Alexander Moszkowski
Das Geheimnis der Sprache
Alexander Moszkowski

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Kurzes und Längeres zur Sprachweisheit

Jede Rechnung findet ihre Gegenrechnung. Man kann in reinen Deutschworten ein miserables Deutsch schreiben und mit einer Fülle von Fremdworten ein vorzügliches Deutsch.

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Alle Philosophie ist nur Ausdruck und Umschreibung der uns fehlenden Worte. Besäßen wir die uns fehlende Million Worte, so brauchten wir keine Philosophie. Denn die Sprache selbst enthielte dann schon die Summe aller Denkweisheit.

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Der Astronom betrachtet und erforscht die Sonnenflecken. Er bucht ihre Anzahl, verfolgt ihre Bewegungen und deutet ihre Herkunft. Aber er stellt nicht mit Bedauern fest, daß er auf der Glanzscheibe der Sonne dunkle Punkte gefunden habe. Und ganz gewiß ersinnt er kein Mittel, um die Sonnenflecken wegzuputzen. Unter den Sprachgelehrten gibt es Leute, die anders verfahren; schnurrige Käuze, die sich einreden, man könne und müsse der Sprachsonne mit Fleckwasser beikommen.

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Sie wären auch mit gewissen Eiferern zu vergleichen, die von metallnen Kunstwerken den Edelrost abkratzen, in der Meinung, Kupferoxyd sei schädlich und müsse herunter. Oder mit Kollegen aus einer anderen Zunft, die alte Prachtgewänder mit Schwefelsäure und Ätzkalk behandeln. Sie entfernen Flecke und brennen Löcher hinein.

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Wir freuen uns, wenn die deutsche Valuta steigt. Das ist ein auf internationalen Beziehungen beruhender Vorgang. Gäbe es Sprachbörsen in der Welt, so hätten wir zu solcher Freude wenig Veranlassung. Denn je mehr der Purismus durchdringt, desto ungeeigneter wird die deutsche Sprache für den internationalen Verkehr. Sie stellt sich auf Innenverständnis und Binnengebrauch ein und verliert den Kurswert draußen. Sorgen wir dafür, daß die deutsche Sprachvaluta wieder die steigende Richtung einschlägt.

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Mit jedem gut brauchbaren, aber vertilgten Weltwort verliert die deutsche Sprache einen winzigen Bruchteil ihrer Weltverständlichkeit und damit ihrer Macht. Und diese Teilchen häufen sich zu ansehnlichen Größen. Wer sich zum Anwalt dieser Minderung macht, der verfährt so, als wäre sein vaterländisches Grundbekenntnis: »Mein Vaterland muß kleiner sein!« Wir wollen es größer haben, sprachlich erweitert, sprachlich machtvoller.

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Sprachschäden können Sprachtugenden sein. Es kommt darauf an, wie man die Dinge ansieht. Einer stellt sich vor das Felsgewirre hin und bejammert die zerstörenden Gewalten der Verwitterung und Erosion. Was da alles zerspalten, abgeschrammt, zerhobelt, hinausgeschwemmt wird, dem ursprünglich so kompakten Felsen zum unheilbaren Schaden! Der andere aber sagt: es gibt auf der Welt keinen besseren Baumeister, als diese Verwitterung. Sie allein bewirkt alle Schönheit, alle Romantik, alles malerisch Eindrucksvolle in diesen Massen. Auch die Sprache leidet unter Erosion und Fortschwemmung, wenn man eben als Leiden bezeichnen will, daß vieles verloren geht, was ursprünglich fest dastand. Man muß es nur verstehen, die Reize wahrzunehmen, die ihr Dasein den Lücken verdanken. Das ganze gelehrte und dichterische Schrifttum vergangener Jahrhunderte ist von solchen Lücken durchsetzt. Aber was stehen blieb, wirkt eindringlicher als vordem. Und auch das Sprachganze zeigt Verwitterungsschönheiten.

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Das Latein wird als eine tote Sprache bezeichnet. Wann starb das Latein? Diese oft aufgestellte Frage steht auf gleicher Stufe mit dem vor langer Zeit von einer ausländischen Akademie ausgerufenen Doktorproblem: Warum wiegt ein toter Fisch mehr als ein lebendiger? Zahlreiche Beantwortungen preislüsterner Bewerber liefen ein, bis einer auf den Gedanken verfiel, die Sache mit der Wage zu untersuchen; der ermittelte: ein toter Fisch ist gar nicht schwerer. Auf unsern Fall übertragen: das Latein ist gar nicht gestorben. Es lebt ein anderes Leben als zur Zeit Ciceros, ein anderes als in der mittelalterlichen Gelehrtensprache, aber es lebt. Und wenn wir leidlich gebildet reden, so lebt es auch unter uns. Als Ovid in der Verbannung sang: barbarus hic ego sum, quia non intelligor ulli – war sein Latein tot in dem Umkreis, der ihn nicht verstand. Solange aber noch irgend ein deutscher Student mit strotzender Kehle und blitzendem Auge sein Gaudeamus schmettert, lebt das Latein in Jugendkraft.

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Muß es denn immer am Buch liegen, fragt Lichtenberg, wenn es beim Zusammenstoß von Buch und Kopf hohl klingt? Ein prachtvoller Aphorismus, der zwar nicht jeder akustischen Probe standhält, aber doch weiter verfolgt werden sollte. So klingt es meist recht hell und freundlich, wenn ein leeres Buch und ein leerer Kopf zusammenstoßen. Und viele Bände verdanken ihren Erfolg einzig der Echowirkung dieser freundlichen Klänge.

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Von Lichtenberg stammt auch der Ausspruch, daß jeder Mensch einmal im Jahre oder einmal im Leben genial sei. In der Wissenschaft reicht solch einmalige Genialität aus, um dem Menschen einen hohen Platz zu sichern. Robert Mayer, der Entdecker des mechanischen Wärme-Äquivalents, war einmal im Leben genial, eben bei dieser Entdeckung, nie zuvor und nie nachher. Aber da dieser Lichtmoment gerade auf wissenschaftlichem Gebiet auftrat, so genügte er. Im Schrifttum genügt die Einmaligkeit nicht. Da tritt die Menge als Wertfaktor hinzu und zwar als selbstverständlicher. Es findet keiner einen genialen Satz, eine geniale Strophe, dem nicht das Genie aus den Poren bricht. Keiner schafft ein unvergängliches Gedicht und nur dieses einzige. Und wenn euch solch ein Sonderfall angepriesen wird, verlangt die Probe und Kontrolle durch andere Erzeugnisse des nämlichen Verfassers. Sind sie nicht zu ermitteln, so mißtraut auch dem Sonderfall. Es liegt kein vereinzeltes Goldkorn im Sande. Finden sich ihrer nicht mehrere, so war's ein Messingsplitter.

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Wenn Lessing fordert, daß ein schlechter »Dichter« wenigstens ein guter Reimer sein müsse, so verlangt er zu viel. Der schlechte Dichter besitzt die Befugnis, schlecht zu reimen, im selben Grade wie der gute, der schlecht reimen mag, ohne damit seiner Dichterhöhe etwas zu vergeben. Aber keiner besitzt das Recht, das Ohr des Lesers und Hörers auf den Reim lyrisch einzustellen und es dann mit absichtsvoll falsch konstruierten Reimen zu überfallen; bloß um zu zeigen: ich mach's anders als andere. Das ist schlimmer als ein Verbrechen, das ist ein Fehler im sittlichen Empfinden. Der Dichter, wenn man ihn noch so nennen will, lädt den Hörer zu Gaste, stellt sich an, als wolle er ihm Musik machen, intoniert einen Takt richtig, läßt das Instrument blitzschnell sinken und haut dem Gast mit der harten Leyer aufs Ohr. Das fällt nicht mehr unter die Kunstregeln, sondern unter die Strafparagraphen.

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»Was er weise verschweigt, zeigt mir den Meister des Stils.« Nur bedingungsweise anzuerkennen. Nur als eines unter den zahllosen Zeichen der Meisterschaft kann das weise Verschweigen gewürdigt werden, und nicht einmal als das oberste von allen. Übergeordnet ist ihm das weise Aussprechen dessen, was kein Leser zu finden vermöchte, obschon er an der entscheidenden Stelle gar nichts vermißt. Der Autor setzt einen Ausdruck hin, der Leser ergänzt es aus eigener Intuition durch fünf andere, freut sich der Anregung und begrüßt die Stilmeisterschaft. Aber diese Prägnanz, sechs durch eins, hat die Möglichkeiten nicht erschöpft. Es gibt noch ein siebentes Wort, eines, das nur der Autor zu finden vermag, und das, an das erste gestellt, unabsehbare Reflexe zu erzeugen vermag. Verschweigt er es, dann bleibt er der Meister des Stils, spricht er es aus – obschon es entbehrlich ist –, so erhöht er den Stil. Die Fälle sind selten, aber doch feststellbar, so besonders bei Nietzsche. Und es ist bezeichnend, daß Nietzsche sich dieser absonderlichen Meisterschaft bewußt war: »Es ist gut, eine Sache sofort zweimal zu sagen und ihr einen rechten und einen linken Fuß zu geben. Auf einem Bein kann die Wahrheit zwar stehen: mit zweien aber wird sie gehen und herumkommen.« Sogar in diesem Satze hat er das, was zu sagen war, nicht nur zweimal, sondern dreimal gesagt; weit entfernt davon, irgend etwas weise zu verschweigen. »Du mußt es dreimal sagen«, spricht Mephistopheles, einer der besten Stilisten in deutscher Sprache.

