Alexander Moszkowski
Ernste und heitere Paradoxe
Alexander Moszkowski

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Der alte Herr auf der Schulbank.

In Breslau auf dem kleinen, stillen Platz zwischen der ehrwürdigen, hochgetürmten Elisabethkirche und der vormaligen Lateinschule. Da steht ein Schüler der Anstalt, heftet den Blick auf die Fenster, die ehedem den Klassen, der Aula, angehörten und verliert sich in weit zurückreichende Erinnerungen. Jugendliches wogt in ihm, Jahrzehnte scheinen ausgelöscht. Denn der Schüler zählt, gelinde gesagt, zu den älteren Semestern; unter den bemoosten Häuptern zu den bemoostesten. Kaum noch kann er sich auf die Einzelheiten seines eigenen Sechzigjahrjubiläums besinnen. Aber die Freuden und Leiden seiner Gymnasialkindheit stehen lebhaft vor ihm.

Ich könnte in novellistischer Ausdrucksweise sagen, daß ein unerklärlicher Drang mich immer wieder auf diesen kleinen Schulplatz geführt hat und noch hinführt. Aber das würde ja zu der Wahrhaftigkeit dieses Berichtes nicht stimmen: jener Drang ist unwiderstehlich, aber nicht unerklärlich. Das Ende strebt psychologisch immer zum Anfang; die Erinnerung überspringt die Mittelsprossen und sucht die Anfangsstufen. Und um so heftiger, je größere Zeitspanne sich dazwischen lagert. »Man ist so jung, wenn man alt wird.« Das Wort ist nicht von mir, aber das Gefühl: hier in diesem alten Elisabethan hast du deine erste Hose entzweigerissen, das ist ganz bestimmt von mir.

Und um diese Hose gruppieren sich die Persönlichkeiten, die unsere ersten Schritte leiteten. Das waren hohe Berühmtheiten im alten Breslau, deren Ruhm man sich heute aus schwer zugänglichen Chroniken zusammensuchen muß. Aber aus diesen vergilbten Blättern würde ein lebendiges Bild nicht mehr aufsteigen. Das steht nur vor dem Blick des Schülers, der dort auf das graue Gemäuer starrt und das Ende mit dem Anfang verknüpft.

Da ragt der alte Schulmonarch vor ihm auf, der gewaltige Lateiner Professor Fickert, der uns damals einen geradezu gottväterlichen Respekt einflößte. Seine hohe Gestalt, sein bedeutender, in dunkelem Bartrahmen eingebetteter Rabbinerkopf, seine diktatorische Sprechweise, seine für uns ganz unermeßliche Gelehrsamkeit vereinigten sich zu einer Gesamtwirkung, die uns von den Unterklassen bis zur Prima in demutvollem Knieschlottern erhielt. Vom »Übermenschen« kannten wir noch nicht das Wort, wohl aber die Erscheinung, das war er, der Direx, Rektor, Rex, dessen Normalstimmung, bei innerer Grundgüte, der Zorn war, und der, wenn der göttliche Groll über ihn kam, auf Lateinisch und Griechisch donnern konnte. Ohne ein Buch in der Hand zu haben, dozierte er Tacitus bei den Gereiften, dann erschien er plötzlich, ohne Rücksicht auf den Stundenplan, in Quarta, in Quinta, und wußte sich vor Verwunderung nicht zu lassen, wenn die Knirpse seinen klassischen Adlerflügen nicht zu folgen vermochten. Eine dunkle Sage ging von ihm, er wäre dem Menschengesetz des Schlafes nicht untertan; Tatsache war, daß er für seine Person die spätere Sommerzeit in schärfster Potenz vorweggenommen hatte: er erhob sich regelmäßig um drei Uhr früh vom Lager und hatte schon ein Tagewerk hinter sich, ehe er begann, den Schülern und Lehrern leibhaftig zu imponieren. Auch den Lehrern; denn wir, die Jungens und Jünglinge, hatten allesamt die Empfindung, daß die übrigen Magister vor dem Magnificus nichts anderes bedeuteten, als furchtsam weggekrümmte Würmer.

