraussetzungen eskamotiert, Lehrsätze zertrümmert, an deren Unerschütterlichkeit die Menschheit durch die Jahrtausende geglaubt hat. Also heraus mit der Sprache. Und, wenn ich bitten darf, keines von den alten abgestandenen Epigrammen, die sich durch fünfzig Auflagen Büchmannscher geflügelter Worte gewälzt haben. Verstanden, Mephisto? Ich will etwas Neues, wirklich Wissenschaftliches!

Mephisto: Ich warte auf die präzise Frage.

Faust: Wurde bereits gestellt: ich fragte nach den letzten Dingen.

Mephisto: Faust, du bist unbelehrbar. Endlich besinnst du dich auf dein Fragerecht, endlich dämmert es dir auf, daß ich dir mehr zu sagen wüßte als ein x-beliebiger schmieralienwälzender und wälzerschmierender Honorarius, und dann fragst du nach Dingen, die sich der Philosophiestudent in mittleren Semestern an den Schuhsohlen abgelaufen hat? Nein, Faust, als Magister, der sich weder vor Hölle noch Teufel fürchtet, mußt du schon von höherem Sprungbrett abschnellen.

Faust: Was gäbe es jenseits der letzten Dinge?

Mephisto: Die überletzten. Diejenigen Dinge, die in Frage stehen, wenn man das allersicherste Fundament des Denkens erschüttert.

Faust: Das sicherste Fundament des Denkens ist die Mathematik. Und dies, mein Freund, ist unerschütterlich.

Mephisto: Jetzt habe ich dich auf dem Punkt. Siehst du, Faust, deswegen lohnt es, mit dem Teufel zu konferieren, und nicht, um eine arme Dirne durch ein paar Juwelen zu fangen. Beliebt es Eurer kenntnisreichen Herrlichkeit, auf dem angeschlagenen Thema ein wenig auszuharren? Also gut. Du sagst, »die Mathematik«, und glaubst damit auf einem Felsen zu stehen. Paß auf, wie ich diesen Felsen unterhöhle, wie ich ihn pulverisiere.

Faust: Das wird dir nicht gelingen. In der Mathematik ist bekanntlich alles beweisbar.

Mephisto: Jeder Satz, der sich auf ein »bekanntlich« stützt, ist bekanntlich falsch. Ich werde auch mit Beweisen operieren, ich werde dir beweisen, daß die Mathematik nicht von Ewigkeit ist, sondern aus der begrenzten Erfahrung hergeleitet; ich werde dir beweisen, daß mehrere grundverschiedene, einander schnurstracks widersprechende Mathematiken existieren können, eine so zuverlässig wie die andere.

Faust: Und rund heraus gesagt, das glaube ich nicht!

Mephisto: Es ist nicht des Teufels Art, sich über Glaubenssachen zu unterhalten. Bleiben wir hübsch beim Wissen. Reich' mir einmal den Globus dort. Danke. Und nun ein kleines mephistophelisches Kunststück: ich verwandle uns beide in zwei winzige Wesen ohne Dicke, und versetze uns auf die Oberfläche dieses Globus. Ist schon geschehen. Spürst du die Veränderung? Nein. Das dachte ich mir. Es ist dir ja auch nichts Schmerzhaftes passiert. Du bist nur sehr klein und zweidimensional geworden, das ist alles. Und nun wollen wir einmal anfangen, auf dem Globus spazieren zu gehen. Immer geradeaus. Wie weit werden wir wohl kommen?

Faust (in der Verwandlung): Ich sollte meinen, unabsehbar weit, denn auf dieser Kugel, die ich jetzt bewohne, gibt es weder Grenze noch Anstoß.

Mephisto: Ganz recht. Wir leben jetzt in einer Unbegrenztheit, und eben diese Unbegrenztheit wird uns auf einem Globus von einem Fuß Durchmesser geboten. Was wir nunmehr als Raum empfinden, ist mithin zu gleicher Zeit eng und enorm, endlich und unendlich, mit einem Worte: die Maßelemente der mathematischen Erkenntnis haben hier ihre Giltigkeit verloren. Weiter! Bewege dich zu mir in der kürzesten Linie! Wie machst du das!