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Steht die wissenschaftliche Tat höher oder die künstlerische, insonderheit die dichterische? Die Frage ist einer Beantwortung zugänglich, wenn man sich über den Begriff »höher« verständigt und die Höhe nach dem Maß der Unersetzlichkeit erfaßt. Die Wissenschaftstat, selbst die gewaltigste, ist immer ersetzlich, wie schon daraus ersichtlich, daß sie häufig in Duplizität auftritt. Newton fand das Gravitationsgesetz, weil es reif zum Finden war; er und Leibniz erfanden die Infinitesimalrechnung, und wir können zwar darüber streiten, wem die Priorität gebühre, nicht aber darüber, daß die Erfindung fällig war und auch ohne jene beiden längstens nach fünfzig Jahren ans Licht getreten wäre. Aber wenn Beethoven nicht seine Fünfte Symphonie geschrieben hätte, so wäre sie bis heute nicht vorhanden. Sie war so, wie sie uns als Offenbarung erscheint, nicht fällig. Ganz ebenso können die großen Taten des Schrifttums gewertet werden, nach dem Grade ihrer Unersetzlichkeit; und in diesem Sinne stehen sie höher als ihre wissenschaftlichen Mitbewerber. Am höchsten aber stehen die Werke, welche die Kennzeichen aus beiden Gebieten in sich vereinigen, die Einzigkeit der Worte mit dem Gehalt an Erkenntnis. Das sind die Kohinoors unter den Diamanten, ausgezeichnet durch Seltenheit, Glanz und Unvergleichbarkeit. Zu ihren Vertretern gehören Plato, Lukrez, Shakespeare, Albrecht Haller, Lessing, Goethe, Wieland, Rückert, Gobineau, Fechner, Fr. Vischer. Nicht zu ihnen gehören die Gefühlsdusler, denen bisweilen ein Vers gelingt in einer gebildeten Sprache, die für sie dichtet und denkt; und die alles von der Sprache erwarten, ohne ihr das geringste zu geben.

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Dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft entspricht ein Gesetz von der Beständigkeit der Interessen und von der Konstanz der Begabungen. Ein wirklicher Beweis hierfür wird niemals geliefert werden, nur die Analogie und eine aus Erfahrung fließende Wahrnehmung drängt dazu, es anzuerkennen. Die Summe der Begabung bleibt in der Welt, wahrscheinlich schon innerhalb eines großen Volkes, unveränderlich, ebenso die Summe der Interessen, welche die Begabungen zu ihren Leistungen drängen. Setzt man dies als ein Axiom voraus, so muß man schließen, daß die Höhepunkte der Wissenschaft nicht mit denen der Kunst zusammenfallen können, und ebenso, daß innerhalb eines Schrifttums nicht alle Zweige zugleich zur Blüte gelangen. Dieselbe Begabung, die zu anderer Zeit und im Zuge anderer Interessen ein reines Dichtwerk, eine Messiade, einen Kranz von Oden vollbracht hätte, wird mit Notwendigkeit anders gerichtet ein Werk wie Zarathustra, Zendavesta, Kritik der Sprache, Von kommenden Dingen ans Licht stellen. Erkennt man die reine Geistigkeit als das Bestimmende einer gewissen Zeit, so wird sich jene Konstanz dadurch herstellen, daß die reine Poesie die Kosten zahlt, um den Mehraufwand auf der andern Seite zu bestreiten. Der Sprache selbst ist dies ganz gleichgültig; ihr kommt es nur darauf an, daß diese Wirtschaftsrechnung in Plus und Minus stimmt.

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Die Glaubwürdigkeit des Finders ist im allgemeinen größer als die des Nichtfinders. Wenn ein ehrlicher Mensch erklärt: ich habe in diesem Gelände Spuren von Erz gefunden, ein anderer ebenso ehrlicher: ich habe keine gefunden, so nehmen wir den Erzbestand als höchstwahrscheinlich an. Denn man kann übersehen, was vorhanden, aber nicht finden, was gar nicht existiert. Hieraus könnte man mit Rückschluß auf das Schrifttum folgern, daß man mehr auf den Lober hören soll als auf den Tadler. Denn der Lober muß in dem Drama, dem Roman, oder was es sei, Vorzüge entdeckt haben, die dem Tadler entgingen. Im großen und ganzen wird es wohl auch so sein, und man wird die verzehnfachte Prüfung aufzuwenden haben, ehe man sich entschließt, dem Tadler beizutreten. Aber eine durchgreifende Regel läßt sich hieraus nicht ableiten, und ein Rest von Glaubwürdigkeit bleibt beim Ablehner, insofern auch er ein Finder ist gegenüber dem lobenden Nichtfinder; denn der Mangel im Drama, im Roman, ihre Verkehrheit, Plattheit, Unzulänglichkeit, sind auch Positivitäten, die dem einen entgehen können, während der andere sie entdeckt. Ja, es gibt im Geistigen, wie Börne bemerkte, ein angebornes Genie der Dummheit, und es ist nicht jedermanns Sache, mit seinem Urteil die Höhe solchen Genies vollkommen zu erfassen.

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Wer in Sprachfragen politische Kampfmotive mitspielen läßt, bringt Begriffe durcheinander, die in aller Welt nichts miteinander zu tun haben. Er verdächtigt den sittlichen Charakter, wo nur der Ausdruck in seiner Beziehung von Form zu Inhalt in Frage steht. Vor Jahrzehnten war man ein »Reichsfeind«, wenn man sich gegen irgendwelche Paragraphen einer Regierungsvorlage, etwa in Sachen des Versammlungs- oder Vereinsrechtes auflehnte. Heute erscheint uns das unfaßbar, und doch ist die Methode noch im Schwange, und man gerät in die politische Acht, als ein »Undeutscher«, wenn man sich für gute und tüchtige Ausdrücke nicht elende, leistungsunfähige aufschwatzen lassen will. Mit dieser sinnlosen und verwerflichen Methode kann man das konfuseste Zeug beweisen. Zum Beispiel: in Fichtes Reden an die deutsche Nation findet man die welschen Ausdrücke »absolut, Element, apriorisch, Barbar, genialisch, Reformation, Republik, Reflexion, Rivalität, Chaos, Subjekt, objektiv, Sphäre, Instinkt, Idee, Epoche, mechanisieren, empirisch, Nationalcharakter, Majestät, Rebellion« usw., folglich war Fichte zum mindesten als er diese Worte sprach und schrieb, ein Deutschfeind. Oder: von zwei Bildhauern arbeitet der eine in welschkararischem Marmor, der andere in grunddeutschem Sandstein vom Elbufer, folglich ist dieser der sittlich hochstehende Deutsche, jener der fremdländernde Reichsgegner. Eine unausdenkbare Perspektive, in deren Vordergrund aber ganz gegenständlich gekämpft, beschimpft und verdächtigt wird. Aber einst wird kommen der Tag – wahrscheinlich ist er gar nicht so fern –, wo der deutsche Sprachgeist nach ganz anderer Methode sichten und urteilen wird; tretet zur Linken Reinemacher und Reinegemachte, die andern zur Rechten, und laßt sehen, auf welcher Seite die wirklichen Schriftsteller stehen, die Sprachgewaltigen, die Mehrer des Schrifttums. Das wird eine hübsche Statistik werden, und man wird sein blaues Wunder erleben!

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Wer die innige Beziehung von Sprache und Musik begriffen hat, der wird auch in Ansehung des Purismus dem nachfolgenden Beispiel volles Verständnis entgegenbringen. Es ist der Berliner Musikgeschichte entnommen und zeigt uns, wohin es führt, wenn die »absolute Reinheit« zum obersten Prinzip erhoben wird. Nämlich ganz einfach zur Vernichtung der Kunst. Im Jahre 1852 gelangte Eduard Grell an die Spitze der Berliner Singakademie, ein sehr bedeutender Theoretiker und Kontrapunktist, Schöpfer der noch heut bewunderten 16stimmigen Messe. Alle seine Kunstbestrebungen gipfelten im Reinheitsfanatismus. Nach dem vollgültigen Zeugnis von Carl Krebs bedeutete ihm die Reinheit des Zusammenklangs alles, und in der Verfolgung dieses Geschmacksweges mußte er am Ende dahin kommen, jedes Musizieren, das die akustisch reinen Tonverhältnisse nicht darstellen kann, abzulehnen, also die temperierte Stimmung und mit ihr die ganze Instrumentalkunst. In einem Gutachten über die Kompositionsklasse der Akademie erklärte Grell die gesamte Instrumentalmusik als den »vernichtenden Feind aller musikalischen Kultur, der aus jeglicher Schule des Landes gänzlich entfernt werden müsse!« Und ein offner Brief an unsere Singakademie, die er ihr als sein künstlerisches Vermächtnis hinterließ, beginnt mit den Worten: »Dir, liebe Singakademie, drängt es mich, an das Herz zu legen, Dich anzuflehen, niemals durch Bau oder Benutzung einer Orgel Deinen bisherigen Gesang zu entweihen!«

Von seinem Standpunkt aus hatte Grell vollkommen recht, denn wer nichts anderes kennt als Reinheit und diesen Standpunkt bis in die äußerste Folgerung vertritt, muß zu solcher Barbarei gelangen. Nur daß im Falle der Musik dieses Ergebnis von jedermann als Barbarei erkannt wird, während im Falle der Sprache die verwüstenden Folgen noch nicht durchschaut werden. Weil eben das Zeitmaß der Sprachentwickelung als ein ungeheuer verzögertes auftritt, gegenüber den Siebenmeilen-Sprüngen in der Entwicklung der Tonkunst. In wenigen Jahrzehnten sind Grells Ansichten grinsende Lächerlichkeiten geworden. In Jahrhunderten, zu Zeiten der deutschen Universalsprache, werden die sprachpuristischen Rufe der Vorzeit dem nämlichen Lose verfallen. Der Vergleichspunkt liegt ausschließlich in der Übertreibung eines einzigen Begriffs, den die Heerrufer als einen lebenswichtigen ausposaunen, während er tatsächlich nur eine äußerlich-mechanische Geltung hat. Letzten Endes bleibt die Reinheit der Kunstwirkung gänzlich unabhängig von der Beschaffenheit der Elementar-Ursachen, wie ja auch die Reinheit eines Landschaftseindrucks unbeeinflußt bleibt von der chemischen Natur der Stoffe in der Landschaft. Wer die Reinheit bis in die Grundstoffe, bis in die Urklänge und Urworte hinein verfolgt, betreibt eine Apotheker-Analyse, die mit künstlerischer Analyse nichts zu tun hat; er verwechselt Begriffe und vertauscht Elemente, die in getrennten Welten liegen.

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Ist eine Universalsprache überhaupt möglich? Ist der Gedanke an sich nicht viel zu allgemein, zu utopisch, um jemals verwirklicht zu werden? Gewiß, wer die Hoffnung ausspricht, gerät leicht in die Gefahr, als Träger einer Schrulle belächelt oder gar als unvölkisch verschrien zu werden. Und es werden sich aus zottigen Hochbrüsten Stimmen gegen ihn kehren mit der Behauptung: nie zuvor hätte ein treudeutscher Schriftsteller von Rang sich zu solcher phantastischen Unmöglichkeit verstiegen.

