Alexander Moszkowski
Das Geheimnis der Sprache
Alexander Moszkowski

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In einer Sackgasse

Noch heute wird der Gebildete von dem Gedanken an den Brand der Alexandrinischen Bibliothek schmerzlich bewegt, an jene Katastrophe, der 700 000 Bände oder Rollen, der Inbegriff des damaligen Wissens, zum Opfer fielen; und er mag es sich dabei ausmalen, was wohl geschehen würde, wenn in unseren Tagen alle Bücher in Rauch und Flammen aufgingen. Die Frage ist gestellt worden, wesentlich im Zusammenhang mit einer zweiten von noch schrecklicherem Inhalt. »Man stelle sich einmal vor, sagt Mauthner,Kritik der Sprache, Band II es würden in allen Kulturländern plötzlich alle Schriften und Bücher für immer vernichtet, dazu auch der Gebrauch der Schrift; der Gebrauch der mündlichen Sprache aber bliebe erhalten. Es wäre wohl keine übertriebene Schwarzmalerei, wenn man behauptete, daß unsere Welt damit rasch in die Kulturzustände des Mittelalters zurücksinken müßte. Unsere Erfindungen und ihre Anwendungen in der Industrie und im Verkehr könnten vielleicht noch einige Tage oder Wochen oder Jahre weiter bestehen, aber endlich könnten keine neuen Maschinen mehr gebaut werden, ein Räderwerk nach dem andern aus dem Uhrwerk unserer Kultur würde stehen bleiben, und am Ende wäre unsere Zivilisation eine Ruine, wie die Kunstuhren an alten Münstern, die man nicht mehr in Gang bringen kann, weil der Schlüssel fehlt. Denn alle Wissenschaft, deren wir uns rühmen, ist so recht eigentlich nicht in der Sprache niedergelegt, sondern in der Schrift. Und wir stellen uns vor, was freilich noch schwerer vorzustellen ist, der Gebrauch der lebendigen Sprache würde in allen Kulturländern mit einem Schlage aufhören, der Gebrauch aber und das Verständnis der Schriften und Bücher bliebe erhalten (wie man die altchinesische Schrift wohl verstehen, aber nicht aussprechen kann), so wäre dieser Zustand der Menschheit vom Standpunkte des Dichters nicht eben schön zu nennen, aber ohne Unterbrechung könnte die Kultur der Welt ihre . . . Erfindungen weiter benützen und entwickeln.«

Wer sich mit dem Schluß befreundet – und mir scheint er unwiderleglich –, wird zu der Ansicht gelangen, daß die Summe der Schriften und Bücher für uns Lebende, nächst dem Leben selbst, das Wichtigste ist, was wir besitzen; und daß somit auch jede Angelegenheit und Bewegung der Sprache zunächst an diesem Wichtigsten geprüft werden muß. Was sie da bewirkt und verhindert, überhaupt anrichtet, hätte uns als erheblicher zu gelten, als jeder noch so starke Einfluß auf unsere Sprache der Mündlichkeit; zudem auch aus dem einleuchtenden Grunde, weil diese in ihrer Beweglichkeit, einem schädlichen Einfluß gegenüber wehrhaft bleibt, während die festgelegte Welt der vorhandenen Schriften aushalten muß, was auf sie eindringt, ohne die Möglichkeit eines Protestes oder Gegenangriffs.

