Alexander Moszkowski
Ernste und heitere Paradoxe
Alexander Moszkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ein glorioser Augenblick.

Abseits vom brüllenden Lärm der Weltstadt und doch nahe ihrem mächtigsten Verkehrszuge tagt seit einem Menschenalter ein – stock' ich schon, wer hilft mir weiter fort? Das, was dort hier tagt, nennt sich selbstbescheiden genug »Stammtisch« und setzt sich damit einer ebenso platten wie falschen Deutung aus; denn um den Begriff eines norddeutschen Stammtisches flimmert ein Gemisch von Dünnbier, Eisbein, Philistergeschwätz und Hausschlüsselnot, das sich um diesen Kreis vornehmer und illustrer Persönlichkeiten niemals lagern kann. Als einen Klub der Geistesgrößen würde ich ihn bezeichnen, wenn ein Klublokal vorhanden wäre; als ein Parlament, wenn er aus Wahlen hervorginge und nichts zu sagen hätte; als einen Verein, wenn er auf Statuten herumritte; als eine Tafelrunde, wenn getafelt würde. Nichts von alledem trifft zu. Dieser Kreis entzieht sich dem Vergleich und schwebt über den Definitionen. Bedeutende Federn haben ihn zu analysieren versucht, sind aber im Anlauf stecken geblieben; nur so viel wußten sie zu sagen, daß hier in der Symphonie des Berliner Lebens ein besonderer Ton angeschlagen wird, und nicht etwa der Unterton eines Stammtisches, eher der Oberton eines Areopags. Hier fehlt also im Wortschatz die Begriffsnuance, die dem Wesen dieses Kreises gerecht würde. Nennen wir ihn den Überstammtisch!

Sollte ich einmal den Vorzug haben, dich, verehrter Leser, dort einzuführen, so waffne dich auf dem Wege mit Scharfsinn und Kenntnissen. Du wirst sie nötig haben, wenn du nicht in deines Nichts durchbohrendem Gefühle zusammenklappen willst. Sprich, wovon du willst – es sind Überlegene vorhanden. Dort sitzt der Politiker, der nicht nur weiß, was in der letzten englischen Thronrede gestanden hat, sondern was in der nächsten stehen wird, und zwar wortgetreu. Dort der gewaltige Parlamentarier, der in seines Gewandes Falten die Entscheidung über das wichtigste Gesetz der Folgezeit trägt. Neben ihm der gefeierte Anwalt, von dessen sensationellen Plädoyers der ganze deutsche Blätterwald rauschende Kunde gab. Gegenüber der Finanzmagnat, dessen Lächeln Hausse und dessen Stirnrunzeln Baisse bewirkt. An einem Schälchen Mokka nippt der gefürchtete Kritiker, der täglich eine Kunstgröße zum Frühstück schlachtet. Und so Typ bei Typ, einer immer gewaltiger als der andere. Sprich, was du willst, entwickle eine Ansicht, stelle eine Behauptung auf, konstatiere eine Tatsache: von irgendwoher wird eine autoritäre Lawine daherrollen, die dich in der Sekunde begräbt und bis zur Unauffindbarkeit verschüttet. Und du darfst noch von Glück sagen, wenn sich dein Schicksal in solcher Form der Tragik vollzieht; es kann dir auch passieren, daß ein persönlich zugeschliffenes Epigramm von unerhörter Feinheit dich zu Tode beißt, ohne daß du es merkst, oder daß ein eisiges Schweigen von schärfster Eloquenz dir deine Minderwertigkeit zu Gemüte führt.

Es ist also wirklich ein bißchen schwer, sich an diesem Überstammtisch durchzusetzen oder gar eine Weile zu behaupten. Und es kann allenfalls nur gelingen, wenn man sich auf ein Spezialgebiet wirft, das von der großen Linie der Diskussion abzweigt.

