Alexander Moszkowski
Das Geheimnis der Sprache
Alexander Moszkowski

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Fremdes Sprachgut

Nur eine Minderzahl der Zeitgenossen besitzt eine zureichende Vorstellung davon, welche Fülle des Fremdländischen wir in unsern besten, scheinbar ganz grundwüchsigen Deutschworten bewahren; in welcher Unsumme von Verkettungen sich die Wurzeln durcheinanderweben, oft kaum verfolgbar, vielfach aber mit sicheren Spuren in entlegenes Erdreich. Keine Sorge, lieber Leser! Philologie im eigentlichen Sinne soll hier nicht getrieben werden. Nur eine kleine Liste möge sich entwickeln, die sich mit unserem Thema unmittelbar berührt. Den wirklichen Sprachkundigen wird sie nichts neues bieten, desto mehr Anregung aber der großen Mehrheit derjenigen, die noch niemals in solchem Wurzelwerk gewühlt haben. Und ich bin ziemlich sicher, daß von diesen wiederum eine ganze Anzahl schon während der Durchsicht dieser Liste einen Hauptschluß vorwegnehmen werden, nämlich den, daß es ganz unmöglich ist zu bestimmen: Was ist noch Fremdwort?

Sehr unterhaltsam wird diese Liste nicht anmuten, namentlich nicht in ihren Anfängen. Sie ist auch gar nicht dazu bestimmt, hintereinander gelesen zu werden. Nehmt Stichproben daraus und vergleicht solche Proben mit anderen, die euch einfallen. Die Wirkung wird sich schon einstellen.

Ehe wir beginnen, müssen noch einige Einschränkungen gemacht werden. Daß es sich nur um eine kurze Auswahl, weltenweit von jeder Vollständigkeit, handelt, wurde schon angedeutet. Eine weitere Verengung betrifft die Sprachgebiete, da hier vorerst nur die Zusammenhänge mit dem Lateinischen und Griechischen in Betracht kommen sollen. Und schließlich: Eine unbedingte Gewähr für die restlose Sicherheit aller Ableitungen kann nicht übernommen werden. In Einzelfällen werden nur Möglichkeiten gestreift. Das Wesentliche bleibt der Gesamtgrad der Wahrscheinlichkeit, der die Höhe der Sicherheit erreicht, auch wenn dies und das nur als Vermutung bestehen bliebe. Wer sich nach Vervollständigung sehnt, der steige in die Tiefen des germanistischen Schrifttums. Für den vorliegenden Zweck dienen vortrefflich die großen Werke von Fritz Mauthner und besonders das sehr übersichtliche Etymologische Wörterbuch von Friedrich Kluge.

Es bedarf keines Seher- noch Späherblicks, um Worte wie Fenster, Achse, Nase, Acker (ager), Rose, Pille (pilula), Zepter, Weste (vestis) als lose verkappte Fremdlinge zu erkennen. Schlicht und treuherzig erweisen ihre Herkunft: Tempel, Silbe (syllaba), Salz, Frucht, Balsam (griechisch: balsamos), Mutter, Engel (angelus), Altar, Bibel, Zelle (cella), Axe, Fabel, Makel, Flamme, Öl (oleum), Natur, Jubel, Regel, Larve, Pest (pestis), Grad, Gips (gypsum), Insel, haben, klar, Fasan (Phasianus), Falke, Laterne, Lilie, Salm, Libelle, Sack, Tafel (tabella), Wespe, Leier (lyra), Theater, Nebel, Pause, Palme; und das anscheinend grunddeutsche Schreibpapier, das ich in diesem Augenblick benütze, kommt her von papyrum und dient zum scribere, ist also eigentlich ein (manu-) »Script-Papyrum«.