Da droht nun ein Unheil von gar nicht auszudenkenden Abmessungen, ja eigentlich wäre es gar nicht mehr abzuwenden, schon vollzogen; denn die Herolde der neuen Sprachbewegung behaupten ja nichts Geringeres als den sicheren und nahen Untergang aller nicht sprachreinen – nach ihrer Definition reinen – Bücher und Schriften. Nun unterliegt es nicht dem allergeringsten Zweifel, daß nur ein verschwindender Bruchteil der Hunderttausende von Büchern dieser Anforderung genügt. Die ungeheure Masse der Deutschbücher ist, an jenem Maßstab gemessen, schon in der Anlage verdorben, in der Ausführung unrein, verwelscht oder wie man jetzt so liebenswürdig-neckisch sagt: vermauschelt; ihr Urteil ist gesprochen, sie können ihrem Schicksal nicht mehr entrinnen, das heißt, sie werden in absehbarer Zeit verschwinden, vor allen die von Halblatein und -griechisch wimmelnden wissenschaftlichen Werke. Und damit wiederholt sich eigentlich, nur ins Riesige vergrößert, der Brand der alten Alexandrinischen Bibliothek auf deutschem Boden. Soll man sich gegen diese Gefahr versichern? das dürfte schwierig sein, denn es brennt schon. Aber den Feuermelder wollen wir in Bewegung setzen, um zu retten, was noch zu retten ist.

Es darf nicht verschwiegen werden, daß sich unter den vorgenannten Herolden einige befinden, die zur freiwilligen Feuerwehr gehören. Nach ihrem Programm wären die nicht bedingungslos verlorenen Bände zu retten, wenn man sie imprägniert, wenn man sie in einer sprachlichen Lauge badet, die ihnen die gefährlichen Fremdkörper fortbeizt; unbildlich gesagt, wenn man sie aus ihrem Scheindeutsch in wirkliches Deutsch übersetzt.

Nehmen wir einmal an, dies wäre möglich; es fänden sich tausende von rührigen, geschickten und überzeugungstreuen Übersetzern, ungezählte Millionen neuer Druck- und Verlagskapitalien und Legionen von Lesern, die sich diese Verbesserung oder Verschlimmbesserung der vorhandenen Texte gefallen ließen. Unter Annahme dieser als möglich gesetzten Unmöglichkeit sähe man dann vielleicht einen Weg, auf dem die gefährdeten Werke ins Freie gebracht werden können. Sie wären dann anders geworden, nach unserer Auffassung schlechter, undeutlicher, aus der Universalhöhe in eine Plattebene hinabgedrückt, allein sie hätten dann doch wenigstens die Erlaubnis, mit hohem Privilegio weiterzuexistieren.

Nur zeigt sich dabei im ersten Anlauf eine unübersteigliche Schwierigkeit. Der Weg führt in eine Sackgasse, an deren Gegengemäuer sich der wagemutige Retter den Schädel einrennen kann.

Jene Werke haben nämlich nicht nur einen Inhalt, sondern Titel, Titel und Würden möchte ich sagen, und sehr viele dieser Titel wollen sich um alles in der Welt nicht übersetzen lassen.

Nur von diesen Titelbezeichnungen soll hier die Rede sein, von Deutschwerken und von Fremdwerken, die bei uns heimisch geworden sind; einschließlich aller Vervielfältigungen in Noten und Tafeln. Betrachten wir die Titel für sich, im Hinblick auf das Verfahren, dem sie zu unterwerfen wären, so müssen wir bekennen: sie ragen empor wie Köpfe mit persönlichem Ausdruck, mit Profil und lebendigen Augen, die uns anschauen mit Vorwurf, Anklage und Trotz. Diese Köpfe lassen sich nicht gefallen, was vielleicht noch auf einer Textseite angängig wäre. Wer sie umformt, der trennt ihnen die Nase ab, sticht ihnen die Augen aus oder schlägt sie, so groß wie sie sind, mit dem Hackmesser vom Rumpf.