Wirklich, nie zuvor? Ach, wie wäre es, wenn die kernigen Vielwisser einmal anfingen, die Akten zu revidieren; sie könnten dabei auf eine Abhandlung stoßen, die auf das Jahr 1846 zurückgeht und keinen geringeren als Friedrich Hebbel zum Urheber hat. Dort heißt es in der Betrachtung bestimmter Formen im Denken und Dichten:

». . . Hier ist der Punkt, auf dem der Gedanke an eine Universalsprache, – gegen die sich die verschiedenen Nationalsprachen wie ebensoviele ihr vorhergegangene Exerzitien verhielten, deren Zweck auf relative Ermittelungen und Vorbereitungen hinausliefe, wenigstens nicht unvernünftig und willkürlich erscheint, . . . Aber die Kenntnis der Rahmen erweitert nicht die Spiegel, und die Hoffnung, sie alle dereinst näher und näher zu rücken, dann zerbrechen und auf dem Gipfel der Zivilisation in einem einzigen verschmelzen zu sehen, ermangelt keineswegs des Fundaments . . . Auch soll, um zu diesem Ziel zu gelangen, nicht aus dem Stegreife ein Sprung unternommen, es soll nur einfach fortgeschritten werden, da man, wenn kein Stillstand eintritt, auf demselben Weg und ungefähr auch mit denselben Opfern . . . von der National-Sprache zur Universal-Sprache kommen muß, auf dem . . . man von der Individual-Sprache, um die ersten stammelnden Verständigungs- und Mitteilungs-Versuche so zu nennen, zur Familien-, Provinzial- und National-Sprache kam.«

Der Neuschöpfer der Nibelungen ist wohl über den Verdacht erhaben, mit dem Bestand unserer Sprache mutwillig gespielt zu haben. Allein seine Ausführungen lassen keinen Zweifel darüber, daß er als einer der Vielzuwenigen genau wußte, wohin die Reise gehen wird. Warum redet er von den vorhandenen Teilsprachen als von »Exerzitien«, warum sagt er nicht Übungen, Vorübungen? – Weil im Exerzitium der Begriff Exercitus mitklingt, das auf Feindeswirkung eingestellte Heer, das Gegensätzliche in den Teilsprachen. Warum wird bei ihm die Universal- nicht zur Allgemein- oder zur Weltsprache? Weil in »Universal« das unus steckt und das vertere, der Vorgang, kraft dessen sich das Mehrspaltige zur Einheit wenden soll, und weil keine Übersetzung imstande ist, diesen Vorgang in sich aufzunehmen. Hebbels Ansage ist in dem dickflüssigen Stil geschrieben, in den er so häufig, von der eigenen Gedankenflut gedrängt, sich verfangen mußte. Allein seine sprachlichen Mittel sind Werkzeuge der Fernsicht, und sie selbst verraten in losen Andeutungen bereits Fernspuren der Universalsprache.

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Den nur sehe ich als Dichter an – der auch gute Prosa schreiben kann – und nur der gilt mir als Prosaist, der gewandt in jeder Versform ist: so umschreibe ich eine Forderung, die von unseren Besten, mit besonderem Nachdruck von Lessing, Heine, Gottfried Keller, Storm, vertreten wurde. Letzten Endes fließen Prosa und Dichtung in einander über. Aber nur im eigenen Schaffen kann man der Wurzeleinheit beider Formen sich bewußt werden, in eigenem Erlebnis des Denkens, Schreibens und künstlerischen Formens. Wie sollen die aufs Sprachmechanische gerichteten Schulmeister davon wissen? Sie trennen ab, rubrizieren, schachteln und gelangen so allenfalls dahin, dem Versemacher allerhand Freiheiten zu gewähren, die sie dem Prosaschreiber verweigern. Sie sind also gnädig genug, dem Dichter in Ansehung des Reimzwanges sogar das Fremdwort zu gestatten. Dunkel schwebt es ihnen vor, daß andernfalls ein großer Teil unserer dichterischen Schätze und die Gesamtheit der humoristischen Verskunst gar nicht existieren würde. Daß aber Prosa und Poesie denselben Grundgesetzen unterliegen, dieselben Zwänge aushalten, von denselben Freiheiten leben, das vermögen sie nicht zu begreifen, genauer gesagt, es kann ihnen gar nicht einfallen, diese Einheit wahrnehmen zu wollen, weil man sie eben erlebt haben muß, in Blut und Nerven, während sie nichts anderes erleben als pedantisch abgezogene Regeln und Vorschriften.

Goethes Iphigenie war ursprünglich in Prosa verfaßt, »in einer mit Versen förmlich gesättigten Prosa. Er wollte in Prosa schreiben, aber unwillkürlich nahmen seine Gedanken die poetische Form an. Aus der Vergleichung ersieht man nicht nur, wie häufig in jener schon die Verse sind, sondern auch, wie wenig Änderungen nötig waren, um das prosaische Drama in ein Gedicht umzuschaffen« (Lewes). »Fürwahr, man schreibt nur im Angesicht der Poesie gute Prosa!« ruft Nietzsche; und wenn Schiller erklärt, der Poet stehe unter anderer, also höherer Gerichtsbarkeit, so liegt dem der Sinn zugrunde, daß in der Prosa nichts verfemt sein dürfe, was sogar die strengere Gerichtsbarkeit als zulässig und notwendig anerkenne. Nach landläufigem Ausdruck ist der Vers die gebundene, die Prosa die freie Rede. Und der freien Rede wollt ihr Fesseln aufschmieden, die der gebundenen nach eurem eigenen Zugeständnis unerträglich wären? Kann man die Fehlerhaftigkeit eines fehlerhaften Zirkels noch weiter treiben?

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Ein berühmter Satz von Rivarol besitzt noch heute richtende Geltung für das Urteil und den Geschmack in Frankreich: »Ce qui n'est pas clair, n'est pas français.« Der Satz hat den Neid deutscher Sprachmeister erregt, und diese verlangen nun auch in unserem Bereich Klarheit, Eindeutigkeit um jeden Preis, das heißt möglichste Auslöschung der nicht scharf abgegrenzten Übergänge, der Schattierungen, der Nuancen. Aber die unbedingte Forderung nach Klarheit ist stets falsch gewesen und wird ewig falsch bleiben. Kein sprachliches Kunstwerk könnte vor ihr bestehen. Wirkliche Eindeutigkeit ist die Tugend eines Gesetzbuches, einer Logarithmentafel, eines Lehrbuches der Geometrie, einer amtlichen Bekanntmachung. Aber schon Descartes, der als Begründer seiner Analysis eindeutig war, wird vieldeutig, wo er philosophiert, und nicht nur seine, sondern überhaupt alle Philosophie und dazu die Hälfte der besten Dichtungsliteratur müßte man einstampfen, wenn die Klarheitsforderung souveräne Gewalt erlangen könnte. Weil nämlich alles, was den Menschen als Gedankenaufgabe vorschwebt, im Grunde nichts anderes ist als ein System verwickelter Gleichungen. Die Fragestellung in diesen Gleichungen ist eindeutig, nur diese Bestimmtheit fühlen die Klarheitsapostel hindurch, und nun verlangen sie auch eindeutige Lösungen, weil sie nicht wissen und begreifen, daß genau entgegengesetzte Lösungen zur Befriedigung ein und derselben Gleichung dienen können, daß auch das Imaginäre, d. h. das in bestimmten Worten gar nicht mehr faßbare herangezogen werden muß, um die Gleichung zu erfüllen. Wir besitzen Ansätze zu einer Algebra der Logik, und es wird einmal eine Wissenschaft entstehen, die Algebra der Sprache, die tausend Sprachgeheimnisse von einst und heute entschleiern wird. Wie diese Wissenschaft aussehen wird, das wissen wir nicht, von ihrem Inhalt können wir nur weniges erahnen, aber das eine wird sie gewiß unter Beweis stellen: daß die Fülle, Schönheit und Macht einer Sprache nicht von ihrer Klarheit, sondern von ihrer Vieldeutigkeit abhängt. Und dann wird man sich der Nüancentöter erinnern, als der brüllenden Löwen, die da einst umhergingen, suchend, wen sie verschlängen.

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In den ersten Kriegsmonaten, als man mit Haßgesängen Ehrenplätze auf dem Parnaß erwarb, wurde eine Umfrage ausgeschickt: darf man auf einer deutschen Bühne Shakespeare spielen? Die nahezu einstimmige Antwort lautete: man darf, und man soll. Aber die bloße Tatsache der Umfrage zeigt doch, daß manche Leute mit dem schönen und für eine große Orgel bestimmten Grundthema »Deutsch« erst dann etwas anzufangen wissen, wenn sie es auf die Radauflöte übertragen haben. Sie hätten ebensogut zur Erörterung stellen können, ob man in Deutschland noch eisenbahnfahren dürfe, da die Erfindung der Lokomotive von dem Engländer Stephenson herrühre. Über den Shakespeare haben sich ja nun die Umfrager beruhigt, aber sie fragen mit einer weiteren Umbildung des Themas, ob man Fremdworte, Weltworte gebrauchen dürfe, und sie gelangen zu dem Ergebnis, man dürfe es nicht, man solle ausschließlich »deutschdenken«, um deutsch zu reden und zu schreiben. Es ist der Haßgesang in einer anderen Variation, mit einem Piff-paff-puff-Geschmetter gegen alle, die nicht deutsch denken wollen oder deutsch zu denken verstehen; mithin so ziemlich gegen alle Großmeister der deutschen Literatur. Ganz vornehmlich aber kriegen die Heutlebenden, die sich etwa gegen die Forderung wehren, eins auf den unpatriotischen Pelz gebrannt. Was heißt nun »Deutsch denken«? Geht es auf die vaterländische Gesinnung, so verbitten wir uns jeden Zweifel und jede Überhebung, da wir in unserm Glaubensbekenntnis gar nichts Höheres finden als eben dieses Denken. Geht es aber auf die Gehirnleistung, die etwas schaffen soll, so gibt es ebensowenig ein deutsches Denken, als eine protestantische Mathematik oder als eine katholische Botanik. Es gibt eben bloß ein »Denken«. Und der Satz, der umgedacht werden kann, war des ersten Denkens nicht wert. Was den Satz zum neuen Satz, das Werk zum wertvollen Werk macht, beruht auf der Erfindung, auf einer neugestaltenden Arbeit der Gehirnzellen, die nur von Sprache wissen, aber nicht von Sondersprache. Ist der Satz, das Werk heraus, dann kann man darüber streiten, ob diesen oder jenen Ausdruck durch einen andern zu ersetzen möglich oder zweckmäßig sei. Den Streit in den ursprünglichen Denkakt verlegen, ist ein Unsinn. Ein großer Teil der wertvollsten Weltliteratur trat zur Zeit der Humanisten lateinisch ans Licht. War er lateinisch gedacht? Hätten die Volksgenossen den Urhebern zurufen dürfen: denkt deutsch, denkt italienisch, denkt holländisch? höchstens doch: schreibt es auf, daß wir's verstehen, übersetzt es uns. Das kann man machen, in jedem Einzelfalle. Aber das betrifft nur das nachträgliche Kleid, nicht den Körper. Der ist urerschaffen, ein Adam, nackt, nicht behängt mit irgendwelchen nationalen Kennzeichen.