Diesen vollkommen durchsichtigen Wörtern gesellt sich eine Unzahl anderer, mit unschwer lesbarem, wenngleich nicht ganz so bekanntem und deutlichem Ursprungszeugnis. Ohne Rücksicht auf Zusammenhang, alphabetische Ordnung und ganz gewiß ohne die Absicht, auch nur eine annähernde Vollständigkeit zu erreichen, seien hier genannt:

Die Pacht (von pactum, Pakt, verwandt mit pangere und Pax) – der Mist (von mingere) – die Pfalz und der Palast (von palatium) – nackt (von nudus) – die Pflanze (von planta) – der Lattich (von lapatica) – das Nest (von nidus) – der Regen (von rigare) – das Segel (von sagulum) – der Pfahl (von palus) – die Speise (von spesa) – der Wust (von vastus) – der Samt (von samitum) – die Schraube (von scropha) – waten (von vadere) – die Turteltaube (von turtur) – Spiegel und spähen (von speculum, speglum) – Abt (von ἄββας abbas) – Essig (von acetum) – Büffel (von bufalus) – Spargel (von asparagus) – Galle (von χολή) – Kaninchen (von cuniculus) – Kelter (von calcatorium) – der Mantel (von mantellum) – die Flotte (von flovitare) – die Uhr (von hora) – der Herold (von heraldus) – der Riemen (von remus, nicht ganz sicher) – der Panzer (von pancerea) – die Pfarre (von parochia) – die Pfründe (von praebenda) – der Schemel (von scabellum) – die Darre (von torridus) – der Turm (von turris) – die Wanne (von vannus) – Ohm (Maßeinheit, von ἄμη) – essen (ἔδομαι) – Erz, Eisen (von aes) – Ohr (von auris) – Becher (von bicarium, spät- und vulgärlateinisch, wie manche andere in diesen Ableitungen) – die Kette (von catena) – die Zeder (von cedrus) – der Teufel (von diabolus) – kosten (von costare, constare) – die Meile (von milia) – Orden, ordnen (von ordo, ordinare) – Name (von nomen) – die Auster (von ostrea) – die Lippe (von labium) – der Kelch (von calix), wobei wir feststellen können, daß in einem so volkstümlichen Auftakt wie »Zwischen Lipp' und Kelchesrand« beide Hauptwörter im Fremdklang schwingen. –

Ferner: das Gras (von gramen) – die Fee (von fatum) – der Morast (von maragium) – der Laie (von laicus) – neigen (von nictare) – lesen (von legere) – die Orgel (von Organum) – röcheln (von rugire) – der Luchs (von λύγξ) – Kümmel (von cuminum) – der Drache (von draco) – die Messe (von missa) – opfern (von oprare, operari, offere?) – fünf (von πέντε, aeolisch πέμπε) – Licht (von lucidus) – die Marter (von martyr) – der Erker (von arcora) – die Axt (von ascia) – der Mohr (von maurus) – der Pfau (von pavo) – Linnen (von linum, λίνον) – Aal (von anguilla) – Eber (von aper) – Bolle (von bulbus) – Kiste (von cista) – Greis (von γηραίος[?]) – Kreuz (von crux) – verdammen (von damnare) – Kupfer (von cyprium) – Joch (von jugum) – lallen (von lallare) – Latz (von laqueus) – Mord (von mittellateinisch mordrum, das auf mortuus zurückgeht) – Nuß (von nux) – Nonne (von nonna; nonnus = der Mönch) – Platz (von πλατεία, platea) – Fladen und platt (von πλατύς) – Bruder (von φράτηρ frater) – Storch (von τόργος) – Esel (von asellus, Diminutivform von asinus) – Kamin (von caminum) – Kampf (von campus, Schlachtfeld) – Kissen (von cussinus) – Lache (von lacus) – Narr (von nario) – Flaum (von pluma) – Pein und verpönen (von poena) – kasteien (von castigare) – Zentner (von centenarius) – Koppel und kuppeln (von copulare) – Kuckuck (von cuculus) – Laube (von laubia) – Minne (von μένος, memini, reminiscor) – Meer und Marschland (von mare) – Neffe (von nepos) – Nichte (von neptis) – Lehm und Leim (von limus) – Meister (von magister) – Werk (von ἔργον) – – was uns wiederum beweist, daß selbst das deutscheste vom Deutschen, das deutsche Sprichwort, nicht durchweg ohne Fremdanklang auskommt: »Wie der Meister, so das Werk«, beide Hauptwörter zurückführbar auf Wurzeln, die man heutzutage als »welsch« bezeichnet.