Faust: Ich bin genötigt, auf einem Kreisbogen zu marschieren.

Mephisto: Aber Faust! Besinne dich doch auf deine erste Mathematikstunde! Die kürzeste Linie ist doch die gerade, – bekanntlich!

Faust: Das ist mir wohl in Erinnerung. Aber diese Erinnerung verblaßt vor der neuen Wirklichkeit. Es gibt hier keine gerade Linie, nur Kreisbögen. Und merkwürdig: diese Bögen empfinde ich in meiner neuen Wesenheit ganz genau so wie ehedem die Geraden. Ihre Krümmung kommt mir nicht zum Bewußtsein. Das ist in der Tat seltsam.

Mephisto: Nein, es ist die natürlichste Sache von der Welt. Was dem denkenden Wesen ins Bewußtsein dringt, ist eben nicht Geradheit und Krümmung, sondern lediglich die Qualität der Kürze. Deine ererbte und erlernte Planimetrie ist in dieser Bogenwelt unbrauchbar und falsch geworden. Der gute Euklides, hier hat er »nix to seggen«.

Faust: Man müßte vielleicht versuchen, ihn sphärisch umzudeuten.

Mephisto: Geht nicht. Man muß ihn radikal abschaffen. Denn dieser einfältige Euklid verkündet ja als Grundgesetz: Durch zwei Punkte kann man nur eine Gerade gehen lassen. Nun, Faust, postiere dich an den Nordpol unseres Globus, ich begebe mich an den Südpol. Wieviel kürzeste Linien haben wir nunmehr zwischen uns zur Auswahl?

Faust: Unendlich viele; wir können ja jeden Meridian wählen.

Mephisto: Wenn aber das Grundgesetz wankt, muß der ganze Euklid nach. Und nun, Faust, wollen wir einmal in den Bauch dieses Globus hinabsteigen.

Faust: Der Weg ist mir nicht so ungewohnt: es geht zu den Müttern!

Mephistopheles: Merke wohl auf: für das Innere unserer Kugel etabliere ich physikalische Bedingungen, wie sie zwar nirgends existieren, aber widerspruchslos und vollkommen denkbar sind. Nämlich so: im Mittelpunkt der Kugel herrscht eine höllische Hitze, die sich nach der Begrenzung hin bis zu ultrasibirischer Kälte abkühlt. Wir beide folgen in unserer Leibesausdehnung genau und sofort dieser Temperaturschwankung.

Faust: Ein ziemlich ungemütlicher Aufenthalt.

Mephistopheles: Man gewöhnt sich daran. So, da wären wir schon im Mittelpunkt. Ein bißchen warm, in der Tat, selbst für einen Feuerfürsten. Dafür gibt es aber auch eine Annehmlichkeit: du erhältst die Freiheit, dich innerhalb der Kugel ganz nach Belieben zu bewegen.

Faust: Nur fort von hier, nach der Oberfläche!

Mephisto: Das eben wollte ich dir vorschlagen. Wir steigen und ziehen uns zusammen. Wir werden mit zunehmender Abkühlung immer kleiner. Unsere Gehwerkzeuge natürlich auch. Und da wir bis zum absoluten Kältepunkt hinmüssen, so nähern sich unsere Schritte dem Nullwert.

Faust: Auf diese Weise werden wir niemals wieder bis an die Oberfläche gelangen.

Mephisto: Brillant begriffen. Wir legen einen unendlichen Weg zurück, um einen halben Fuß Distanz zu überwinden.

Faust: Das ist ja Wahnsinn!

Mephisto: Bewahre. Das sind die höchst sinnvollen Größenverhältnisse einer physikalisch möglichen Welt. Und wahnsinnig ist nur derjenige, der da glaubt, unsere Mathematik reiche bis in alle Schlupfwinkel des Kosmos.