Wollt ihr Beispiele? Schlagt in euren Büchereien auf wo ihr mögt, da stehen sie. Wie heißen Schopenhauers Parerga und Paralipomena, wie seine Grundprobleme der Ethik auf deutsch? es ist zur Not möglich, die Titel zu übersetzen, aber wer das tut, bringt die Köpfe der Werke unters Fallbeil. Die Person ihres Schöpfers verblutet unter dem Beginnen. Was soll werden aus Kants Prolegomena, aus seiner Kritik der reinen und der praktischen Vernunft, aus der Anthropologie, aus Hegels Hauptwerk Phänomenologie, aus Fechners Zendavesta? Sollen wir das zerlegen in Avesta und Zend, Text und Auslegung heiliger Schriften? Aber dann hört es doch auf, Fechners Buch zu sein, deckt sich nicht einmal annähernd mit seinem Inhalt! Tut nichts, wir handeln im Auftrag des erwachten Sprachgeistes, wir gehen an die Umtaufe von Humboldts Kosmos, von Lessings Dramaturgie, von Freytags Technik des Dramas, von Goethes Metamorphose der Pflanzen, von Schellings Briefen über Dogmatismus und Kriticismus, von Jakob Burckhardts Kultur der Renaissance und Cicerone, von Machs und Liebmanns Analysen, von all den Werken, die mit dem Ausdruck Renaissance pennälern, und kümmern uns nicht im geringsten darum, ob ihre Urheber sich dabei im Grabe herumdrehen. Das Verfahren wird ja so oft wiederholt, daß sie nach der zwanzigsten oder dreißigsten Umdrehung immer wieder richtig liegen.

Die Wesenheit des Titels ist gleich der eines Eigennamens. Und wenn uns ein fremdsprachiger Titel, wie Parerga und Paralipomena, teuer geworden ist, so hängen wir an ihm als an einem Schatz und wehren den Veränderer ab, als ob er uns sonst einen liebgewordenen Namen vergewaltigen wollte. Man mute es einem Max zu, seine Agathe fortan »die Gute« zu nennen, weil Agathe doch griechisch ist und wirklich auf reindeutsch gar nicht anders heißt als die Gute. Oder man verlange von einem deutschen Egmont, er möge nicht mehr für Clara, sondern für »die Helle« oder für »die Berühmte« schwärmen, im kosenden Diminutiv statt für Klärchen für sein »Berühmtchen«. Ich möchte nicht in der Haut des Antragstellers stecken. Und doch verhält sich Berühmtchen zu Klärchen gar nicht anders als irgend eine mögliche Übersetzung zu Kritik, zu Problem, zu Ethik, zu Analysis und hundert anderen Weltworten im Titel.

Aber das alles – so könnte man einwenden – betrifft doch nur das Gebiet der Gelehrsamkeit und berührt nicht das schöngeistige Schrifttum. Wirklich nicht? Ich glaube doch, daß unsere Herren Wiedertäufer auch im Felde der Dichtung recht viel Arbeit vorfinden könnten. Das ganze Heer der Balladen, Romanzen, Oden, Sonette, Xenien wartet schon auf sie; dazu Goethes Römische Elegien, Venetianische Epigramme, seine Campagne in Frankreich, Schillers Kabale und Liebe, Gryphius' Horribiliscribrifax, Ebers' Per aspera, Hauffs Memoiren des Satans und Phantasien im Ratskeller, Heyses l'Arrabiata und Märtyrer der Phantasie, Heines Romancero und Lyrisches Intermezzo, der Roman Quo vadis, Hoffmanns Automate, Fermate, Doge und Dogaressa, Andersens Improvisator, Freytags Journalisten, Fontanes L'Adultera, Ebers' und Harts Homo sum, Holteis Vagabunden und Nestroys Lumpacivagabundus, Hamerlings Homunculus, Storms Aquis submersus und so fort durch Unendlichkeiten bis zu Thomas Medaille und Lokalbahn und bis zu Sudermanns Morituri, wofür ich mich anheischig mache, in den bewußten Kreisen die Bezeichnung »Die Sterblinge« durchzusetzen.