Solch ein Sonderwissen wollte ich mir aneignen, um einen Dauertrumpf gegen die ganz Großen des Überstammtisches in der Hand zu haben. Ich dachte zuerst an die Bakterienforschung, an die Radiumtherapie und an den Sanskrit. Allein diese Disziplinen zeigten einen gemeinsamen Übelstand: sie waren zwar spezial, aber doch etwas zu abgelegen; nicht zu erreichen im Fluß einer allgemeinen Debatte. Eines Abends blickte ich um mich und nahm die Statistik des Kreises auf; jetzt hatte ich es: ein Zoologe fehlte! Soweit der Horizont reichte, kein Zoologe! und in diesem Augenblick stand es bei mir fest: du studierst Zoologie! Mögen sie dann reden, wovon sie wollen, du kommst ihnen als Fachmann einer Wissenschaft, die unausweichlich neben jedem erdenklichen Thema liegt.

Vom Löwen des Tags bis zum Schwarzen Adler, den er auf der Brust trägt, vom Stimmvieh bei den Wahlen bis zum Schwein, das zur Majorität verhilft, von der Rhinozeroshaut, die nach eines Kanzlers Ausspruch jeder hohe Staatsbeamte tragen muß, bis zum Elefanten, den der Agitator aus der Mücke zu machen versteht – alles erlaubt den Übergang zur Tierkunde; keine Debatte erscheint denkbar ohne zahllose Haken, an die man die Trophäen zoologischen Wissens aufhängen kann, vorausgesetzt natürlich, daß man über Spezialkenntnisse verfügt, die den andern imponieren. Daher mein Entschluß: von morgen ab wird Zoologie studiert!

Seines Fleißes darf sich jedermann rühmen, sagt Lessing, und es fällt mir auch nicht im Traume ein, mich deswegen mit einem Mann wie Lessing in Konflikt zu setzen. Ich rühme mich also mit allem Nachdruck, in den nächstfolgenden Wochen außerordentlich fleißig gewesen zu sein und eine Masse Wälzer durchgeblättert zu haben, unter denen Brehms Tierleben und der Große Brockhaus durch Schmalheit auffielen. In den Zwischenpausen ging ich ebenso fleißig in den zoologischen Garten, trieb vor den Gittern vergleichende Naturwissenschaft, las die Aufschriften, suchte in den Tierleibern verkapselten Welträtseln auf die Spur zu kommen und aß dazu sehr viele Heftersche Würstel wundervollen Angedenkens. Im Laufe dieser Untersuchungen bestürmten mich zahllose Fragen, an denen die Fachleute der Zoologie, wie es scheint, bisher achtlos vorbeigegangen sind: Warum haben die Raubtiere und die großen Robben englische Tischzeit? Warum schlafen die Winterschläfer auch im Sommer? Wieso kommen auf ein weißes Hermelinfell zehn schwarze Hermelinschwänzchen? Womit putzen die Dickhäuter ihre Zähne? Wie kommt der Eisbär ohne Gefrorenes aus?

Das Staunen über das Alltägliche ist die Grundlage aller ernsten Forschung. So hat Newton vor lauter Verwunderung über einen fallenden Apfel das Gravitationsgesetz, James Watt vor Verblüffung wegen eines Teekochers die Expansionskraft des Dampfes gefunden. Und nach derselben Methode wollte ich nunmehr zu zoologischen Tiefgründigkeiten gelangen, von denen meine Kollegen am Stammtisch nicht die leiseste Notiz besaßen.