Weiter: Mandel (von amandula) – blond (von blundus) – Burg, Bürger (von burgus, burguarius) – Senf (von σίναπι, sinapis) – Zucker (von saccharum) – Donner (von τόνος, tonitrus) – Raps (von rapicium) – Ruder (von ratis) – Prinz (von princeps) – Linse (von lens) – Pappel (von populus) – Rock (von roccus) – Runzel (von ruga) – Scharlach (von scarlatum) – Atem (von ἀτμός) – Wind (von ventus) – Wanst (von venter) – Ball (von βαλλίζω, werfen) – Pokal (von βουκάλιον) – wahr (von verus) – Fiedel (von vitula) – Witwe (von vidua) – Wein und Winzer (von vinum und vinitor) – Kranich und Kran (von γέρανος, geranus) – Veilchen (von viola) – Wippe (von vibrare) – wollen (von βούλομαι) – Knie (von γόνυ oder γνύξ) – Zeichen (von δει̃γμα) – Baldrian (von Valeriana) – Dachs, Dackel (von taxo) – tasten (von taxare) – Stöpsel (von stuppa) – Bischof (von episcopus) – Ingwer (von zingiber) – Leber (von ἧπαρ) – Stoppel (von stupila) – sputen und spazieren (von spatium) – Seife, Saft (von sapo, sapor) – Straße (von strata) – Sarg und Schrein (von scrinium) – Fell (von pellis) – Pfeiler (von pila) – Strudel (von stridere) – Rad, rund (von rota, rotundus) – Rübe, Rapunzel (von rapa) – Teppich (von tapetum) – Same (von semen) – Strauß (von struthio) – ranzig (von rancidus) – Strippe (von stroppus) – Pult (von pulpitum) – mahnen (von monere) – piepen (von pipare) – der Rechen (von rogus) – der Puls (von pulsare) – das Reich (von [oder urverwandt mit] rex) – die Grille (von γρύλλος) – Dattel (von δάκτυλος) – Dolde und Tal (von ϑόλος) – Planke (von planca) – Pavian (von papio) – Lauge und laben (von lavare) – Mönch (von monachus) – Löwe (leo) – Krabbe, Krebs (von κάραβος) – grunzen (von grunnire) – starr (von στερεός) – Stuhl (von στήλη) – Büchse (von πύξις) – Stärke (von στέριχος) – flechten (von πλέκω) – räuspern (von respirare?) – Pfaffe (von papas [πάπας]); eine andere, nicht sonderlich glaubhafte Ableitung will »Pfaffe« aus den Anfangsbuchstaben von pastor fidelis animarum fidelium zusammensetzen; so oder so, auf einen altklassischen Urbestand wird zurückgegriffen; und wir könnten gleich anschließen, daß das Wort »Urbestand« selbst auf die allerältesten Grundsilben ur (in urus, aurum, aurora, das biblische Aur רוא), und stâ in ἱστάναι, stare, zurückgeht.