Ich nenne diese Titel, wie sie mir grade durch den Kopf gehen, ohne im geringsten an deren geschichtliche Folge zu denken, und ich ergänze ebenso, außer Zusammenhang, aus anderen Schriftbereichen: Opitzens Deutsche Poeterei, Schillers Über das Pathetische, Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten, Über naive und sentimentalische Dichtung, Lavaters Physiognomik, Nordaus Konventionelle Lügen und Paradoxe, ja ich ergänze als eine Gesamtheit das grunddeutsche, unvergleichlich deutsche Kommersbuch, das wohl in irgendwelcher Zeit Festkneipenbuch heißen wird, falls es dann noch Universitäten, Studenten und Präsiden geben wird, die einen Cantus steigen lassen.

Jeder meiner Leser kann die Aufzählung aus dem Gedächtnis beliebig fortsetzen, aber nicht jeder weiß, daß solche Bestrebungen selbst den Titeln gegenüber sich tatsächlich schon hervorgewagt haben und wohl noch im Schwange sind. Ich kann das natürlich nicht im einzelnen belegen, denn wer hebt sich all das Zeug zeitungsschreibenden Eintagsgeflügels auf? Aber ich besinne mich, schon »Troersang« gelesen zu haben, wo die Ilias gemeint war, »Aufsteigezug« für Xenophons Anabasis, »Wellmaid« für Fouqués oder Lortzings Undine, und einmal verwies der Schreiber auf Jean Pauls »Riesen-Geschichte«, wo ihm der »Titan« vorschwebte. Als eine besonders glänzende Blüte ist mir die Umtaufung von Murgers später veroperter La Bohème erinnerlich (ursprünglich: Scenes de la vie de Bohème), woraus sich »Böheimer Leben« entwickelt hatte; was ungefähr so viel Sinn- und Sprachbedeutung hat, als den Führer des ersten Kreuzzuges Gottfried von Fleischbrühe, den Père Lachaise Vater Stuhl zu nennen, oder mit der Unerschrockenheit vormaliger Berliner Ulkbrüder die Cavalleria rusticana zu einer »russischen Kavallerie« umzukrempeln. Ein Franzose wiederum könnte auf demselben Wege dazu gelangen, Seidels Leberecht Hühnchen als »Vivejuste Cocotte« anzusprechen.

Vorläufig erfreuen sich ja die Titel noch eines gewissen Rechtsschutzes. Wer heute im Laden Boccaccios Dekamerone unter dem Namen eines »Zehnteilers« verlangt, dem kann es begegnen, daß der Verkäufer zur Kritik des Begehrens mit dem Finger an die Stirn tippt. Aber schon heute kann er ohne Aufsehen zu erregen im Musikladen nebenan Beethovens Heldensymphonie (noch nicht Heldengetöne ) statt der Eroica verlangen, und in gemessener Zeit wird man ihm Volksausgaben vorlegen mit übersetzter Pathétique, Appassionata, mit Chopinschen Übungen (Etüden), Nachtstücken (Nocturnes), Stegreifern (Impromptus) und mit der Liederzählung in weichem G (Ballade in G-Moll). Und abermals in gemessener Zeit wird Clementis Gradus ad Parnassum als Schritt auf den Kunstberg an die Reihe kommen, vielleicht sogar Bachs »Wohltemperiertes Klavier«; ohne eine bestimmte Voransage zu stellen, halte ich nach allem bereits Erlebten Bachs »Wohlgewärmten« Flügel nicht für ganz unmöglich.

Immerhin werden die Tondichter in der Hauptsache, nämlich in ihren Notentexten, die eine Universalsprache reden, unangetastet bleiben; abgesehen natürlich von den Vortragsbezeichnungen; da Worte und Zeichen wie piano, forte, allegro, presto, crescendo als heimatfeindliche Unholde nicht geduldet werden dürfen. Aber die großen Urheber im Schrifttum wird die Neuerung in die Eingeweide treffen, in die Texte, und in fernerer Zukunft sogar in die Titelköpfe. Horch, der Wilde tobt schon an den Mauern; und sein Programm ist so umfassend, sein Heerruf so dröhnend, sein Troß so gewaltig, daß sich die Büchereien auf die durchgreifendsten Maßregeln gefaßt machen müssen.


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