Im weiteren Fortgang gelangte ich dazu, meinen zoologischen Studien eine philosophische Färbung zu geben. Die Umwertung aller Werte, die Friedrich Nietzsche nur angedeutet, aber nicht durchgeführt hat, mir sollte sie gelingen, indem ich das Tierbewußtsein zum Ausgang einer neuen Spekulation ersah. Mir fing es an aufzudämmern, daß das Tier nicht unterhalb des Menschen stünde, eher im Gegenteil. Zahlreiche Beweise hierfür fielen mir ein, während ich vom Gnu zum Doppelorchester hin und her wandelte. Die Professoren haben die Eule zum Sinnbild der Weisheit erkoren, während es noch keiner Eule eingefallen ist, als Symbol des Wissens einen Professor zu wählen. Fünfundzwanzig Pfund Fische verzehrt der Seelöwe bei seiner Tagesmahlzeit gratis und ohne üble Folgen, während der Mensch für ein Stückchen Hecht sechs Mark zahlen muß und an einer Gräte erstickt. Diesen Duktus suchte ich bis zu einer neuen darwinistischen Theorie auszuspinnen, die den gefleckten Mandrill als die Krone der Schöpfung verkünden sollte.

Aber während ich noch dabei war, diese neue Wertskala auszuarbeiten, wehte mir der Zufall ein Stück Papier in die Hand, das die wirklichen Wertmaße der wichtigsten Tiere bestimmte. Es war ein Preisverzeichnis der Firma Hagenbeck in Hamburg, das kurz und bündig die wahren Werte aller exotischen Arten notierte. Wie Herr Hagenbeck darauf verfallen war, in mir einen Kauflustigen zu vermuten, das bleibe im Dunkeln. Genug, sein Preiskurant lag eines Tages auf meinem Schreibtisch und mit ihm eine Fundgrube speziellen Wissens, das keinem andern Stammtischherrn zugänglich sein konnte. Ein Paar bengalische Tiger, ein Meter Schulterhöhe, kostet sechstausendfünfhundert Mark, ein männlicher nubischer Löwe vier Jahre alt, eintausendfünfhundert Mark, ein männliches Nilpferd zehntausend Mark – wer hat von diesen Dingen auch nur eine Ahnung? Wer weiß, wieviel ein Bartgeier, eine Zibetkatze, ein Känguruh, eine Hyäne gilt? Wer hat eine Vorstellung davon, daß Alligatoren, Krokodile und Riesenschlangen nach der Länge verkauft werden wie Tapeten?

Hier hieß die Parole: Auswendiglernen und dann im geeigneten Momente das Memorierte losschmettern. Den hätte ich sehen mögen, der dabei nicht Augen und Ohren aufgesperrt hätte! Selbst der gebildetste Berliner wird nicht angeben können, wieviel ein ganz gewöhnlicher Katzenmaki wert ist, wie soll er da gegen mich aufkommen, der ich in alle Preisgeheimnisse bis hinauf zum indischen Elefanten eingeweiht bin?

Die Liebe zur Sache stärkte mich mit einem wahren Mithridatesgedächtnis, und nach drei Tagen hatte ich den ganzen interessanten Katalog im Kopf. Am Abend des vierten ging ich im Vorgefühl meines Triumphes an den Überstammtisch. Dort waren schon etwa zehn Herren, unter ihnen ein Fremdling, der als Gast eingeführt war, ein freundlicher blonder Mann mit einem hellen Kastorhut, offenbar ein Provinziale, ein Außenseiter, dem man im ersten Anlauf bequem imponieren konnte. Aus dem Vorstellungsgemurmel wurde ich nicht recht klug; es gehört zu meinen berechtigten Eigentümlichkeiten, daß ich beim Akt der Vorstellung immer nur meinen eignen Namen verstehe, und der genügt mir in den meisten Fällen. Ob der andre Schulze oder Meier oder Cohn heißt, ist ja wirklich recht gleichgültig. Ohne mich dabei aufzuhalten, begann ich sofort auf mein eigentliches Thema zu präludieren: wie dem Herrn Berlin gefiele, ob er schon im Zoologischen Garten gewesen sei. Der Fremdling erklärte, Berlin gefiele ihm so weit ganz gut, und den Zoologischen habe er bereits besucht. »Wenn Sie wieder einmal hinkommen,« so fuhr ich fort, »betrachten Sie doch einmal aufmerksam die amerikanischen Tapire. Es sind Prachtexemplare, in denen ein Vermögen investiert ist: so ein Tapir kostet nämlich eintausendfünfhundert Mark.«