Immer noch zu der Klasse der unschwer erkennbar gehören: bohren (von forare) – irren (von errare) – flennen (von flere) – flackern (von flagrare) – Flocke (von floccus) – dauern (von durare) – Griffel (von graphium, γράφειν) – Gaukler (von [?] joculator, Spaßmacher) – Hokuspokus (aus den Worten der Hostienweihe verderbt »hoc est corpus«) – Der Sigrist (von sacrista) – Sapperlot, sackerlot (von sacramentum) – Der Kamin und die Kemenate (von caminus) – Der Föhn (von favonius, der laue Westwind) – Die Glucke (von glocire, den Naturlaut der Henne hervorbringen) – Der Kolben (von globus, kugelförmiger Klumpen) – Kerker (von carcer) – Pinsel (von penicillus) – Pfanne (von patina, πατάνη) – Schuster (von (Schuh-) sutor) – Fiedel (von fidicula=Saiteninstrument) – Entern (von intrare) – Das Schiff (von [?] scyphus, Becher) – Petersilie (vom griechischen petroselinon) – Skizze (von scida, ein abgerissener Streifen der Papierstaude, schedium, ein Stegreifgedicht) – Der Zoll (von tollere, wegnehmen, Abgabe erheben) – Treff (über französisch trèfle aus trifolium, Klee, Dreiblatt) – Weiher (von vivarium, Fischteich)Beiläufig bemerkt: In vereinzelten Fällen kann auch der umgekehrte Weg, das Eindringen aus dem Germanischen ins Lateinische, verfolgt werden. Hierfür eine größere Reihe aufzuzählen, wäre in diesem Zusammenhange zwecklos; ebenso wie es bedeutungslos erscheint, sich auf den philologischen Begriff der Wurzel als einer Einsilbigkeit festzulegen. Uns kommt es vielmehr nur darauf an, den Zusammenhang mit Ursprungsworten zu betonen, die hier in leicht verständlicher Bildlichkeit als Wurzel bezeichnet werden. – Daube (von duba) – Glas (von glaesum) – Fackel (von fax, facula) – Fieber (von febris) – Erbse (von ervum) – stellen (von στέλλω) – stöhnen (von στένω) – Kufe und Kübel (von cupa, cupellus) – Koch, Küche, kochen (von coquus, coquina, coquere) – Kelter (von calcatorium) – die Karausche (von coracinus) – Stirn (von στέρνον) – die Stimme (von στόμα) – der Busch (von buscum) – der Kampfer (von camphora) – der Klang, klingen (von clangor, clango) – Brief (von breve) – Marke (von margo) –, wonach auch die Briefmarke, wie oben das Schreibpapier sich einer leisen Beziehung zum Ausland nicht erwehren kann.

Nicht ganz so einfach verhält es sich mit der Verzweigung der Wurzeln bei den nachstehenden Worten, von denen einige sogar den Rang interessanter Fälle beanspruchen. Wiederum soll aus einer unerschöpflichen Reihe nur eine engbegrenzte Auswahl geboten werden, und wiederum mit dem Vorbehalt, daß unsere erläuternde Silbe »von« nicht die Ausschließlichkeit der Abstammung behauptet. Es gibt da vielfach in der Entwicklung Nebenwege in Entlehnung, Anlehnung, Seiten- und Urverwandtschaft, Laut- und Bedeutungswandel; aber in der Grundtiefe des Stammes bleiben Fasern aus Latein und Griechisch nachweisbar, die manchem Überraschung bereiten mögen, wenn er sie zum ersten Mal bloßgelegt erblickt:

Arzt wird hergeleitet von archiater, ἀρχιατρός (Hauptarzt, Erzarzt, besonders auch: königlicher Leibarzt); die Rangbezeichnung in »Arch . .« übernahm für unser Wort das wesentliche in der Begriffsbestimmung.

Vogt findet seinen Ursprung in advocatus, also in der Mittelsilbe des Wortes; der Bedeutungswandel geht von Sachwalter über Schutzherr zu Statthalter, Gerichtsbeamter, Schirmvogt.

Pfingsten, von πεντηκοστή, pentekoste, wörtlich der fünfzigste Tag (d. h. nach der Darbringung der Erstlingsgarben).

Pferd, vom spätlateinischen paraveredus, »das zum Dienst auf Nebenlinien bestimmte Postpferd«. Aus noch früherer Zeit wird poledros genannt, anklingend an πω̃λος, polos, und an das gleichbedeutende »Fohlen«. Eine Seitenlinie führt von poledros auf poletro, poledro (spanisch-italienisch), ein Marterwerkzeug von der Figur eines Pferdes, woraus das deutsche »Folter« entstanden ist.