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Es gibt Schriftsteller, die leben vom Nichtverstandenwerden. Bei einigen von ihnen kann man sogar einen Aufstieg von Fiasko zu Fiasko beobachten. Das Geheimnis ihres Erfolges besteht darin, daß er nicht vorhanden ist, und ihr Lorbeer beginnt zu welken, sobald man anfängt, sie zu verstehen.

Sie schreiben, dichten und dramatisieren in Runen. Weil Heraklit und Hegel, Hamlet und Tristan dunkel sind, tun sie dunkel und tauchen in die Vieldeutigkeiten der Sprache. Ihnen folgt der Schatten eines chorus mysticus mit der Schicksalsfrage: ist am Ende doch etwas dahinter? Und an diesem Fragezeichen hängt ihre Existenz.

Erst wenn das dahintersteckende in den Vordergrund tritt, wenn aus dem Verkannten ein Erkannter wird, ist es vorbei; auf die Dauer wird nämlich der Vieldeutige heute gar nicht verkannt. Das Exempel zwischen ihm und seinem Beurteiler braucht gar nicht glatt aufzugehen, ebensowenig wie das Exempel zwischen der Sprache an sich und dem Sprachkenner jemals glatt aufgeht. Vorausgesetzt wird eben wirkliche Vieldeutigkeit, nicht verlarvte Eindeutigkeit.

Wer es darauf anlegt, verkannt zu werden, der nimmt auch leicht die Figur des Weltschmerzlers an. Dann lebt er von den Sorgenrunzeln seiner Schriften und Gedichte. Träte ein unverhoffter Glücksfall ein, dann wäre es mit der Verhärmtheit zu Ende, und der Beglückte wüßte nicht mehr, was er weiter dichten soll. Das wäre eine Katastrophe für ihn. Verkanntsein, Nichtverstandenwerden und Wehleidigkeit gehören zu einander und können einem Dichter das Leben auf längere Weile hin ganz behaglich machen.

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Sollte es am Ende wie in Raum und Zeit auch im Kunsturteil ein Relativitätsprinzip geben? Wenn uns einmal eins bekannt wird, dann müßten wir aus ihm allerlei über die Geschwindigkeit des Urteils erfahren und über die Möglichkeit wiederum, die Geschwindigkeit zu beurteilen. Heut sind wir, ob jung ob alt, schnell fertig mit dem Wort. Wir lesen ein Werk, durchblättern einen Roman, hören ein Stück bis zur großen Mittelpause und wissen, was wir zu sagen haben. Das Leben, die Technik sind auf Geschwindigkeit eingestellt, warum nicht auch das Urteil? Weil der Irrtum lauert? Das ist kein Grund dagegen. Der Irrtum hat keine Uhr. Er kann der Minute aus dem Wege gehen und sich mit dem Jahr intim befreunden. Wir tragen unsere Maßstäbe in uns, aus langer Erfahrung gewonnen, zum Gebrauch in jedem Augenblick bereit. Sie legen sich von selbst an und liefern uns die untrüglichen Ergebnisse. Cogito, ergo criticus sum.

Bisweilen aber fallen uns die welthistorischen Fehlurteile ein in alten Kritiken über Schriftwerke, welche die Feuerprobe der Zeit bestanden haben. Jene Urteilsfäller waren ebenso gescheite Leute wie wir und brachten auch ihre fertigen Maßstäbe mit: Voltaire über Shakespeare, Friedrich über Lessing, Goethe über Kleist; und dazu hundert andere, die sich mit dem geschwinden – für ihre Zeit geschwinden – Urteile vergaloppiert haben. Da werden wir bedenklich und nehmen uns vorübergehend vor, das Warten zu lernen.

Als er mit dem Hammer philosophierte, begeisterte sich Nietzsche für das langsame Urteil; man muß die Entscheidung hinausschieben können, aussetzen können, zugunsten einer höheren Geistigkeit, so lehrte er. Und mit diesem Hinausschieben im langsamen Urteil gelangte er dazu, den Parsifal für einen Operettenstoff zu erklären. War nicht ein dunkler Kunstschreiber, der sich die Begeisterung frisch von der Seele schrieb, der Wahrheit näher als ein zögernder Philosoph?

Es ist und bleibt ein fehlerhafter Zirkel, aus dem wir nicht herauskönnen. Beim raschen Urteil geht es zu wie bei der Geburt der Minerva, die fertig aus dem Haupte Jupiters sprang. Nur daß bei uns Menschen gewöhnlich eine Doppelgeburt herauskommt, da der Irrtum der Zwillingsbruder der Kritik ist. Das langsame Urteil reift aus; nur daß wir so selten zwischen Reifung und fauliger Gärung unterscheiden können.

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Nach dem Gesetz der Stetigkeit wäre Genie das höchstgesteigerte Talent. Die neueste Wissenschaft steht im Begriff, uns zu zeigen, daß dieses Gesetz nicht lückenlos gilt. Und so gibt es auch eine Genialität abseits des Talentes, Leistungen in der Dichtkunst, die man als genial, aber als durchaus talentlos bezeichnen kann. Grabbe, Büchner, Lenz besaßen Genie, aber ihnen fehlte das Talent, mit ihrem Genie etwas anzufangen.

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Das Volkslied fremdwörtelt nicht. Das ist erweislich wahr, und es läßt sich erwarten, daß unsere Sprachretter sich keine Gelegenheit zum Ausspielen dieses Trumpfes entgehen lassen. Aber sie wissen dabei genau, daß sie das nicht dürfen und daß ihnen der Trumpf nicht mit natürlichen Dingen in die Finger kommt. Sie schlagen die Volte, sie bedienen sich eines Kunstgriffs, um Dinge in eine Vergleichsebene zu bringen, die ewiggetrennten Welten angehören. Wer Gott im Himmel sucht, kann ihn mit geschlossenen Augen finden, aber zur Erforschung des Sternenreichs am Himmel gehören die umständlichsten Apparate und Rechnungen. Die Einfachheit eines Gesprächs mit Gott fordert durchaus nicht die Übertragung dieser Einfachheit auf das Komplizierteste. Sie könnte sonst ebenso in Anwendung auf den Himmel das Verbot des Fernrohrs und der Spektralanalyse fordern. Was das Volkslied betrifft, so liegt seine Sprache und seine Musik in derselben Ebene, aber wiederum in anderer Welt, wenn wir zum Vergleich die Bildungssprache und die musikalischen Ausdrucksmittel unserer Zeit heranziehen. Wer des Volksliedes Sprachreinheit als das allgemeine Muster hinstellt, kann auch verlangen, daß die moderne Tonkunst mit den Mitteln der trällernden Kindheit auskomme. Jede Verallgemeinerung einer Einfachheit führt ins Absurde. Auch die Tonne des weisen Diogenes war einfach, sie läßt sich aber zum Beweis gegen Spiegelfenster, Treppenanlagen und Warmwasserversorgung nicht verwerten. Der Hausvater, der die Häupter seiner Lieben zählt, kommt mit einem Blick aus; zu anderen Zählungen gehören höhere Arithmetik und Integralrechnung.

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Bei der Gleichsetzung der Worte lauert Gefahr. Denn das Wort schleppt seine eigene Geschichte mit sich und verrät bisweilen Begrenzungen im historischen Ablauf, die zu der Gleichsetzung nicht stimmen.

Antiochus von Syrien bekämpfte die Juden, war also ein Judenfeind. Das ist eine Tautologie. War Antiochus ein Antisemit?

Die Frage kann stutzig machen. Wortwörtlich bleibt's dasselbe, und trotzdem regt sich ein Widerspruch. Denn wir besinnen uns, daß »Antisemit« als Ausdruck erst seit 1879 existiert und für die Besonderheit einer bestimmten, von uns erlebten Bewegung geschaffen wurde. Eine rückwirkende Kraft bis ins zweite Jahrhundert vor Chr., vollends mit Geltung für einen Syrer, der selbst Semit war, kann ihm also nicht beigelegt werden. Es sei denn, der Sprecher wolle aus irgend einer Absicht den unstimmigen Ausdruck bevorzugen; wie man ja auch zum Zweck eines gewissen Kontrastes vom Professor Aristoteles oder vom Grand Prix im alten Olympia reden könnte. Wo aber diese Absicht nicht kenntlich wird und nichts anderes herauskommen soll als eine identische Gleichung, bleibt es bestehen: Antiochus war ein Judenfeind, aber kein Antisemit.

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Und was fangen wir mit den -ismen an, mit allen den -ismusen, die sich dem Wort so willig anfügen, um aus einer Person, einem Gegenstand, einer begrenzten Erscheinung etwas Allgemeineres zu entwickeln? Gerade aus der Willigkeit wird ihnen der schlimmste Vorwurf gemacht, von jenen, die im Fremdwort den Schmarotzer, also im -ismus den Parasiten auf dem Parasiten erblicken. An sich schon ein übler Welschling, klammert er sich noch dazu fast ausnahmslos ans Welsche, um es noch mehr zu verausländern, dazu noch an Eigennamen – Cäsarismus, Platonismus, Pyrrhonismus, Galvanismus, Alpinismus – und wenn wir es nicht an der Wurzel erfassen, wird es sich auch bald im Reindeutschen ansiedeln; und daraus könnte sich ein netter Sprechanismus entwickeln!