»Ach, ich glaube, Sie übertreiben ein wenig,« entgegnete der andre in höflichem Tone, »einen Tapir sollte man wohl schon für achthundert Mark kaufen können.«

So sanft dieser Einwand ertönte, so heftig reizte er meine Opposition. Da kommt irgend ein Jemand hereingeschneit und rät auf gut Glück in Werten herum, während er doch schon aus der apodiktischen Sicherheit meiner Aussage erkennen muß, daß ihm ein Fachmann gegenübersitzt.

Der Stammtisch hatte die Sachlage auch sofort begriffen. Er begann zu lächeln, über den armen Laien zu lächeln, der sich eine gründliche Abfuhr von mir holen mußte.

Ich gewann Haltung, und in überlegener Positur belehrte ich den Blonden: »Es ist ja absolut nicht erforderlich, daß Sie auch nur die geringste Fühlung mit derlei Dingen besitzen. Dazu muß man eben Spezialist sein. Was mich betrifft, so haben mich meine Forschungen auf einem Seitenweg gerade auf dieses Feld gelenkt. Und kraft meiner besonderen Beziehung zu Hagenbeck, Telegrammadresse Hagenpark Hamburg, stelle ich die Tatsache fest, daß es ein Nonsens ist, für achthundert Mark einen amerikanischen Tapir zu verlangen. Hier handelt es sich um feste Preise, mein Herr, die höchstens dann eine Ausnahme erleiden könnten, wenn Hagenbeck einmal eine billige Tapirwoche anzeigen sollte, was bisher noch niemals der Fall war. Ich werde Ihnen sagen, was Sie für achthundert Mark bekommen können: vier männliche Somali-Esel! Die sind freilich billig. Was ich betonen wollte, sind aber gerade die enormen Ausgaben, die durch die Erwerbung der seltenen, wertvollen Tiere unserm Zoologischen Garten erwachsen. Vergegenwärtigen Sie sich, mein Herr, daß ein einziger Eisbär mit dreitausendfünfhundert Mark und ein männliches Nilpferd, Hippopotamus amphibius, mit zehntausend Mark bezahlt wird!«

»Ohne Ihnen direkt widersprechen zu wollen,« meinte der andre, »möchte ich doch die Möglichkeit andeuten, ein Nilpferd schon für neuntausend Mark erwerben zu können.«

Abermaliges Lächeln in der Runde, das trotz seiner diskreten Färbung die Genugtuung der Korona über die hilflose Lage meines Gesprächspartners deutlich genug verkündete.

Mir blieb jetzt die Wahl, entweder sehr ausfällig zu werden und meinen Gegner mit der ganzen Wucht meiner zoologischen Autorität zu zerschmettern, oder auf dem sicheren Standpunkt meiner genügend erhärteten wissenschaftlichen Superiorität behaglich auszuruhen. Ich wählte die großmütigere Fassung und stimmte das Gespräch fortan auf den Ton einer herablassenden Würde, bis sich der Gast empfahl. Ich kann sogar sagen, daß ich ihm mit einem Gefühl der Dankbarkeit nachblickte. Hatte er mir doch als Sockel für meine eigne Erhöhung gedient, unabsichtlich, aber darum nicht weniger wirksam.

»Wer war doch dieser Herr eigentlich?« fragte ich. »Ich habe vorhin seinen Namen nicht verstanden.«

Und von einem wahren Zuckergenuß allseitigen Lächelns umgeben, flötete mir der Bescheid entgegen: »Oh, mit dem haben Sie es ausgezeichnet getroffen – das war Dr. Keck, der Direktor des Berliner Zoologischen Gartens!«


 << zurück weiter >>