Alexander Moszkowski
Das Geheimnis der Sprache
Alexander Moszkowski

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Abgebrochene Kristalle

So viele Sprachen einer versteht, so viele Male ist er ein Mensch.

Dieses schöne Wort des Kaisers Karl V. ist mit Vorsicht zu genießen. Mithridates von Pontos, der Große zubenannt, sprach die Sprachen von 22 ihm unterworfenen Völkern und mag ja wohl eine Vollnatur gewesen sein. Bei Giuseppe Mezzofanti, der am Ende seines Lebens 58 Sprachen beherrschte, regen sich die Zweifel. Er wird bei der Anstrengung, die er seinem Gedächtnis zumutete, kaum Zeit gefunden haben, 58 mal sein Menschentum zu entwickeln. Wir haben an unseren Gerichtshöfen vereidete Dolmetscher, die in mehr als einem Dutzend Sprachen sattelfest sitzen, und wir wissen anderseits, daß wirklich tiefe Gelehrte und Menschen von innerer Bedeutung nicht über ihre Muttersprache hinausgekommen sind. Jenes Wort wird vielleicht richtiger, wenn wir den Besitz des Griechischen fünffach, des Lateinischen zehnfach, beider Sprachen zusammen zwanzigfach bewerten. Karl V. selbst hat die Vorsicht gebraucht, seinen Satz lateinisch auszusprechen: Quot linguas quis callet, tot homines valet.

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Von d'Alembert: »Es gibt keinen erhabenen Stil: der Gegenstand muß erhaben sein.«

Das ist die notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung. Es kann einer über [einen] erhabenen Gegenstand elend schreiben, ja er ist gar nicht in der Lage, ihn in gutem Stil zu behandeln, wenn der erhabene Gegenstand ihm nicht gehört; wenn er ihn nur wählt, um darüber zu schreiben. Dagegen wird jeder Gegenstand, über den der Schreiber besonderes zu sagen hat, ihm allein angehöriges, zu einem erhabenen. Und dann ist der gute Stil nicht die Folge des Gedankens, sondern seine ganz selbstverständliche äußere Erscheinung.

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Von Friedrich Vischer: »Eine Rede ist keine Schreibe.«

Aber eine Schreibe verliert dadurch nicht an Wert, daß sie eine Rede ist; ja sie wird eigentlich um so besser, je mehr sie sich der Rede nähert. Wenn ihr die Schreibe prüfen wollt, so lest sie vor. Ist sie dem Hörerkreis überhaupt verständlich, so muß sie in lebendiger Stimme gewinnen, sonst taugt die Schreibe nicht viel.

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Der Lehrmeister der Rhetorik, Quintilian, stellte den Grundsatz auf: In einer Rede müssen die schlechten Beweisgründe voran gestellt werden, damit die nachfolgenden guten desto stärker wirken. Cicero war der entgegengesetzten Meinung: die guten voran, die schlechten nachher!

Aus diesem Widerstreit der Lehren haben einige Sprachvögte unserer Tage die Resultante gezogen: In ihren Anklagereden gegen die deutsche Prosa stellen sie einige schlechte Beweisgründe an den Anfang und einige andere schlechte Beweisgründe an den Schluß.

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Von Fritz Mauthner: »Es gibt nicht zwei Menschen, die die gleiche Sprache reden. Gemeinsam ist die Muttersprache etwa wie der Horizont gemeinsam ist; aber es gibt keine zwei Menschen mit gleichem Horizont, jeder ist der Mittelpunkt seines eigenen.«

Diese geistreiche Betrachtung läßt sich nach mancher Richtung ausfolgern. Man muß schon ein tüchtig Stück emporsteigen, um den Sprachhorizont erheblich auszuweiten; wogegen er rapide zusammenschrumpft, wenn man den Augenpunkt senkt. Und der Horizont wird Null, sobald der Blick nur noch an der Scholle herumsucht.

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Von Schopenhauer: »In der Literatur ist das Schlechte nicht nur unnütz, sondern positiv verderblich.«

Wem verderblich? der Literatur? das dürfte schwer zu beweisen sein. Nur zwei Annahmen sind möglich: Entweder bleibt es wirkungslos, – und das ist das Schicksal der ungeheuren Mehrheit, denn »wer nennt geschrieben das, was ungelesen bleibt?« – dann kann es auch nichts sonderlich verderben. Oder es wirkt, dann ruft nach mechanischem Grundgesetz die actio eine reactio hervor. Gesetzt, der Macchiavell war schädlich, so verdanken wir ihm den Antimacchiavell. Ohne die wirkende Kraft der elenden Ritterromane wäre Cervantes' Don Quixote nicht möglich gewesen. Und auf wieviele Seiten herrlichsten Schopenhauers müßten wir verzichten, wenn die Verderblichkeiten der Hegelei im Schrifttum nicht vorangegangen wären!

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Wenn Berlioz sagt: ich will mich nicht unterhalten, ich will das Fieber kriegen! so meint er die Musik; und wenn wir ihm das Bekenntnis an dieser Stelle nachsprechen, so meinen wir die Literatur. Erfüllt ein Werk des Schrifttums nicht die Bedingung, den Leser wenigstens an einer Stelle in Fieberwallung zu versetzen, so hätte sich der Leser die Bekanntschaft mit diesem Werk ersparen können. Ob der Anlaß zum gesteigerten Puls vom Herzen ausgeht oder vom Kopf, das ist gleichgültig. Die Innervation soll vorhanden sein, und der Knacks soll sich einstellen. Ist der Leser selbst Schriftsteller, so muß ihn im Anlauf des Fiebers ein Gemisch von Freude und Verzweiflung überfallen: der Freude darüber, daß ein anderer so etwas gekonnt, und der Verzweiflung, daß er, der Leser, das niemals können wird.