Armbrust hat nach eifriger Behauptung der Philologen nichts mit Arm und Brust des Schützen zu schaffen, leitet sich vielmehr ab von arcubalista, »Wurfbogen«; aber selbst wenn die reingermanische Zusammensetzung möglich wäre, blieb immer noch ein fremdländischer Rest haften, da »Arm« wahrscheinlich auf das altlateinische, dem Ovid wie Virgil geläufige armus = Oberarm zurückgeht.

Brille ist entstanden aus beryllus, dem glasig glänzenden, für optische Zwecke verwendbaren Edelstein, heißt also eigentlich Berylle.

Kunterbunt bedeutet ursprünglich »vielstimmig« und stammt aus contrapunct, das über die Zwischenstufe contrabund erst seit dem 15. Jahrhundert vereinzelt in gegenwärtiger Bedeutung auftritt. Bunt: vom mittellat. punctus, punktiert, gefleckt.

Trichter ist eigentlich tractarius, trajectorium, ein Werkzeug, mit dem man aus einem Gefäß in ein anderes gießen, trajicere, kann.

Impfen, entlehnt aus imputare, das ein verdorbenes amputare darstellt und sonach in der Tätigkeit wesentlich das Operative betont.

Koller (als Krankheitsform) von χολέρα, cholera, Gallensucht.

Erbe, von ὄρφανος, orbus, verwaist, vaterlos.

Kirche von κυριακή (kyriake), ursprünglich der Sonntag, später das Haus des Herren.

Nüchtern (in bestrittener, aber doch ganz einleuchtender Ableitung) von nocturnus, nächtlich.

Abenteuer (Aventiure) von adventura aus advenire, sich ereignen.

Westen (als Himmelsrichtung), wenn nicht geradlinig abstammend, so doch zusammenhängend mit ves-per, griech. hes-pera, Abend; die Richtung der abendlichen Sonne.

Kirsche vom griech. kerasos, Kirschbaum, lat. cerasus.

Lakritze, von γλυκύρριζα (glüküriza) aus γλυκύς – Süßwurzel.

Bretzel, von bracellum, brachiolum, Armchen; Gebäck, dessen Figur der Armbiegung entspricht.

Soldat, Söldner, Sold, von solidus, fest, gediegen; Solidu war eine Goldmünze etwa im Werte eines Dukatens; später im Begriff entwertet, in Abwandlung bis soldo, sou. – Der Soldat trägt einen

Tornister, dessen Stammlinie bis ins Griechische geht: τάγιστρον, tagistron, Futtersack des Reiters, im Zusammenhang mit kanistron, Körbchen.– Des Soldaten

Flinte, das mit Steinschloß versehene Gewehr, findet seinen urväterlichen Laut in πλίνϑος, plinthos, ursprünglich Ziegelstein, weiterhin jeder Stein von rechtwinkligen Flächen. – Des Soldaten

Stiefel hieß in Vorzeit ae-stivale, hing mit aestus, Sommerhitze, zusammen und bedeutete einen aus leichtem Leder hergestellten Sommerschuh.

Kartaune gründet sich sprachlich auf eine Berechnung: es handelt sich um eine kleine Kanone, deren Geschoß nur ein Viertel des großen Belagerungsgeschosses wog; der vierte Teil, neulatein.: quartana, ergab Kartaune.

Selbst die Pickelhaube ist nicht ganz so grunddeutsch, wie man vermuten könnte. Sie hängt mit Becken zusammen, spätlateinisch bacca, nach der eigentlichen Beckenform des Helmes; bacilletum = Helm. Versteift man sich aber auf die »Haube«, so gelangt man auf einem anderen Ast abermals ins Lateinische, da Haube auf Haupt und damit auf die Grundform caput zurückgeht. –

Des Soldkriegers Fahne hieß einmal pannus, Tüchlein, und kommt schon bei den römischen Klassikern im Sinne eines wehenden Zeugstreifens vor; (penna – die flaumige Fahne am Federkiel). – Des Söldners