Eine durchgreifende Hilfe gegen das Anhängsel gibt es nicht. Der Übersetzer verweist auf die einzelnen Fälle und findet vielfach brauchbaren Ersatz, für den Einzelfall; d. h. er kann das Hauptwort mit seinem Schwanz auf Deutsch beschreiben. Aber ein für allemal so, daß er den weiteren Begriff etwas verengt. Er liefert in der Übersetzung, bestenfalls, einen konzentrischen Kreis mit verkürztem Radius. Nur ein Ring bleibt zwischen den Kreisen übrig, just in diesem sitzt der -ismus, und den kriegt er nicht mit hinüber. Zum Beispiel: Naturalismus: Abklatschung, Abklatschkunst, Alltagsäfferei, Kunstlosigkeit, Plattheit, Armeleutdichtung, Wirklichkeitsbild, Lebenstreue usw. Lauter Begriffskreise, die mit dem des Naturalismus den Mittelpunkt und einen Teil der Fläche gemeinsam haben; aber nicht die ganze Fläche. Der -ismus liegt immer jenseits, weil er nicht nur eine Teilkunst bezeichnet, nicht nur einen Zustand, eine Richtung, sondern die Gesamtheit aller Zustände, die in den kleineren Kreisen Platz finden.

Pessimismus, gleich Weltschmerz, Weltverzweiflung, Lebensverneinung, Verdüsterung, Schwarzseherei, Wehleidigkeit, Trübsinn, Miesmacherei usw. – reicht's aus? gewiß, für den Einzelmenschen, nicht für den Umring des Begriffs. Jede Übersetzung gibt Stimmungseinzelheiten, die selbst in ihrer Zusammenfassung sich noch nicht zur Weltanschauung des Pessimismus addieren. Denn sie alle hadern nur mit den Erlebnissen innerhalb dieser Welt, geben trübe Ausblicke, enthalten aber kein Wertmaß zwischen dieser und anderen als möglich vorgestellten Welten. Diese Ansage zu leisten bleibt dem Pessimismus vorbehalten, als der Erweiterung der Stimmungen bis zu einer Lehre, die einen Beweis darstellen will: davon, daß unter allen vorstellbaren Welten die der Wirklichkeit als die schlechteste anzusehen ist.

Wer die Reihe der -ismen so an sich vorbeischreiten läßt, ergibt sich einer ganz nützlichen Gedankenübung. Es empfiehlt sich, zur Analyse nicht nur die Worte, sondern Sätze heranzuziehen, in denen verwandte -ismen neben einander auftreten; wie z. B. »Der gröbste Zynismus ist unschuldiger als der feinste Obszönismus«; oder »Eine philosophische Linie führt vom Nominalismus über den Idealismus zum Solipsismus«. Man wird erkennen, daß es gar nicht so leicht ist, dergleichen restlos aufzulösen, und zugleich begreifen, warum sich unsere Wörterbücher an manchem - ismus mit scheuem Schweigen vorbei drücken.

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Die Berufung auf Einfachheit und Erbaulichkeit entspricht dem Verfahren der einstmaligen preziösen Regelschmiede in Frankreich. Damals wurden Ächtungslisten der »unedlen Worte« aufgestellt, heute stehen die Fremdworte auf der Liste. In beiden Fällen wird die Schattenprojektion der Vollsprache für gleichwertig mit dem Körper genommen. Damals lief die Projektionsebene durch Hof und Salon, heute wird sie durch Himmel oder durch Wiese gelegt. Der Unterschied ist nur, daß die Regelschmiede von heute die Mängel ihrer Konstruktion ganz gut kennen und sie nur darum anwenden, weil kindliche Gemüter durch sie so leicht überrumpelt werden können.

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Es ereignet sich nur selten, daß Sprachweisheit, Ausdrucksfülle und strenge Wissenschaft in einem Menschen zusammentreffen. Ernst Mach war einer der Vielzuseltenen. Höret auf ihn und nicht auf die Vielzuvielen.

Alle Wissenschaft hat, nach Machs Erkenntnis, die Aufgabe, Erfahrungen zu ersetzen oder zu ersparen, durch Nachbildung und Vorbildung von Tatsachen in Gedanken. Die Erfahrungen ganzer Geschlechter werden durch die Aufbewahrung in Bibliotheken späteren Generationen übertragen und diesen daher erspart. Diesem ökonomischen Charakter der Wissenschaft entsprechend ist auch die Sprache als das Mittel der Mitteilung eine ökonomische Einrichtung. Die Schriftsprache nähert sich allmählich dem Ideale einer internationalen Universalschrift, denn sie ist keine reine Lautschrift mehr. Die Lautsprachen sind noch durchaus national und werden es voraussichtlich noch lange bleiben.

Auf eine Voraussage über diese Zeitlänge läßt sich Mach nicht ein. Ihm genügt es, die Richtung des Weges zu bezeichnen und den Grenzwert zu bestimmen, den auch die Lautsprache in irgendwelcher Zukunft erreichen muß. Unsere heutigen Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen spielen demgegenüber keine Rolle. Das Ersparnisprinzip setzt sich durch, als eine Form des Naturgesetzes, das die Erzielung der größten Wirkung mit dem kleinsten Kraftaufwand verlangt. Dieses Prinzip kennt nur die Zweckdienlichkeit, nicht die Schönheit, und schreitet über die Leichen mancher ästhetischer Werte dahin; in eine sehr ferne Zeit hinein, die vielleicht keine Waldlyrik, aber bestimmt keine Kriegslyrik mehr kennen wird.

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Man mag Sprachfragen aufstellen wie man will, ein Grundzug bleibt allen gemein, und auf irgend eine Weise gerät man immer wieder ans Fremdwort, weil im Weltwort ein Teil der zukünftigen Weltgestaltung beschlossen liegt. Wir sind uns freilich dessen nicht bewußt, wenn wir uns um diese oder jene Bedeutung, um diese oder jene Übersetzung streiten; aber in jedem Teilstreit steckt, unendlich verdünnt, der Gedanke an die Zukunft nicht nur der Sprache, sondern der Menschenschicksale überhaupt. Wüßten wir Schreiber in einem einzigen Falle die restlose, absolute Lösung, so wären wir aus aller Not heraus. Es ist der Schreiber ewig Weh und Ach, so tausendfach, aus einem Punkte zu kurieren. Bei Goethe heißt es nicht Schreiber, sondern Weiber, aber das Fremdwort kurieren steht genau so bei Goethe, und alle Schreiber der Welt könnten es nicht übersetzen.

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Die Sprachlogik läßt sich nicht in Regeln pferchen; was heute falsch klingt, kann morgen richtig klingen und umgekehrt. Es kommt immer nur darauf an, wie der Redeteil sich in den Gebrauch des Tages, des Jahres, des Jahrzehntes einfügt.

Der Schüler von heute bekommt einen Wischer, wenn er das Partizip so leichtsinnig anwendet, wie ein Klassiker, wenn er etwa im deutschen Aufsatz schreibt: »die vorstürmende Schlacht«, »der ankurbelnde Motor«, »die selbstladende Flinte«, oder gar »der einpackende Koffer«. Junge, hast du denn gar keine Logik im Leibe? begreifst du denn nicht, daß nur ein Mensch, nicht aber eine Sache oder ein Abstraktum vorstürmen, kurbeln, laden und packen kann? Aber Schiller und Goethe durften von wohlschlafender und schlechtschlafender Nacht reden, und Werther durfte schreiben: »Wollen Sie mir wohl zu einer vorhabenden Reise Ihre Pistolen leihen?«

Damals war's logisch, heute ist's unlogisch, in irgendwelcher Zukunft kann es sich wieder in schönster Logik befinden. Die Gegenwart eröffnet bereits Ausblicke: Ohne Zögern schreibt der Erzähler »Die Leiche des erschlagenen Feindes wurde jubelnd umtanzt«, und die jubelnde Leiche stört ihn nicht im geringsten; im Bankdeutsch sind die »dorthabenden Effekten« keine Seltenheit, und in der Kaserne ergeht bisweilen ein Dienstbefehl an »die vormittags nach der Scheibe geschossenen Mannschaften«. Der Schulmeister des einundzwanzigsten Jahrhundert wird sich vielleicht über den Deutschpauker von heute lustig machen, der so gar keine Ahnung von der Verwendbarkeit des Partizips hatte.

Heute zerbricht man sich den Kopf darüber, ob man Eigenschaftswörter mit »-weise« bilden dürfe. Ein Schauspiel mit »teilweiser« Benutzung eines älteren Stoffes, das geht nicht, denn »-weise« ist doch Umstandswort. Der Dichter hat den Stoff teilweis benutzt, aber wenn er das Wort adjektivisch an die Benutzung klebt, so treibt er Sprachunfug. Eine ausnahmsweise Erlaubnis, zwangsweise Vorführung eines Zeugen, vorzugsweise Befriedigung, – schauderhaftes zivilprozeßliches Undeutsch.

Aber bei Lessing, Goethe und Schiller gibt es »stufenweiser Gang«, »wechselweise Antworten«, »teilweisen Besitz«, und die Großmeister haben die freie adjektivische Benützung des Adverbs für selbstverständlich gehalten; weil sie eben keine Schulmeister waren und dem Tifteln keinen Platz im Denken einräumten.

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Wie die Newtonschen Lehrsätze nur eine Annäherung an eine erschöpfende Gravitationslehre darstellen, so bedeutet jede Sprachschärfe immer nur eine Annäherung an die Wirklichkeit, welche durch die Mittel des Ausdrucks niemals restlos erfaßt werden kann. Wenn wir sagen »ein chemisches Lehrbuch«, so ist das gut und unmißverständlich, wiewohl nicht restlos genau; denn das Buch selbst ist nicht chemisch, handelt vielmehr nur von chemischen Wirkungen. »Ein mathematischer Lehrstuhl« heißt es in zweckentsprechender Abkürzung für einen Lehrstuhl, dessen Inhaber Mathematik vorträgt; der Stuhl selbst ist ebensowenig mathematisch wie eine kohlensaure Jungfrau kohlensauer; und man erkennt die Ungenauigkeit schon eher, wenn man sich etwa einen strafrechtlichen, geburtshilflichen oder venerischen Lehrstuhl vorstellt; denn Strafrecht, Geburtshilfe und Venerie sind Vortragsstoffe wie die Mathematik. Als restlos genau kann nicht einmal der »botanische Garten«, das »optische Institut«, die »quadratische Gleichung« angesprochen werden; diese enthält quadratische Elemente, ohne sich als ganzes Gebilde mit dem Begriff des Quadratischen zu decken; sie kann zum Beispiel eine Beziehung zwischen Kugel-Elementen darstellen und dürfte dann bei bestimmter Einstellung der Aufmerksamkeit ohne logischen Fehler als eine Kugelgleichung gelten.

