Alexander Moszkowski
Ernste und heitere Paradoxe
Alexander Moszkowski

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Die Antipoden von Berlin.

In einer Zeit kräftiger Reiselust, aber verminderter Reisemöglichkeit, gewinnen Gedankenfahrten eine erhöhte Bedeutung. Vollends in weitabliegende, exotische Gegenden hinein, in die kein Kursbuch und kein Bädeker reicht. Wenn der Leser sie mitmachen will, so kann ich ihm bei einem Minimum von Strapaze eine Überraschung und ein Problem versprechen. Ich bin sogar sicher, daß dieses Problem noch in Jahrzehnten nicht völlig gelöst sein wird; denn es liegt auf der Grenze zwischen Schein und Wirklichkeit, in einem seltsamen Gebiet, wo die Sinne mit der Erkenntnis hart zu kämpfen haben.

Die wirklichen, die geographischen Antipoden von Berlin wären auch in Zeiten völliger Seefreiheit schwer zu erreichen, schon aus dem einfachen Grunde, weil sie gar nicht existieren. Bohrt man einen Schacht von uns aus geradlinig durch den Erdmittelpunkt bis zur Gegenseite des Globus, so mündet er in der leeren Ozeanfläche, südöstlich von Neuseeland, nicht allzuweit von der Antarktis. Eine öde, selbst auf den spärlich verstreuten Inseln unbewohnte und unbewohnbare Gegend.

Wir haben keine Gegenfüßler, aber wir können sie nach Lage und Stellung konstruieren. Ein einfacher Planspiegel würde hierzu genügen, aber doch nicht die volle Anschaulichkeit gewähren. Um diese zu erzielen, ist man auf einen Wohnraum angewiesen, dessen gesamte Plafonddecke spiegelt. Und solche sind in Berlin vorhanden. Der Zufall führte mich in eine Speisewirtschaft der Friedrichstadt, die sich bei sonstiger Bescheidenheit der Aufmachung durch einen vollständigen, über die ganze Ausdehnung der Räumlichkeit reichenden Deckenspiegel auszeichnet. Man blickt mit der Neugier des Augenblicks hinauf in die verkehrte Welt, sieht sich selbst und die Nebenmenschen in der Antipodenlage, mit abwärtshängenden Köpfen und aufwärts gerichteten Beinen, findet aber die Sache sofort ganz natürlich und durchaus in der Ordnung.

Bis der Blick zufällig eine veränderte Richtung nimmt und denjenigen Teil des Spiegelbildes trifft, der jenseits der geöffneten Tür die in derselben Ebene liegende Straße umfaßt.

Da zeigt sich etwas Phänomenales, etwas aus der gewohnten, natürlichen und selbst als möglich vorausgesetzten Ordnung der Dinge Herausfallendes: Das Deckenbild stimmt nicht mit dem auf direktem Wege zu uns gelangenden Straßenbild!

Daß es ihm nicht kongruent sein kann, leuchtet ohne weiteres ein. Dagegen halten wir, auf das sinnliche Wahrnehmen eingestellt, an der Forderung der Ähnlichkeit unter allen Umständen fest. Aber gerade die geometrische Ähnlichkeit wird durchbrochen, und um das Wunder zu vollenden, mit einem Bestandteil, der den Spiegel eigentlich gar nichts angeht, nämlich mit der Zeit, mit der Folge der Zeitlichkeiten! Die Welt da draußen auf der Straße ist anders metronomisiert als die Welt im Spiegel.

Der Unterschied ist so auffallend, das er einem aufmerksamen Beobachter unmöglich entgehen kann. Man betrachtet im Innern des Raumes, wenige Schritte vom Eingang entfernt, das Straßenleben mit seinen bewegten, vom Pflaster antipodisch herabhängenden Spiegelfiguren. Gehen sie – von der räumlichen Umkehrung abgesehen – wie sonst die Gänger auf der Straße? Nein, sie haben ein ganz anderes Tempo, sie eilen mit einer optisch unerklärbaren Hast, trabend gleiten sie vorüber, mit geknickter Beinstellung, schlecht koordinierter Fußhaltung, die sich mit gewohnter Körpersymmetrie in Widerspruch setzt. Ganz unmöglich erscheinen zumal die Frauen und Mädchen: so schreiten keine ird'schen Weiber! Etwas Rätselhaftes steckt in ihren Bewegungen, eine falsche Anpassung an Zeit- und Raumspanne, aus ihrer zweckwidrigen Beziehung von Figur zu Beschleunigung springt vollkommene Unlogik heraus.

Ein neues Relativitätsprinzip mit verschobener Zeitgeltung scheint sich aufzutun. Allein, schnell genug finden wir, daß wir lebendes Objekt und Gegenbild mit einem einzigen Blick aneinander kontrollieren können, wobei sich von Schritt zu Schritt unbedingter Gleichlauf herausstellt. Das Rätsel wird immer größer; denn die untere Figur berichtigt in jedem Augenblick ihren Antipoden; da verschwindet sofort jede Zeitdifferenz in der vollkommenen Konsonanz aller Bewegungen. Und dennoch! Sobald wir das Auge ausschließlich nach oben wenden, zur verkehrten Welt, finden wir augenblicklich wieder diesen unbeschreiblichen Rhythmus, diese niemals auf einer wirklichen Straße erlebte Beschleunigung der Figuren. Also ein und dieselbe Tatsache in Bejahung und Verneinung, Übereinstimmung und Widerstreit, Phänomen und Gegenphänomen, unlösbar in einander verwickelt.

