Alexander Moszkowski
Ernste und heitere Paradoxe
Alexander Moszkowski

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Unermeßlich.

Ein Seitenverwandter des Welthauses, der es im Privatvermögen nur bis zu zwanzig Millionen Franks gebracht hatte, wurde ehedem in Paris allgemein als »le pauvre Rothschild« bezeichnet. Man unterschied ihn dadurch treffend von den Wohlhabenden seines Geschlechts. Trotzdem stand die Million damals noch hoch im Kurse.

Das hat sich geändert. Die Million ist ihren bedeutenden Schwestern gegenüber in eine tiefere Schicht geglitten, wo sie allenfalls noch auf sympathisches Verständnis, aber nicht mehr auf Bewunderung rechnen darf. Sehr weit vom Erwerb des Armutszeugnisses ist sie nicht mehr entfernt, und als Zahlenwert kommt sie kaum noch in Betracht, seitdem die Billion als Rechnungsgröße im wirklichen Leben ihre Herrschaft angetreten hat.

Legt man statt der Mark den ebenso ehrbaren Pfennig zugrunde, so wurde bei den deutschen Kriegsanleihen die Billion erreicht und überschritten. Eine Vorstellung, die sich sonst nur als Spielwerk der Phantasie darbot, gewann Prägung und Münzwert. Durch das Sprungbrett der Milliarde hat sich die Billion als eine erweisliche Gegenständlichkeit in unser Dasein geschwungen.

Der Rechnungssport wurde nicht müde, die neue Größe nach Länge, Fläche und Körpermaß auszuforschen. Sie wurde gestreckt, gewalzt, getürmt, und wir wissen nun ganz genau, was sie in Gold, Silber und Papier für Abenteuer verrichtet, wenn man sie aufzählt, übereinanderschichtet oder als dicken Draht quer über die Meridiane spannt. Mit Hilfe der Kombinatorik und Zinseszinsrechnung wurde die Größe durch alle erdenklichen Formen hindurchgejagt, und am Ende ergab sich immer ein Wunder. Aber das Wunderbarste, so sollte ich meinen, ist noch nicht ausgesprochen worden.

Es liegt in einer philosophischen Betrachtung und zum Teil abseits der glatt aufgehenden Rechnung. Denn diese fördert doch nur das Selbstverständliche zutage und entwickelt Ergebnisse, die bei Verschiedenheit des Ausdrucks innerlich Tautologien darstellen. Die Figur selbst wird dabei immer nur gedreht und verschiedentlich beleuchtet. Ob sie eine Seele hat, läßt sich in dieser Behandlungsart nicht erkennen.

Aber sie hat eine Seele, insofern in ihr ein Teil unseres eigenen Denkvermögens beschlossen liegt. Wir werden zeigen, daß der Begriff der Million hierfür noch nicht durchweg genügt, daß aber jenseits der Milliarden andere Erkenntnisgrenzen erreicht werden können. Näherungsweise richtig darf man von einer »Philosophie der Billion« sprechen, wenn man von der großen Zahl zur Vorstellung des Unermeßlichen, ja, des Unbegrenzten, Unendlichen eine Brücke schlägt.

Es gibt nämlich eine Vertauschungsgrenze, auf der das Große und das Unendliche nicht nur begrifflich verwandt erscheinen, sondern tatsächlich und vollkommen ineinander übergreifen. Im Zwange des arithmetischen Zählens wird man sie nie erreichen; aber von der anderen Seite umspinnt uns ein anderer Zwang, der von der Erfahrung herrührt, und es zeigt sich, daß dieser zur Gestaltung unserer Denkform vielfach die Oberhand gewinnt. Sobald dieser Fall eintritt, erscheint jene Vertauschungsgrenze als eine Denknotwendigkeit, und in ihrer Nähe gewinnt die Zahl, oft schon unterhalb der Billion, den Charakter der uferlosen Unendlichkeit.