Im Verfolg dieser Linie gerät man leicht an die »silberne Hochzeit«, an die »militärische Reitanstalt«, an den »brieflichen Ratgeber«, an »die gelbe Gefahr«, an den »doppelten Buchhalter«, den »mehrfachen Millionär« und den »dreifachen Raubmörder«. Richtig oder falsch? ein aufdröselnder Schulfuchser kann da allerlei beweisen, widerlegen, für den Sprachgebrauch verbieten wollen. Die Sprache selbst aber rechnet mit dem Näherungswert und nimmt den Ausdruck an, sobald er sich als abkürzend, zweckentsprechend und für den gerade vorliegenden Fall als eindeutig erweist.

Der »Zoologische Garten« enthält schon eine leise Ungenauigkeit. Immerhin, der Schulfuchser überhört sie und erhebt keine Einwendung. Nun aber soll eine Straße nach dem Zoo benannt werden, und da beginnt er zu fuchsen. Sie müßte heißen »Zoologischergarten-Straße« oder so ähnlich; aber nicht: Zoologische Garten-Straße; denn die Straße ist doch, um Himmels willen, nicht zoologisch. Und darüber kann es tatsächlich zwischen Stadtvätern, Gelehrten und Zeitungsschreibern zum Streit kommen. Aber das Adjektiv setzt sich durch und überwindet mit seiner Geschmeidigkeit die starren Formeln der Logik.

Wo soll nun die Grenze liegen? Jedenfalls nicht da, wo wir sie heute vermuten, sondern sehr viel weiter darüber hinaus. Im Volksmund gibt es längst »das adlige Fräuleinstift «, »das ärztliche Honorar«, »das schriftstellerische Einkommen«, »der innere Kliniker«, »die gelben Fieberanfälle«, »das einjährige Dienstzeugnis«, sogar den »vierstöckigen Hausbesitzer« und die »reitende Artilleriekaserne«. Man spricht vom »körperlichen Arbeiter«, und im deutschen Reichstag wurde, ohne daß es im geringsten auffiel, Irgendwer »ein glatter Landesverräter« genannt. Man vergegenwärtige sich, wieviel Metaphern nötig sind, um das eine »glatt« zu rechtfertigen. Aber die Hilfsbrücken bauen sich von selbst, man versteht, was gemeint ist und läßt den Ausdruck durchschlüpfen. Die Wustmänner sind dagegen. Aber die nämlichen Männer weisen uns doch dauernd auf den Mund des gemeinen Mannes von Straße und Markt, aus dem wir zu erfahren haben, was der Sprache nottut. Und mit diesem Hinweis werden sie wahrscheinlich rechtbehalten, in Anbetracht der erweiterten Möglichkeiten für das Eigenschaftswort und die Attributbildung. Der »musikalische Instrumentenmacher«, der »geräucherte Fischladen« sind heute noch unmöglich, werden vielleicht ungebräuchlich bleiben, da sie durch Hauptwörter – Musikinstrumentenmacher, Rauchfischladen – ersetzt werden können. Dagegen halte ich es für denkbar, daß die Zukunft sich mit zahlreichen Adjektivverbindungen befreunden wird, die uns heute noch gar nicht vorschweben, weil die entsprechende Begriffszerteilung noch nicht vollzogen ist.

Ich kann mir zum Beispiel eine chromatische – durchaus über Halbtöne aufgebaute – Oper vorstellen. Und dazu einen chromatischen Operntext, nämlich eine Dichtung, die nach ihrer Anlage eine chromatische Vertonung erfordert. Dann wäre es eine zweckentsprechende Abkürzung, von einem »chromatischen Dichter« zu reden; weil es einer höchst umständlichen Beschreibung bedürfte, um den an sich weder farbigen, noch halbtonigen Dichter logisch genau zu bezeichnen: als einen Künstler, dessen Verse so geartet sind, daß sie den Komponisten zu einer Vertonung in Halbtönen anregen. Das mag man sich weiter ausspinnen, an eine unübersteigbare Grenze wird man niemals stoßen.

Unsere größten Sprachmeister haben, ohne sich auf grammatische Begründung einzulassen, Adjektive hingeschrieben, die heut im Schülerheft den Tadelstrich herausfordern und vielleicht in hundert Jahren wieder als selbstverständlich erlaubt gelten werden. Lessing spricht von »verschmitzten Frauenrollen«, Grimm von »ungeborenen Lämmerfellen«. Fritz Mauthner führt im zweiten Bande seiner Sprachkritik das Wesen der Adjektive fast restlos auf metaphorische Beziehung zurück: ». . . Eine Sache ist rein, ein Mensch, den man mit ihr vergleichen will, heißt reinlich. Ein anderer Mensch, den man mit dem schmutzigen Schwein vergleichen will, heißt schweinisch. Eine genaue Durchsicht unserer Adjektive würde ergeben, daß alle diejenigen, deren Etymologie noch nachweisbar ist, solche Metaphern sind; und die Vermutung, daß alle Eigenschaftswörter auf bewußter Vergleichung mit Dingen ursprünglich beruhen, liegt nahe.« Da aber kein Vergleich ganz aufgeht, restlos stimmt, so können wir auch niemals dazu gelangen, den statthaften Grad der Annäherung durch eine Regel festzulegen. Das gegenwärtige Sprachgefühl gilt immer nur für die Gegenwart einer so oder so eingestellten Einzelperson; neben ihr leben andere mit erweitertem Sprachgefühl, und ganz gewiß wird die Zukunft uns alle, die wir noch mühsam die Grenzstriche erforschen, als engbrüstig und pedantisch erklären. Die Dinge an sich bleiben uns ewig unzugänglich, nur ihre Eigenschaften treten uns ins Bewußtsein; je mehr sich die Wahrnehmungen verfeinern, verästeln und in ihren Verzweigungen wiederum zu neuen Begriffsverbindungen führen, desto schwerer kann die Sprache nachkommen, und oft genug geht ihr der Atem aus. Es ist ein Wettrennen zwischen den Eigenschaften im Bewußtsein und in den Eigenschaftswörtern in der Sprache. So bleibt nichts übrig, als den vorhandenen Adjektiven immer mehr Freiheitsgrade einzuräumen und ihnen den Zutritt zu manchen Attributbildungen zu verstatten, die sich nach strenger Logik nicht rechtfertigen lassen.

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Da öffnet sich ein weites Feld der Findigkeit und Geschmacksbewährung, zumal für die Schriftsteller, die Kunstkritik und -analyse betreiben. Die substanzloseste aller Künste, die Musik, entzieht sich der Sprachbehandlung fast vollkommen, und wir kämen im Ausdruck überhaupt nicht vorwärts, wenn die Logik durchweg das letzte Wort behalten sollte. Die Beschreibung eines Tonstückes läßt sich nur durch eine Häufung von Metaphern ermöglichen, die mit der Wirklichkeit recht wenig zu tun haben. Eduard Hanslick behandelte die Paganini-Variationen von Brahms und beschrieb sie als »mit Schwierigkeiten unterminiert«. Wie kommt der Begriff eines mit Explosivstoffen gefüllten Stollens in ein Klavierkunstwerk? Was soll hier in die Luft gesprengt werden? Gewiß, er hätte schreiben können: mit Schwierigkeiten beladen, mit Schwierigkeiten gesättigt, und der logische Widerspruch wäre dann leiser geworden; immer noch nicht verstummt; denn die Last und die Sättigung sind in diesem Zusammenhange auch nur metaphorisch, also ungenau, zu verstehen. Schrieb er »unterminiert« so holte er den Vergleich aus weitester Entlegenheit, aus ganz unwahrscheinlicher Ferne, und doch: für den, der die Natur dieses Stückes genau kennt und seine Sonderschwierigkeit im Gegensatz zu anderen Virtuosenschwierigkeiten abzuschätzen weiß, für den steht es fest, daß der Ausdruck »unterminiert« einzig und allein unter allen Adjektiven hierher paßt; und daß ein großer Sprachkünstler dazugehörte, um ihn der Logik zum Trotz zu finden.

Drastisches Beispiel eines Ganzmodernen. Oskar Bie in seinem großen Werk »Die Oper« über Beethovens Fidelio: ». . . Ringsherum kracht es von Erregungen und drängenden Willensentladungen, in all jenen eisernen Ton-Konsequenzen, die Beethovens Handschrift sind, . . . Und den Schluß dieser wilden Szene (da sich Leonore als Florestans Weib zu erkennen gibt) siegelte kein gewohnter Dreiklang – ganz unaufgelöst und glotzäugig ein verminderter Septimenakkord!«

Eine Tonfolge aus Eisen, Eisen als Handschrift, ein erwarteter Dreiklang als Siegel, – auf solche Metaphern ist man eingerichtet, sie liegen im Rahmen notwendiger Vergleiche. Aber das Adjektiv »glotzäugig« wirkt an dieser Stelle geradezu überrumpelnd, mit fabelhafter Stärke, wie ein Triumph des Wortes über die Logik. Es tritt auf wie das große Los in einer Lotterie von hunderttausend Nummern. Wie in aller Welt kommt ein verminderter Septimenakkord dazu, die Gestalt eines Auges anzunehmen, eines abnormen, unschönen Auges, das nun gerade dadurch, daß es glotzt, die ungeheure Gewalt dieser Tonstelle uns versinnbildlicht?! Es ist ein Sprachwunder und nicht das einzige in dem genannten Werk; und ein Beweis für die Leistungsfähigkeit des Adjektivs, wenn man ihm erlaubt, gegen alle Vorschriften der Logik sich einen substantivischen Gefährten zu suchen. Nur ein Sprachmeister ersten Ranges vermag für solche Verbindung die Möglichkeit aufzuspüren. Die dichtenden Neutöner unserer Tage versuchen ähnliches in der entgegenkommenden Unlogik lyrischer Gestaltung; aber sie erschöpfen sich in krampfartigen Versuchen und bereichern zumeist nur die Sprachmöglichkeiten des Kabaretts. Wie die Dinge sich entwickelt haben, ist die Hochkultur des Adjektivs nur von Meistern der Prosa zu erwarten.