Wenigstens solange er in Sicht war. Als Ding an sich heischte auch Professor Kambly, der Mathematiker, einen recht ansehnlichen Ehrfurchtstribut. Klein, rotblond, blinzelnd und fistelstimmig entschleierte er uns auf Grund seiner eigenen, noch heute brauchbaren Leitfäden die Elemente der Zahlen- und Raumlehre mit einem seltsamen Gemisch von Pedanterie und Ironie. Nie wich er um Haaresbreite von seinem eigenen Schema: »Voraussetzung – Behauptung – Beweis«, und nie verflog sein höhnender Falsettklang der Klasse gegenüber, die ihm als der Abgrund der Talentlosigkeit erschien. Nur da ganz oben, in Oberprima, so raunte das Gerücht, säßen zwei Zukünftige, die selbst vor Kambly Gnade fänden. Die beiden Primaner hießen Pasch und Rosanes, und beide sind später tatsächlich Leuchten der exakten Wissenschaft geworden. In jener grauen Vergangenheit fehlte uns natürlich der Maßstab; wir dachten uns, daß Pasch und Rosanes einmal so was werden könnten wie Euklid und Pythagoras, ohne doch jemals einen Kambly zu erreichen.

Andere mythologische Figuren tauchten auf: der schon damals uralte Oberlehrer Dr. Stenzel, genannt Papa Stoh, der in Oberquarta Latein gab und Römische Geschichte nach besonderer Methode: er machte nämlich knorrige Witze über Grammatik und Syntax, über Cäsar und Sulla, und gab uns zwischendurch zu verstehen, daß Nepos und Cicero eigentlich ziemlich schwache Lateiner waren. In meinem Gedächtnis rumorte ein verschüttetes Wunder: ich konnte nämlich als junger Elisabethaner niemals begreifen, wieso wir Schüler doch manchmal, halb- oder ganzjährig, versetzt wurden, während ein solcher Gelehrter wie Papa Stoh, der besser Latein konnte als Nepos und Cicero, dauernd in Oberquarta sitzen blieb. Und neben diesem Wunder meldeten sich allerhand Unannehmlichkeiten: zahlreiche schriftliche Arbeiten, die meiner Feder erblüht waren und katastrophal geendet hatten: mit einem verurteilenden Rotstrich quer übers ganze Manuskript und der grellen Randbemerkung von der Hand des Ordinarius: »Abscheulich!« »Pfui!« Und warum diese Bluturteile? Weil ich »ut« mit dem Indikativ konstruiert oder ein anerkanntes Neutrum maskulin behandelt hatte! Ganz bestimmt, mir war Unrecht geschehen; solche Abweichungen von der Schulregel kamen doch sogar bei den Klassikern vor. Immerhin, der rote Strich war noch glimpflich gegen manches andere.

Richtig! Ich hatte ja auch mit dem Karzer Bekanntschaft gemacht. Ja, im Schulkerker saß ich gefangen, auf Grund eines schauerlichen Fundes, den man in meinem Tornister »geklappt« hatte, in der Gegend von Tertia. Lose Reime waren es gewesen, von meiner Pennälerhand hingeklaut, mit etlichen borstigen Anspielungen gegen einen Lehrer. Moral: man soll keine satirischen Verse machen, solange man der obrigkeitlichen Zensur untersteht. Jedenfalls habe ich mich späterhin sehr gebessert. Keines meiner gedruckten Gedichte hat mir ein Los beschert wie jenes erste ungedruckte, das mich vom Gipfel des Parnasses in den Schlund des Karzers schleuderte.

Um die Wahrheit zu gestehen: ich muß in jenen Zeiten eine gewisse Anlage zum Strolch besessen haben. Alle Milch meiner späteren sanften Denkart vermag das lange Strafregister meiner Elisabethan-Jahre nicht fortzuwischen. Also hat sich Schopenhauer mit seiner Lehre vom »inkorrigibeln Charakter« böse vergriffen. Übrigens galt ich trotz aller strolchhaften Entgleisungen als guter Schüler. Und während ich so meinen Erinnerungen nachhing, dachte ich dreier schöner Prachtbände, die noch heute in meiner Bücherei stehen, mit dem Aufdruck: Praemium pro studio et virtute, datum in Gymnasio Elisabethano.

Eine Phantasie ergriff mich: Wie, wenn es möglich wäre, die ganze Zwischenzeit so vieler Jahrzehnte mit einem Ruck zu tilgen? Unmöglich! absurd! sagt die Vernunft. Credo quia absurdum! ergänzt die Einbildungskraft; weil es unmöglich ist, deshalb läßt es sich verwirklichen.