Ein Beispiel von Laplace möge überleiten; es besitzt zwar nicht volle Beweiskraft, verdeutlicht aber, worauf es ankommt: Das Planetensystem, soweit damals bekannt, besteht aus elf Planeten und achtzehn Trabanten; man kennt die Umdrehungen von der Sonne, von zehn Planeten, von den Monden des Jupiters, dem Ring des Saturn und einem seiner Trabanten; diese Rotationen zusammen mit den Umläufen bilden eine Gruppe von 43 in gleichem Sinne gerichteten Bewegungen. Es entsteht die Frage: ist diese Gleichrichtung so vieler Bewegungen Zufall oder entspricht sie einem Plan, einer übergeordneten Organisation? Für den Zufall spricht nur eine außerordentlich geringe Wahrscheinlichkeit, die sich im Verhältnis von Eins zu vier Billionen ausdrückt; das heißt: unter vier Billionen Möglichkeiten entfällt nur eine einzige auf die Zufalls-Ursache. Hier tritt also ein Billionenwert mit den Ansprüchen eines mathematischen Beweises auf. Er beweist mit einer Ersichtlichkeit, die für die meisten Menschen die Höhe einer unumstößlichen Evidenz erreicht, daß bei der Anordnung unseres Sternsystems etwas anderes mitgewirkt haben muß als der blanke Zufall. Wenn nun durch die Zahl eine Vermutung zur Gewißheit erhöht wird, so gebührt dieser Zahl eine Rangstellung außerhalb des endlichen Ablaufs; sie greift über in die Kategorie der Unendlichkeit.

Aber schon weit unterhalb der Billion kann dieser Evidenzpunkt mit voller Leuchtkraft hervorspringen. Hermann Lotze berührt in seiner Logik jene Tatsache aus dem gewöhnlichen Leben, die sich in der Erwartung von Tag und Nacht ausspricht: Nachdem 5000 Jahre lang der Wechsel von Tag und Nacht geschichtlich bezeugt ist, ergibt sich als Wahrscheinlichkeit dafür, daß derselbe Wechsel auch heute und morgen stattfinden werde, das an sich noch gar nicht abenteuerliche Verhältnis von 1 826 214 zu 1 826 215. Man kann daher ohne Leichtsinn und Verwegenheit, 1 826 214 gegen Eins wetten, daß auch heute und morgen dieselbe Erscheinung erlebt wird. Die Wette wird aber niemals zustande kommen, weil der Klügste wie der Einfältigste sich sagt und mit Recht davon überzeugt ist, daß der Millionenwert hier vollwichtig die Unendlichkeit ersetzt; nämlich im Zuge dieses Erlebens, dieser Reihe, – anderswo keineswegs. Millionen von Sandkörnern werden als ein sehr bescheidenes Häufchen begriffen, ebensoviel Wassertropfen als ein Tümpelchen, aber in der Folge unserer Daseinsabschnitte mit den eindringlichen Sonnenauf- und -untergängen wachsen die Millionen aus der Endlichkeit vollkommen und endgültig heraus. Sie sind, zu Einheiten aufgelöst, alle einmal einzeln empfunden worden, befinden sich abgelagert und organisiert im Denkapparat der Menschheit und haben hier den Charakter der begrenzten Zahl verloren. Helmholtz setzte die Tag- und Nachterwartung in Vergleich mit den allgemeinen Prinzipien der Mechanik: jene stützt sich auf ein weit engeres Gebiet der Beobachtung und beansprucht trotzdem einen weit höheren Grad der Sicherheit, ja, sogar die axiomatische Gewißheit, die nur von einem Irrsinnigen bezweifelt werden dürfte; nicht weil ihr ein »Gesetz« zugrunde liegt, sondern weil sich das Gesetz als Folge aus Erfahrungen verdichtet hat. Das Gesetz an sich unterliegt nach Sinn und Wortlaut der Deutung, wurde von Ptolemäus anders gedeutet als von Kopernikus und darf sogar in unseren Tagen im Sinne der Andersmöglichkeit wenigstens erörtert werden. Ein großer Mathematiker hat es zum Schrecken mancher Zeitgenossen ausgesprochen: die Lehre, »die Erde dreht sich«, hat keinen Sinn, da keine (direkte) Erfahrung sie erhärten kann; die beiden Behauptungen, »die Erde dreht sich« und »es ist bequemer, anzunehmen, daß die Erde sich dreht«, haben denselben Sinn, denn in der einen steckt so wenig als in der anderen. – Er wollte gewiß keine antikopernikanische Lehre aufstellen, er selbst hat sich auch gründlich dagegen verwahrt. Er wollte nur bekennen, daß zur sozusagen metaphysischen Gewißheit die Erfahrung nicht ausreichen kann, während die absolute Lebensüberzeugung jedes Einzelnen nichts anderes braucht als eben jene Erfahrungen. Sie verstatten keinen Zweifel, sie spielen nicht mit der Wahrscheinlichkeit, sondern sie stellen die Gewißheit fest, mit ihrer ausdrucksvollen Zahl, die wir beim Nachrechnen zwar als Millionen erkennen, deren lebendige Wirkung aber die der Unendlichkeit ist.