Flüchtig drängt sich die Annahme auf, der Hochspiegel müsse fehlerhaft geschliffen sein, oder falsch stehen. Aber das wäre nur ein Verlegenheitsgedanke, der aus zwei Gründen nicht standhält. Denn erstens genügt jeder Vergleich mit den Innenkörpern des Raumes, um festzustellen, daß der Deckenspiegel vollkommen richtig planiert ist; und ferner: ein ruhender Spiegel vermag niemals kinematographisch zu wirken, seine etwaigen Schiefheiten oder Wölbungen bleiben einflußlos auf das Zeitmaß. Also zurück zur Optik! Sie allein soll und muß über die vorliegende Unstimmigkeit Auskunft geben.

Und da naht uns das Mädchen für alles im Wirtschaftsgebiet landläufiger Denkweise: »Die optische Täuschung«; jener hilfreiche Geist, den Frau Vernunft seit Urzeiten im Dienstvertrag hält, um ihr jede Spannung zwischen Schein und Wirklichkeit mit Anstand fortzufegen. In Wahrheit aber so unbeholfen und so unwirksam wie ein Fetisch, den sich der Wilde zurechtschnitzt, um ihn nachher anzubeten.

Die »optische Täuschung« ist keine Zauberformel, sondern eine Floskel, oder, um ein Wort Spinozas zu gebrauchen, ein Asylum ignorantiae. In der Denker- und Forscherlinie, die in Berkeley, Johannes Müller und Ernst Mach ihre stärksten Exponenten fand, ist sie längst auf ihren Nullwert zurückgeführt worden. Und diese bedeutenden Erkenner haben auch nur vollendet, was schon dem Epikur und dem Lukretius vorschwebte: Es gibt keine optische Täuschung! die Sinne können überhaupt nicht getäuscht werden, höchstens die Deutung darüber, und auch diese nur, insofern sie sich darauf versteift, die einzelnen Meldungen der Sinne, wie die Zeugenaussagen vor Gericht, gegeneinander auszuspielen; was gar nicht in der Absicht der Natur liegt. Der herrliche Lukrez' sagt:

»Läßt aus des Sinnes Betrug sich gegen dieselbe ein Schluß ziehn,
Da doch jeglicher Grund allein auf die Sinne gestützt ist,
Welche, woferne sie trügen, mit ihnen auch alle Vernunft trügt? . .
Kein Sinn vermag einen andern aus seinem Vermögen bestreiten, . . .
Weil stets jedem von ihnen derselbige Glaube gebühret,
Folglich zu jeglicher Zeit das wahr ist, was sie bezeugen.«

Diese Lehre in ihrer Vertiefung durch die moderne Physik mag in Abgründe führen, in die wir aus Anlaß unserer Antipoden nicht hinabzusteigen brauchen. Für uns genügt der Anhalt: Jeder Spiegel und ganz ebenso jedes Auge ohne Spiegel zeigt durchweg genau so richtig wie falsch. Kommt man von der Formel »optische Täuschung« nicht los, so fällt alles Gesehene darunter, angefangen von der Verkleinerung jedes Gegenstandes durch die Entfernung, und dann ist es der Sprung über den eigenen Schatten, wenn man vom Auge aus den Spiegel zurechtweisen will. Kommt man aber davon los, so führt diese Einsicht unmittelbar zum Aufsuchen anderer Erkenntnisgründe:

Die Momentphotographie hat uns darüber belehrt, daß das Auge eine Bewegung anders auffaßt, als der blitzartig beleuchtete Apparat; das in ein zwölftel Sekunde aufgenommene Galopppferd entspricht nicht dem transitorischen Bilde, wie wir es gewöhnlich sehen, und wie es in unserer Anschauung lebt. Aber weder hat das Auge Unrecht, noch die Kamera, noch auch der Maler, der sich für seine Bilddarstellung nach dem Auge richtet oder eine vermittelnde Stellung zwischen ihm und der Momentwirkung einnimmt. Nur die Betrachtungsweise ändert sich, führt zum Ergreifen verschiedener Profile, die alle der nämlichen Wahrheit angehören.

Und dies ergänze man: ein gutes Landschaftsgemälde und eine Generalstabskarte liefern bei größter optischer Verschiedenheit genaue Darstellungen derselben Gegend; die Figuren der Chladni-Tafel fallen mit der Klangempfindung schon begrifflich weit auseinander, können aber mit ihr vom Verstande zur Einheit verschmolzen werden.

Und damit nähern wir uns der Lösung des Rätsels: Was wir gewohnt sind, als Menschenbewegung auf der Straße zu sehen, ist nur ein Teil, eine Andeutung des Rhythmus, der sich durch unzählige Anblicke in uns so fest organisiert hat, daß wir den Teil für das Ganze, die Andeutung für die volle Ausgestaltung nehmen. Der ungewohnte Deckenspiegel liefert zu diesem Rhythmus eine ebenso richtige und ebenso wichtige, allerdings durchaus unerwartete Komponente. Tausendfältige Wiederholung des Experimentes wäre erforderlich, um hier die Einheit der Wahrnehmungen herzustellen. Gelänge uns dies, so würden wir auch ohne Spiegel in unmittelbarer Augenauffassung das bewegte Mengenbild der Straße ganz anders sehen als heute, vor allem mit einer für unser Gefühl, wenn auch nicht nach dem Uhrzeiger, anders metronomisierten Zeit.

Und dabei wird uns einfallen, daß ja die Netzhaut unseres Auges überhaupt alles verkehrt zeigt, mit grundsätzlicher Vertauschung des Oben und Unten; ferner, daß jeder sich selbst von Angesicht gar nicht direkt, sondern nur aus dem Spiegel kennt. Und aus allem zusammen kann sich vielleicht ergeben, daß jene abenteuerlichen Antipodenfiguren eigentlich die einzigen sind, die, optisch gedeutet, richtig stehen und gehen!


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