Und so ist es gekommen. Freilich der alte Schulbau ist längst verlassen, und das heutige Elisabethan zeigt sich als ein Prachtbau an anderer Stelle Breslaus, in der Arletius-Straße, so genannt nach Caspar Arletius, einem vorzeitlichen, ruhmumwobenen Herrscher der Anstalt. Aber auf den genus loci kommt es an, der sich in der Zeiten Ablauf unverändert erhält. Der derzeitige Direktor, Professor Wiedemann, bereitete mir einen Empfang, der mich ermutigte, ihm mein Anliegen vorzutragen: ich bat ihn, mir zu gestatten, wieder einmal Schüler zu sein. Auf der Schulbank wollte ich sitzen, ich, der alte Herr, gleichviel wo, und eine volle Klassenstunde mitmachen in der Reihe der jungen Kommilitonen.

Ganz leicht ist es mir nicht geworden, meinen Antrag in Form zu bringen. Denn im ersten Anfang sank ich fast zusammen vor der Würde dieses prachtvollen Magisters; ich kam mir vor wie der Junge von ehedem, wenn er zu seinem Rektor von ehedem aufsah. Aber Professor Wiedemann ist erheblich jünger als ich, und meine persönlichen Elisabeth-Erinnerungen reichen weiter zurück als die seinigen. Das schuf den Gesprächsboden und bereitete mir bei dem feinsinnigen Herrn eine Stimmung, die meinem phantastischen Verlangen entgegenkam.

Lächelnd nickte er Gewährung. Mein Wunsch wäre zwar absonderlich und in keinem Lehrplan der Welt vorgesehen; aber die Absicht entsprösse einem Gefühl der Pietät und solle deshalb in Erwägung gezogen werden: was für eine Stunde ich denn besuchen möchte?

»Am liebsten natürlich eine von Ihnen selbst geleitete in Latein oder Griechisch.«

Das ergab eine Schwierigkeit. Die Lektionen des Direktors waren für diesen Tag vorüber. Ob ich bis zum folgenden warten wolle?

Aber das widersprach meiner Traumbegier, die auf Zeitverkürzung drängte, auf Augenblicklichkeit. Jetzt oder niemals hieß die Losung; und jetzt begann gerade Experimentalphysik in Unterprima. Dahin geleitete mich der Direktor, um mich dem Präzeptor, Oberlehrer Dr. T., und seinen Jüngern vorzustellen.

Die Klasse sprang auf, um die Kundgebung des Oberhauptes respektvoll entgegenzunehmen; der Oberlehrer begrüßte mich als neuesten Zögling und lud mich zum Platznehmen ein.

Und so habe ich alter Herr wahr und wahrhaftig im Sommer von 1916 auf der Schulbank gesessen und die Anfangsgründe der Physik gelernt.

Tatsächlich: es gab zu lernen, vor allem das eine, wie man so eine Stunde vor Unterprimanern geben soll. Der Herr Oberlehrer machte das einfach meisterhaft. Zwanglos im Vortrag, mit völliger Beherrschung des Gegenstandes führte er seine Experimente vor. Auf der Tagesordnung standen: Messung des Luftdrucks, Quecksilberbarometer, Torricelli, mit Ausblicken auf Galilei, und die Philosophia naturalis des Newton.

»Zu meiner Zeit« war das anders. Wenn unser alter Kambly anno olim seine Experimente erledigte, so geriet er immer schon im ersten Anlauf auf den toten Punkt. Die Stunden wurden von der Tücke des Objekts regiert, und in den Annalen des alten Elisabethans gab es kein gelungenes Experiment. Sie mißglückten restlos, und in jenen Apparaten waren alle Dämonen vereinigt, die sich von Archimedes bis auf Helmholtz gegen irgend ein Experimentalergebnis verschworen.

Aber unter den Händen dieses Gymnasiallehrers einer neuen Zeit gedieh alles mit der schönen Selbstverständlichkeit wie in einem Lehrbuch. Leicht bei einander wohnten die Gedanken, ohne daß sich die Sachen hart im Raume stießen. Zahlreiche Querfragen durchkreuzten dabei die Luft und wurden von den aufgerufenen Jünglingen trefflich beantwortet. Ich hätte was drum gegeben, wenn ich auch einmal »drangekommen« wäre. Aber soweit ging der amtierende Lehrer nicht. Er hielt sich genau in den Grenzen seines Programms und überließ es dem Eindringling, sich mit der Rolle abzufinden, die ihm des Direktors Macht und Güte angewiesen hatte..

Mehr als genug für mich. Ein Traum war Wahrheit geworden mit einem Rückwärtssprung über Menschenalter, mit der Verwirklichung einer Phantasie, die in die letzten Ausläufer der Erkenntnis hineinspielt und dort als »Umkehrung der Zeit« ein spukhaftes Dasein führt.


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