Und wieviel Menschen haben an diesen Erfahrungen teilgenommen? damit geraten wir hoch in die Milliarden, in die Billionennähe. Ihnen allen war und ist die Zeitlichkeit beschieden nach der Schullogik: Alle Menschen müssen sterben; Cajus ist ein Mensch, folglich muß Cajus sterben. Der Obersatz besitzt einen statistischen Wert, dessen Gültigkeit, rund ausgedrückt, durch die Billion gestützt wird. Ein gegenteiliger Fall ist nicht bekannt geworden. Folgt daraus seine ewige Wahrheit? Nein, – nur ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit, bezeichnet durch n dividiert durch n+1, wobei n die Zahl aller bisher verblichenen Personen bedeutet. Daraus folgt streng logisch nur das eine: daß Cajus nicht sterben muß, daß man die absolute Notwendigkeit seines Todes nicht behaupten kann, solange in jenem Bruch Zähler und Nenner nicht gleich geworden sind. Dies aber kann erst bei einem n eintreten, das unendlich geworden ist. Besteht trotzdem die Gewißheit, daß Cajus keine Ausnahme bilden wird, so zeigt dies an, daß wir die Vertauschungsgrenze erreicht und überschritten haben, daß wir die Ermeßlichkeit der Billion ablehnen und sie restlos mit »Unendlich« übersetzen.

Die Deutungen gewisser physikalischer Erscheinungen, z. B. in der Spektralanalyse, vertragen für den Grad ihrer Bestimmtheit die Wette: Trillion gegen Eins. Sie sind darum nicht sicherer als die Tatsache, daß Cajus sterben muß, und daß auf unseren Breitengraden innerhalb vierundzwanzig Stunden einmal Tag und einmal Nacht werden muß. Mit einem scharfen Strich läßt sich also die Vertauschungsgrenze nicht bezeichnen. Sie fließt, je nach den Denkakten, aber sie ist jedesmal vorhanden, wo es sich um die Erkennung der sogenannten »Gewißheiten« handelt. Denn im Grunde genommen ist überhaupt nichts gewiß, nicht einmal die begrenzte Zahl. Wir legen nur in Sprache und Gewohnheit die Dinge zurecht, wie sie uns grade passen; so nennen wir ganz unbedenklich ein bestimmtes Gliedertier »Tausendfuß«, obschon noch niemals irgend ein solches Geschöpf 1000 Füße besessen hat. Im Kleinen wie im Großen unterliegen wir einem Denkzwang mit der Wirkung, daß wir nach oben abrunden. Und es vergeht nicht eine Stunde, ohne daß wir die Endlichkeiten unserer Umwelt mit unendlichen Werten ausstatten.


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