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Von Rückert:

»Du fragest, was du sollst, was nicht in Verse bringen?
Was dir in Prosa nicht zu fassen will gelingen.
Verloren ist die Kunst, in Versen vorzutragen,
Was du gefälliger in Prosa könntest sagen.«

Der weise Brahmane könnte diese Weisheit gegen Rückert selbst ausspielen, dessen vorstehender Gedanke sich ebensogut in Prosa sagen läßt. Und gegen die Gedankenpoesie, überhaupt, gegen nahezu den ganzen Rückert und drei Viertel vom Schiller. Aber Rückert legt den Ton nicht auf die Gleichwertigkeit des Inhalts, sondern auf das Gefällige. Und er hätte mit allem Recht ergänzen können:

Verloren ist die Kunst, in Prosa vorzutragen,
Was du gefälliger in Versen könntest sagen.

Cicero sagte, nach einer von Seneca zitierten Stelle: »Wenn ich auch das Alter zweier Menschen leben sollte, so würde ich mir doch nicht die Zeit nehmen, die lyrischen Dichter zu studieren.« Diese Ablehnung kann nur den Gefühlspoeten gegolten haben, die sich seitdem so fruchtbar vermehrten und später unserem Hebbel den Ruf entlockten: »Was noch nicht einmal Gedanke geworden, was Vorstellung geblieben, gilt für Anschauung! . . Wir haben jetzt mehr als ein Schock Poeten, deren ganze Poesie auf ihrem Denkunvermögen beruht.«

Hebbels Anschauung war hier zweifellos eine sehr niedrige. Sie wäre höher gewesen, wenn er von zwanzig Schock gesprochen hätte. Aber die nichtdenkenden Dichter sind gar nicht auf den Beifall der Denker angewiesen. Sie erringen den höchsten menschlichen Wert, das Glück, wenn auch nicht in der Literatur, so doch in ihrer persönlichen Empfindung. Und sie können sich dabei auf Sophokles berufen, der gesagt hat: »Im Nichtsdenken liegt des Lebens Glückseligkeit!«

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Jean Paul sagt: »Ein Buch, das nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, ist auch nicht würdig, daß man's einmal liest.« Diese Empfehlung wird zur Forderung verschärft durch Schopenhauer: »Jedes irgend wichtige Werk soll man sogleich zweimal lesen.«

Das »zweimal« in allen Ehren, aber das »sogleich« ist vom Übel. Es erinnert an das Vorgehen des Hans von Bülow, der die Neunte Symphonie an einem Abend zweimal aufführte und damit am Empfänger eine unzulässige Belastungsprobe ausführte. Die Zeitpause, die man dazwischen legen soll, ist eben so wichtig wie das Werk selbst. Die neunjährige Pause des Bedenkens, die Horaz dem Autor anrät – nonumque prematur in annum – könnte auch für den Leser das richtige Intervall darstellen. Hält das Werk diese Probe aus, dann war es nicht nur würdig, einmal gelesen zu werden, sondern es wird sich nach neun Jahren mit der neunfachen Gewalt einbohren.

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Zu einer Mechanik der Literatur besitzen wir wenig Material, aber einige Anläufe. Flaubert erklärte: »Nur im Sitzen kann man denken und schreiben«; dagegen Nietzsche: »Das Sitzfleisch ist grade die Sünde wider den heiligen Geist. Nur die ergangenen Gedanken haben Wert.«

Wer wird daraus eine Regel ableiten wollen? Nietzsches Wandrer- und Schatten-Gedanken konnten nur ergangen, Heines Gedanken in der Matratzengruft nur erlegen, Humboldts Gedanken nur erreist werden. Eine ganze Wissenschaft ist dadurch entstanden, daß Poncelet ihre Grundgedanken buchstäblich »ersaß«, bewegungslos in den Kasematten eines Gefängnisses. Der blinde Homer und der über seinen Kreisen brütende Archimed haben ihre Gedanken wahrscheinlich erhockt und erkauert. Ein künftiges Dichter- und Denkergeschlecht wird vielleicht Gedanken erfliegen. Aber das wird keinen Wesensunterschied bedingen. Ersessene Gedanken können Flügel haben, und erflogene können am Boden kriechen.

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Von Dürer: »Ein guter Maler ist inwendig voller Figur.«

Der gute Schriftsteller zeigt die nämliche Eigenschaft. Die Stärke seiner Vorstellung offenbart sich im Figürlichen, in der Fülle seiner Vergleiche, im symbolischen Ausdruck. Das Allerbedeutendste, was uns ein Galilei, ein Pascal zu sagen hatte, liegt im Zutagetreten der Figuren, von denen ihr Inwendiges voll war. Nicht nur alles Vergängliche, sondern erst recht alles Erschaffene, alles Dauernde ist ein Gleichnis, kann nur in Gleichnissen ausgesprochen werden, in Figuren der dichtenden Denker.

 


 


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