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Leopold Kronecker, der bedeutende Mathematiker, entwickelte einst das folgende Gleichnis: Man hat sich jedes Wort einer Sprache vorzustellen wie eine runde Scheibe, mit der man einen gewissen Teil einer Fläche zu bedecken versucht. Da wo diese Scheiben aneinanderstoßen, entstehen naturgemäß unbedeckte Lücken. Diese Zwischenräume sind das, was mit den Worten einer Sprache nicht ausgedrückt werden kann. Aber je mehr Kreisscheiben aus anderen Sprachen zur Verfügung stehen, um so vollständiger werden wir die Fläche bedecken können.

Dieses Gleichnis muß aber noch stark erweitert werden, um der Wirklichkeit nahezukommen. Denn die runden Scheiben stoßen nur ganz vereinzelt aneinander bei den nächstverwandten Begriffen. Wäre es möglich, das ganze Kreisexperiment sichtbar durchzuführen, so würde man entdecken, daß man eben erst angefangen hat, das Feld anzugreifen. Nur in der Mitte der Fläche finden Berührungen statt, darüber hinaus weiten sich die Lücken zu Gebieten, auf denen alle Wortscheiben aus allen Sprachen der Welt nur wie verstreute Pflästerchen sitzen würden.

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Zum eisernen Bestand der satirischen Blätter gehören die bildlich dargestellten Mischformen »zur Darwinschen Theorie«. Man sieht da Zwittergebilde zwischen Ente und Frosch, Ziege und Schildkröte, Maki und Uhu, und die Fantasie der Zeichner wird in der Unendlichkeit der Kreuzungsmöglichkeiten niemals zur Ruhe kommen.

Der Beschauer findet das jedesmal höchst komisch, denn jede einzelne Mischform stellt doch einen grotesken Unsinn dar; bis dann irgendwo ein Petrefakt aufgefunden wird, das einen bestimmten Unsinn als eine Wirklichkeit aufzeigt. Vor den Entdeckungen von Marsh wäre ein Vogel mit Zähnen im Schnabel nur als Scherzfigur möglich gewesen. Aber der Archäopteryx ist ein echter Vogel und hat dennoch einen bezahnten Kiefer. Diese Mischform hat also ihre Komik verloren, da sie sich über ihre zoologische Richtigkeit ausgewiesen hat.

Bei manchem Sprachgemengsel kann ähnliches beobachtet werden. Wer unterschiedslos Deutsch und Englisch zusammenquirlt, kann damit Posseneffekte erzielen, und uns allen erscheinen die Proben von Pennsylvanisch als drollige Ausgeburten, keineswegs als ernstzunehmende Sprache. Einem in Cleveland erscheinenden Magazin entnehme ich folgende Kauderwelschereien:

Ein Deutscher geht mit einem Trunk in der Hand durch eine Elle in seine Residenz; dort läßt er sich einen Besen geben, um sich zu waschen, bürstet seinen Kot und ißt Motten. Er hatte sich anfangs durch seine Leber mühselig sein Vieh verdienen müssen. Später kam er in eine Bank, wurde Teller mit guter Sellerie und schickte am Jahresschluß ein schönes Weihnachtsgift und einen Neujahrswisch in die alte Heimat. (Zur Erklärung diene die Worttabelle: trunk: Koffer; alley: Allee, Gäßchen; residence Wohnung; basin: Waschbecken; coat: Rock; moutton: Hammelbraten; labour: harte Arbeit; fee: Lohn; teller: Kassengehilfe, »Zähler«; salary: Gehalt; gift: Geschenk; wish: Wunsch.) – –

Für das Nachwirken des Heimatgefühls zeugt das Bekenntnis eines Deutsch-Amerikaners:

Ich les in de Päpers (papers), daß schun widder gege de schörmen Lessens (german lessons) in de poblik skuhls (public schools) gekickt werd (to kick: stoßen, Fußtritte geben) . . . Mei Eidie (idea) is, daß de Perents (parents, Eltern) viel derbei tu könne, daß de Kinner mehr Progreß (progress) im Deutsche mache. Vor alle Dinge derf mer ihne kee englische Expreschens (expression) dorchgehe losse un muß sie immer ahalte, alles deutsch zu sage. Wann zum Beispiel mei Bu sagt: »Pa, ich hen in der Menädscherie (menagerie) e Rettlsneck (rattlesnake, Klapperschlange) gesehne«, do sag ich glei: Du Räskel (rascal, Hallunke), kannscht net sage, e Rasselschneck ?

Wenn ein deutscher Schriftleiter derartige Possierlichkeiten übernimmt, so denkt er zunächst schmunzelnd an das Gaudium seiner Leser, dann aber gibt er sich einen Ruck ins Moralische und übt Richteramt. Mit einem »Gefühl der Beschämung« stellt er fest, daß der Deutsche, immer nur der Deutsche, durch die Verballhornung seiner Sprache sich und sein Volk im Ausland lächerlich mache. Ich kann dieses Gefühl der Beschämung nicht teilen, so stark ich auch die Drolligkeit der Sprachkarikatur empfinde. Denn der pennsylvanisch Redende steht in der Sprachbedrängung und hat nur die Wahl: verschmutztes Deutsch oder gar kein Deutsch. Er verteidigt die Reste seiner Stammsprache, um nicht vom Englisch überflutet zu werden, mit derselben Zähigkeit, wie der Jude im Osten sein armes Deutsch-Jiddisch gegen das Slawische behauptet. Vielleicht wehrt er sich vergebens. Dann ist das Pennsylvanisch von heute nur ein Vorläufer einer Mischlingssprache, die dereinst Eigenleben erringen kann. Das Komische tritt nur als Übergangserscheinung auf. Alles Romanische z. B. muß Zwischenformen durchlaufen haben, die vom Standpunkt der reinen Grundsprache aus gehört, Kauderkeltisch, Kauderrömisch, Kaudernormannisch usw. klingen mochten. Die Zwischenform kann verschwinden, sie kann sich aber auch befestigen und über den bloßen Notbehelf hinaus in Zeit und Raum Geltung gewinnen. Das Pennsylvanische in heutiger Form ist sicherlich Verzerrung, niederste Form eines Patois und außer Stande, aus sich heraus irgendwelches Schrifttum zu erzeugen. Aber auszudenken ist es schon, wenngleich die Wahrscheinlichkeit dagegen spricht, daß sich aus ihm irgendwann ein neuer Dialekt entwickeln wird, der dem Sprachkundigen der Zukunft mehr bedeutet als ein lächerliches Kuriosum.

Anstatt dieser Denkbarkeit nachzugehen, benutzen die Reinlichkeitseiferer jene Pröbchen aus dem sprachlichen Wildwest zu dem ihnen nächstliegenden Zweck. Sie erklären einfach: da habt ihr das Muster einer Ludersprache, und in dem mit Fremdbrocken durchsetzten Gelehrtenjargon Deutschlands habt ihr ein zweites Muster. Eines wie das andere; das angeblich hochgebildete, verwelschte Schriftdeutsch unserer Tage ist genau so verludert wie das Pennsylvanische und wirkt auf den völkisch denkenden genau so skurril wie die Ausdruckweise der Ungebildeten jenseits des Großen Teiches. Und dann werden die Belegproben angeführt, etwa: »Goethes ethische Anschauung ist ein teleologischer Energismus mit perfektilibistischer Tendenz« – »Die Musik des Novalis ist nicht die der transzendentalen Pneumatologen und Theurgen«. Fehlt nur der Beweisschluß; denn solche herausgerissene Sätze einzelner Entgleister haben mit wissenschaftlichem Deutsch nicht das geringste zu tun; sie verhalten sich zu ihm wie die Kathederblüten des Galletti zum Gesamtinhalt der deutschen Wissenschaft. Nicht das Fremdwort, das Weltwort, ist für jene Sätze verantwortlich zu machen, sondern der Geisteszustand der Konfusionariusse, die sie aufschrieben.

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Wenn der Laie Ausdrücke vernimmt wie Pseudoïsidorische Dekretalen, Diëlektrizitätskonstante, Aethylphenylpropylsilicylchlorid, so kommt er bei ausreichender Unbildung auf Gegenstücke aus dem Alltag, etwa auf »Militärintendantursekretariatsassistent«, und er glaubt dann, das Wesen der Sache erfaßt zu haben; weil er nicht zu unterscheiden versteht zwischen geschichtlich oder organisch begründeter Notwendigkeit und lächerlichem, überflüssigem Gemansche.

Gewiß, man kann mit Fremdworten kauderwelschen, aber man kann auch mit Heimworten kauderdeutschen. Und in den Übersetzungskünsten, die auf uns einstürmen, wimmelt es von solchem Gekauder, wie in vorliegendem Buch an zahlreichen Zitaten bewiesen wird. An dieser Stelle und im Zusammenhang mit dem Ausflug ins Pennsylvanische sollte nur ein Zufallsbeispiel herausgegriffen werden. Der Titelkopf des »Vorwärts« trägt für alle Welt verständlich die durchaus sach- und sinngemäße Bezeichnung: Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands; in fünf Worten fünf Fremdbestandteile, – mithin nach der Auffassung der Sprachpriester: »Geluder«. Mit aller Hilfe der besten Verdeutschungsbücher wäre dafür herauszubringen »Mittelzeitschrift der Genossenvolksherrschaftlichen Gruppe Deutschlands«. Das klänge aber auch nicht besser als pennsylvanisch, und wäre dazu im Ausdruck minder treffend als die Redeweise des vorerwähnten Cleveländers, der mit dem Ausdruck »Rasselschneck« wenigstens ganz deutlich und volksverständlich bezeichnet, was er meint; der verballhornt nur Silben und Worte, nicht den Sinn.