Knaster ist ein lateinisch-griechisches Gewächs, κάναστρον, canistrum, das in die lateinische pipa, deutsch Pfeife gestopft wird. Von den Wolken des canistrum eingehüllt spielt er

Skat aus ex carta (charta), herausgelegte Karte. Ähnliche Ableitung im Französischen, so daß Skat und Écarté (von é-carter) im Sprachsinne eigentlich dasselbe Spiel darstellen. Sein

Trumpf-As zeigt zwei Urbestandteile, den Trumpf, von triumphus, und das as, die Eins. Im Krankheitsfall wird der Soldat untersucht vom

Oberarzt, dessen Sprachgeschichte schon oben, bei »Arzt« berührt wurde; die Ergänzung Ober = über, von ὑπέρ, führt auf einen Hyperarchiater, wie der Doktor vielleicht heißen würde, wenn er in lautlicher Urgestalt zu uns gekommen wäre.

Er verordnet ihm Rhabarber, der von radix barbara herkommt, in pflanzlicher Verwandtschaft mit Rettich und Radieschen, die das Grundwort radix leichter erkennen lassen.

Wir brechen hier ab, vorläufig, und einfach deshalb, weil doch irgendwo ein Ende gemacht werden muß. Der Stoff selbst würde Fortsetzung bis ins Unendliche gestatten. Wir haben hier in der »radix barbara« wieder das Grundthema erreicht, die »fremdländische Wurzel«, von der wir in unsrer Betrachtung ausgingen. Man grabe, wo man will, überall stößt man im sprachlichen Erdreich auf solche Wurzeln; sie vermehren sich ins Unabsehbare, wenn man außer dem Latein und Griechisch noch die Herkünfte aus Italienisch, Französisch, Englisch, aus slawischen Sprachen usw. usw. in Betracht zieht.

Ich stelle mir einen aufmerksamen, unverbildeten Leser vor, der vordem noch keine Gelegenheit hatte, derlei Zusammenhängen nachzuspüren, dem sonach die obige Liste einiges Neue und Belehrsame geboten haben mag. Und ich bin sicher, daß schon am ersten Drittel der Lehrstrecke jene Frage ihm ankam mit stetig wachsendem Fragezeichen: ja, wenn so viel im Deutschen entlehnt, aus Fremdkeim entwickelt ist, was ist dann noch wirkliches Fremdwort? wo ist die Grenze zu ziehen?

Und die einzige Antwort, die man ihm mit guten Gewissen geben kann, lautet: es gibt keine Grenze, alles fließt, jeder Versuch, Abteilungsstriche einzuziehen in das Fließende, muß als aussichtslos und kindisch erscheinen.

Tatsächlich zieht auch jeder unserer Reinigungsmeister die Grenze anders. Jeder läßt anderes gelten, lehnt sich gegen anderes auf. Es herrscht die reine Willkür und die unklare Gefühlswallung statt des sichtenden Verstandes. Alle zusammen wirtschaften freilich mit dem Begriff der »Eindeutschung«, aber über den Grad der Einbürgerung, der Eingedeutschtheit entscheidet jeder nach eigenem Gutdünken. Und keiner kann sich so recht vergegenwärtigen, was eigentlich mit dem Fremdwort vorgeht, wenn es bei uns einwandert, sich den Gepflogenheiten des Landes anpaßt, um schließlich ganz deutsch zu werden.

Irgendwann in einem vergangenen Jahrhundert müssen diese Vorgänge stattgefunden, und jedes Fremdwort, als Vorläufer des späteren Gutdeutschwortes, muß einmal den kritischen Punkt überschritten haben. Kam es hinüber oder nicht? das ist die Einzelfrage. Durchgreifende Gewißheit aber ist: kein einziges wäre hinüber gekommen, wenn es schon damals die stirnrunzelnden Grenzwächter gegeben hätte, die Herrn Verbieterles, die den geschlossenen Sprachstaat verlangen und nichts hineinlassen, was nicht schon drin ist.