Faust: Ja, wenn du erst die Physik änderst!

Mephisto: Eine Mathematik, die nicht auf alle Physiken paßt, ist eben keine. Sie ist weiter nichts als die bequemste Orientierungsmethode innerhalb bestimmter Existenzbedingungen. Hier in unserer Kugel herrschen eben andere. Zum Beispiel ist es hier finster. Aber ich setze eine Lichtquelle an die Peripherie und bestimme, daß das Licht durch verschieden brechende Gase stetig abgelenkt wird. Alle Lichtstrahlen gehen nun dauernd in geschwungenen Bögen um die Ecke. Und nunmehr hat der Begriff der geraden Linie vollends jede Geltung für uns verloren. Die Kongruenzsätze, der Pythagoreische Lehrsatz erscheinen hier wie Kundgebungen aus dem Tollhaus. Diese neue Kugelwelt verlangt eine neue, Nicht-Euklidische Mathematik, und wenn du hier als Baumeister, als Mechaniker, als Ingenieur irgend etwas unternimmst, was mit deiner alten Lehrweisheit nur im geringsten zusammenhängt, so bricht dir jede Konstruktion unter den Fingern zusammen. Genug! wir wollen in dein Studierzimmer zurückkehren.

Faust (in früherer Gestalt): Sage, Mephisto, wie bist du auf derlei Dinge verfallen? in welchem Hexenbuch steht denn das eigentlich?

Mephisto: In gar keinem Hexenbuch. Das alles befindet sich schon in deiner eigenen Bibliothek; du verstehst es nur nicht zu finden.

Faust: Erlaube, in meiner Bücherei weiß ich Bescheid.

Mephisto: Ich beweise dir das Gegenteil. Dort drüben sehe ich die Schriften des Leonardo da Vinci.

Faust: Den ich als Künstler bewundere, als Gelehrten aber doch nicht bedingungslos anerkenne. Übrigens kennt Leonardo nichts von dieser Kugelwelt.

Mephisto: Er kannte sie. Leonardo spricht in seinen Werken niemals von der geraden Linie, er nennt sie durchweg nur linea radiosa, die Strahllinie. Da hast du das ganze Geheimnis. Leonardo wußte, daß der Grundbegriff unseres mathematischen Denkens, die gerade Linie, nicht aus reiner Erkenntnis entquillt, sondern aus der Erfahrung, die uns der Lichtstrahl vermittelt; jener Strahl, der den optischen Gesetzen einer begrenzten Welt gehorcht. Alles Weitere ist Folgerung. Und neuere Mathematiker haben sich auch bereits auf den Weg dieser Folgerung begeben. Die Nicht-Euklidische Mathematik existiert fix und fertig. Riemann und Lobatschewsky sind ihre Urheber. Und jene Kugelwelt, in die ich dich heute führte, wurde theoretisch von dem Forscher Henri Poincaré angedeutet.

Faust: Das muß ich in aller Ausführlichkeit lesen!

Mephisto: Gib dir keine Mühe, du würdest das nicht verstehen. Wer erst noch die Frage aufstellt, »ob es auch in jenen Sphären ein Oben oder Unten gibt«, der ist dem mathematischen Esperanto eines Riemann und Poincaré nicht gewachsen.

Faust: Dann hätte es aber auch keinen rechten Zweck, das Drama Faust nach der Richtung der überletzten Dinge zu erweitern. Denn wie soll das Parkett solchen Exkursionen folgen können, wenn ich, der Magister, der Doktor gar, mich mit nebelhaften Ahnungen bescheiden muß?

Mephisto: Ganz recht, Faust. Für die Falschheit der Mathematik interessiert sich das Publikum höchstens bis zum Sophisma 2*2=5; allenfalls bis zu unserem Hexeneinmaleins. Mir lag auch nur daran, dir selbst eine neue überraschende Perspektive zu eröffnen. Im übrigen wollen wir unsere weiteren Schicksale der drehbaren Bühne überlassen und die drehbare Mathematik für uns behalten!


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