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In der Beurteilung aller Fragen, die uns hier beschäftigen, würde die »Gefühlsbetonung« eine sehr große Rolle spielen, wenn wir von ihr nur etwas wesentliches wüßten. Die Angelegenheit der Gefühlsbetonung wird oder kann einmal eine Wissenschaft für sich werden; heute sind dafür nur die ersten Ansätze vorhanden, lose Ahnungen, die wir unter dem Sammelnamen »Onomatopoiie« begreifen und auf den inneren Zusammenhang der Worte mit Vorgängen in der Natur beziehen. Der wirkliche Zusammenhang liegt ganz im Dunkeln, selbst bei Worten, die uns wie brüllen, lispeln, säuseln, Donner, röcheln, rollen ganz unverkennbar onomatopoetisch, also klangbildnerisch nachgeahmt erscheinen. Ja sogar in Lautbildungen, die ganz einfach und geradezu einen Naturschrei wiederholen, kommen wir von der Täuschung nicht los. Wir Deutsche sind z. B. der festen Meinung, daß es zur Nachahmung des Hahnenschreies gar keine treffendere Beschreibung geben könne, als »Kikeriki«, und wir würden jeden Versuch, dieses zum Substantiv erhobene Wort durch ein anderes zu ersetzen, als unsinnig ablehnen. Wir empfinden zumal die drei »i« als eine naturgewollte Notwendigkeit. Aber schon das Zeitwort »krähen« sollte uns stutzig machen, da es doch für denselben Vorgang onomatopoetisch auftritt, aber auf ganz anderer Vokalgrundlage. Warum heißt es nicht »kriehen«, – und wenn das »ä« onomatopoetisch richtig ist, warum heißt das Hauptwort nicht Kähkeräkäh? warum? weil wir erst, willkürlich, den Vokal hinzuerfinden, der dem Vogelruf an sich ganz fremd ist. Der gallische Hahn äußert sich ganz gewiß nicht anders als der germanische, allein der Franzose hört und schreibt »cocorico«, wiederum mit anderer Vokalisierung. Soll etwa die Naturtreue beim Konsonanten liegen, beim »k«? Damit ist auch nicht durchzukommen, denn der nämliche Laut hieß im 16. Jahrhundert »Tutterhui«, und manchem Ohr wird vielleicht noch heute das »T« und das »u« der Wahrheit näher zu kommen scheinen als das »co« und »ki«.

Nun beschränkt sich aber der Kreis der Gefühlsbetonungen keineswegs auf die eigentlichen onomatopoetisch gebildeten Worte; er umfaßt vielmehr hunderte, tausende von Worten, ja vielleicht die ganze Sprache. Der Reiz und die Traulichkeit der Muttersprache sind im Grunde nichts anderes als das symphonische Zusammenklingen aller dieser Gefühlstöne. Mauthner untersucht in diesem Zusammenhange den Satz: Die Schwalbe zwitschert, und findet den Gefühlston in dem Wort »Schwalbe«. Stimmt es aber mit dem Gefühlszusammenhange in einem Falle, so ist das Ende überhaupt nicht abzusehen. Alles ist gefühlsbetont, nichts läßt sich somit vollkommen getreu, das heißt, mit Hinübernahme dieser Betonung übersetzen, mag auch der Sinn restlos in anderer Form ausgedrückt werden können.

Solche Gefühlswerte lagern sich aber nicht nur um die Heimatsworte, sie hängen auch an Fremdworten, und sie gewinnen für uns eine Bedeutung, wenn es sich um vielgeübte Worte der Bildungssprache handelt. Etwas Onomatopoetisches arbeitet hier mit, etwas Unerforschtes in den Geheimwirkungen der Wortklänge, also besonders der Vokale.

Bleiben wir noch einen Augenblick beim Rein-Deutschen. Unsere Ausdrücke für Farben, grün, gelb, rot, blau, schwarz, weiß, zeigen verschiedene Vokale, die man als Zufallslaute ansehen kann. Eine sachliche Notwendigkeit verknüpft weder das »ü« mit dem Grün, noch das »o« mit dem Rot, wie der Vergleich mit beliebigen anderen Sprachen sofort zeigt. Aber für uns deutsche Menschen, denen sich durch Vererbung und Gebrauch der Vokal mit der Farbe zur einheitlichen Vorstellung organisiert hat, für uns liegt in diesem Zusammenhang eine Gefühlsnotwendigkeit. Der Vokal »ü« hat für uns etwas Grünes, und in der Farbvorstellung Rot schwingt etwas vom Vokal »o«. Und dieses Etwas schwingt noch weiter. Wenn man sich z. B. eine Rose von bestimmter Farbe vorstellen will, so liegt es am nächsten, an eine rote Rose zu denken, nicht weil ein begrifflicher Grund hierfür vorliegt, sondern weil das »o« in Rose und das »o« in Rot klanglich aufeinander eingestellt sind.

Das »o« besitzt aber auch zudem im Klanglichen ein gewisses Übergewicht, das sich zwar jeder Messung entzieht, aber wahrnehmbar wird, wenn man die Aufmerksamkeit auf die Klangworte selbst richtet. Das »o« ist für uns um einen Grad tönender als die andern Vokale. Vom eindringlichen Ausruf oh! oho! angefangen bis zum Walkürenruf hojotoho! zieht sich eine auf »o« abgestimmte Skala, in deren Sprossen sich Ton, Chor, Vox, Vokal, Glocke, Orgel, Donner, Wort befinden, dazu aus uns geläufiger Sprache die Endung phon, von phoneo, phtongos (davon Diphthong), oro, loquor, sonor, oratorisch, rhetorisch, Tenor usw. Selbstverständlich ist nicht von einer Ausschließlichkeit die Rede, sondern eben nur davon, daß unserem Ohr das »o« um einen Grad onomatopoetischer vorkommt, sobald wir Worte von innewohnender Klangbedeutung sprechen oder hören. Übersetzen wir uns nun oratorisch, rhetorisch, mit rednerisch, schönrednerisch, so mag das dem Inhalt nach recht genau sein, nur der kleine mitschwingende Gefühlston kommt nicht mit hinüber, und es ist uns, als ginge uns im Klangwert etwas verloren, weil das betonte »o« fehlt. Grobsinnlich ist das freilich nicht zu ergreifen, ich habe indes die Erfahrung gemacht, daß jeder Feinfühlige es erfaßt, sobald er darauf besonders hingewiesen wird.

Mit solchen Gefühlsbetonungen ist weiterhin zu rechnen, sobald die Lautgruppen »o«–»a« oder »a«–»o« hervortreten. Das »a«, nicht so elementar wie das »o«, tönt mit einer gewissen Weihe, zu dem sich das »e, i, u« und die Doppellaute seltener und minder in Grade erheben.

Kirchenlied sagt wohl ziemlich dasselbe wie Choral, aber das Wort Choral atmet voller und besitzt in seinem Vokale eine etwas stärkere Betonungsweihe; es steckt in ihm mehr Gnadenklang und eine magistralere Akustik (so wie auch Dom und Kathedrale der Kirche und dem Münster durch ihre Vokale akustisch überlegen sind). Gesetzt, es wäre möglich, das Wort Pathos vollkommen sinngetreu zu übersetzen, so würde eine wirkliche Gleichwertigkeit doch nur dann entstehen, wenn auch die Gefühlsbetonung in »a–o« ungeschwächt hinübergenommen werden könnte. Diese ändert sich aber bei jeder Übersetzung, und das Unterbewußtsein meldet einen leisen Widerspruch an, weil es diese besondere Vokalfolge von Pathos vermißt. Darum genügt uns auch nicht Urgemisch für Chaos, und wüst für chaotisch, ganz abgesehen davon, daß hier der Verstand seine besondere Einrede erhebt. Im Unterbewußtsein regt sich eine auf das Phonetische gerichtete Sehnsucht, die sich mit Worten vielleicht nur tautologisch bezeichnen läßt: Chaos klingt chaotischer als jede Übersetzung, es trägt schon im Klange die an das Chaotische erinnernde Gefühlsbetonung.

Das sind nur Anfänge von Hindeutungen, gewisse lose und zunächst sehr angreifbare Versuche, dem schwierigen Problem der Gefühlsbetonung etwas näherzukommen. Wesentlich erscheint mir zunächst, hier überhaupt ein Problem zu wittern und den Leser nach dieser Richtung anzuregen. Folgt er ihr, so wird er im Sprachklanglichen schon heute Erscheinungen wahrnehmen, die erst in einer Phonetik der Zukunft nach ihrem vollen Wert erkannt werden können.

Solche Erscheinungen werden schon merklich, wenn wir uns bemühen, den Grenzen von wirklicher und vermeintlicher Onomatopoiie nachzuspüren. Welche Hindernisse findet die Sprache in ihrem eigenen Lautgefüge bei der Nachbildung der Naturlaute? welche Rolle spielt hierbei die Anordnung der Konsonanten? Ist es Tücke des Objektes oder Naturnotwendigkeit, daß sich auf gewisser Stufe der Onomatopoiie unüberwindliche Härten einstellen? »Im Röhricht seufzt's und ächzt's und krächzt's« – das ist eine ganz hervorragende Leistung der klangmalenden Sprache, aber zeigt sich hier nicht ein Widerspruch zwischen Naturlaut und möglicher Menschenrede?

Und das sind noch einfache Fragen gegenüber den verwickelten, die uns jede Übertragung aufgibt, sobald der Logos mit der Akustik zu verhandeln anfängt. In seinem bedeutenden Werk »Philosophie des Unvollendbar« sagt Lasker: »Jede Sprache hat eine gewisse Kapazität und vermag ein gewisses Gebiet des Ausdrucks zu beherrschen. Lateinisch und Deutsch, wenn von ihren zufälligen Unvollkommenheiten abgesehen wird, sind äquivalent, sie haben die nämliche Kapazität, denn man vermag aus dem Lateinischen ins Deutsche zu übersetzen, wie auch umgekehrt. Bei der Übersetzung hat man nur zu beachten, daß jedes Wort in dem Sinne genommen wird, der ihm innerhalb seiner Sprache zukommt, und natürlich, daß dieser Sinn eindeutig sei: alsdann sind die Sprachen, richtig verstanden, äquivalent.«

»Richtig verstanden« das ist möglich. Aber eine »richtig gehörte« Äquivalenz besteht nicht und kann durch kein Kunstmittel hergestellt werden. Nur der Sinn läßt sich transformatorisch abbilden, nicht der Ton. Mit den Verschiebungen, die sich beim Abbilden des Sinnes ergeben, mag sich der Verstand abfinden, und er wird im Einzelfall mit ihm fertig werden wie bei anderen projektivischen Veränderungen; er sucht die Eindeutigkeit in der Beziehung und zeigt sich, wo es irgend angeht, willig in der Deutung. Aber der Klang, die Klangfarbe, und die von ihm unzertrennliche Gefühlsbetonung wird grundsätzlich verändert, nicht nur transformatorisch. Es entsteht etwas anderes, akustisch verschiedenes; und die Wertabmessung zwischen dem Urbild und dem klanglichen Neubild bildet den Inhalt des Problems, das wir hier zur Erörterung gestellt haben.

 


 


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