Was sie heute betreiben, ist die Unterbindung dieses natürlichen Vorganges, der unserer Muttersprache so viele triebstarke Säfte zugeführt hat; eine Abschnürung der Triebe infolge mangelnder Überlegung und besonders infolge der Unfähigkeit, sich in die Sprachnotwendigkeiten anderer Menschen einzufühlen. Soll künftig nur die engere Empfindung entscheiden? ich verlange den Freipaß für die erweiterte, die ihr natürliches Recht schon zu Urväterzeit ausgeübt hat. Deine Eindeutschungsgrenze braucht nicht die meine zu sein. Wie wäre es dir, wenn ich dir das Wort »Orgel« untersagte, als ein verkapptes Fremdwort, das noch alle Fremdzeichen aus organon an sich trägt? du würdest wettern und toben, oder mich auslachen, und ganz mit Recht; denn die Orgel ist deutsch. Für mich ist aber »Organ«, als dem nämlichen organon entstammt, ebenfalls deutsch, und keiner braucht mir anzukommen, der es mir ausredet oder übersetzt.

Das Wort »Apotheke« hat in sieben Jahrhunderten genügend Zeit gehabt, sich einzudeutschen; seit dem sechzehnten Jahrhundert ist es vollständig deutsch geworden, und niemand rüttelt an seiner völkischen Geltung. Immerhin ist es der Übersetzung fähig, und gerade diese: »Ablage« steht an Sinnigkeit weit zurück gegen andere »– – theken«. Wenn also Apotheke als einwandfrei erscheint, warum soll ich in Glyptothek, Pinakothek, Bibliothek, Kartothek und Hypothek lästige Ausländer erkennen?

Dem Wort »Tinte« liegt das gleichbedeutende lateinische tincta, »Gefärbtes, Buntes« zugrunde. Aber Tinte ist deutsch, während Tinktur gezwungen wird, im Fremdwörterbuch Platz zu nehmen; weil der sprachliche Grenzstrich gerade so gezogen wird von Empfindern, denen die Endsilbe »–ur« eine Gänsehaut über den Leib jagt. Ich brauche nur den Grenzstrich anders zu legen, und siehe da, Tinktur wird ein brauchbares Deutschwort.

»Prediger« ist nichts anderes als praedicator. Auf dem einen Entwickelungsaste hat sich praedicare zu predigen umgeformt, auf dem andern zu Prädikat. Ich habe Lust, die beiden Äste für gleichwertig zu halten, also ist »Prädikat« für mich eingedeutscht. Der Bonze will mir befehlen, dafür »Titel« zu sagen. Das kann ich tun, wenn ich will, und wenn ich nicht will, so erkläre ich ihm zum Trotz »Titel« = titulus für ein lateinisches Fremdwort.

Der »Meister« gibt sich deutlich (siehe oben) als »magister« zu erkennen. Aber der Meister wird mir erlaubt, der »Magister« verboten, während ich wiederum beim »Minister« freie Hand behalte. Wie nun, wenn mir der Magister höher stünde als der Minister, da ich bei dem einen das »magis«, das Plus, beim andern aber das »minus« hindurch höre? Aber auf solche Spitzfindigkeiten brauche ich mich gar nicht einzulassen; wenn mir im Zusammenhang »Magister« als geboten erscheint, so wird es für mich genau so Bestandteil deutscher Rede, wie Meister, und magistral genau so erlaubt, so wenig fremdwörtlerisch, wie meisterhaft. Stelle ich mich, wie natürlich, auf diese Empfindung ein, so erklingt mir auch unser Magistrat durchaus germanisch, oder mit dem Ausdruck der Anderen: als völkisch.

Frux, fructus ist Frucht geworden in der substantivischen Linie, in der adjektivischen: frugal. Jenes wird mir erlaubt, dieses verboten; ein Rechtsgrund liegt nicht vor, nur ein willkürlicher Scheidestrich, den ich nicht anerkenne, und zwar umsoweniger, als mir in jeder Übersetzung von frugal der Anklang an die Frucht unterschlagen wird. Der Verbieter verzichtet auf diesen Anklang, ich halte ihn für notwendig, und wenn ich eine Kost, eine Mahlzeit als frugal bezeichne, so drücke ich mich genau so deutsch aus, wie der Übersetzer und noch dazu um einen Grad deutlicher.

Die Endsilbe »– – – ung« wird in der Regel zum Hauptausweis und Freischein; ordo = ganz lateinisch; Ordnung = ganz deutsch; rex und regere = ganz lateinisch; Regierung = ganz deutsch. Hier stockt er schon, wer hilft ihm weiter fort? Er macht einen leisen Vorbehalt, er beginnt schon wieder Grenzstriche zu ziehen. Nämlich so: Das Wort Regierung gibt er mir allenfalls frei, das Zeitwort »regieren« aber schachtelt er in die Fremdkiste. Und das muß ich mitmachen, aller Sprachlogik zuwider, bloß weil eine Gilde es also beschlossen hat? Hand aufs Herz, lieber Gildenmensch, dir gilt auch die »Regierung« nicht als ganz sprachreinlich, trotz der Endsilbe »ung«; und du läßt sie nur stehen, weil du nicht weißt, wie du dir aus der Schwierigkeit heraushelfen sollst. Ich helfe mir anders; ich sage: Von rex und regere, die bis in »Reich« und »Recht« hineinstrahlen (siehe oben), sind meinem Sprachgefühl auch die anderen Ableitungen zu deutschem Gruß willkommen, also Regierung, und regieren und – nehmen Sie's nur nicht übel, Herr Gildenmensch – sogar das Wort »Regiment« in der Staats- und Heeressprache.

Populus, verkürzt poplus, und publicus haben sich zu Pöbel, populär und Publikum fortgesetzt. Der Bestimmer starrt auf die Endsilben, erklärt »–är« und »–um« als Bannware, während er »–el« gnädig durchgehen läßt. Also »Pöbel« wird von seinem Prisengericht freigegeben, »populär« und »Publikum« beschlagnahmt. Da bleibt nichts übrig als die Berufung an das Gericht des Menschenverstandes, der ja in diesem Falle auch der Verstand Lessings und Goethes gewesen ist; denn beide brauchen zu unzähligen Malen »Publikum« ohne Schmuggelabsicht wie ein selbstverständliches Deutschwort. Aber populär kann man doch übersetzen in »volkstümlich«, »volksverständlich«; gewiß, so wie man jedes grunddeutsche Wort auch noch übersetzen, d. h. durch eines von ähnlicher Bedeutung ersetzen kann (z. B. Pferd durch Gaul, wobei man im Augenblick übersieht, daß Pferd von paraveredus und Gaul von caballus herkommt; wie man ferner auch übersieht, daß in »volksverständlich« möglicherweise schon wieder eine fremde Wurzel steckt, nämlich volk von volgus, vulgus). Aber vielleicht hat ein künftiger Heißsporn das Glück, die Form »populehr« für allgemeine Aufnahme durchzudrücken; wobei das lehrhafte zur Geltung käme und der verhaßte Welschklang aus populus in Vergessenheit geraten könnte.

Kartaune geht, wie wir oben sahen, als quartana auf quartus zurück; wie auch das Quartal, die Schulklasse Quarta, der Quartaner, das Quartett, das Quartier. Kartaune hat sich der Form nach stärker gewandelt, Quartal usw. haben den Sinn der Grundform treuer bewahrt. Das ist nämlich in vielen Fällen das Entscheidende: erst wenn sich der Sinn verdunkelt hat, erhält das Wort die große Absolution für seine Ursprungssünden und wird in den Staatsbürgerverband aufgenommen. Nichts hindert uns aber, entgegengesetzt zu urteilen und zu erklären: der Schüler der vierten Klasse soll auf einem deutschen Gymnasium auf gut deutsch Quartaner heißen.

Der Pilger ist nichts anderes als der alte peregrinus, und so hat auch der Pilgermantel die Erinnerung an den peregrinus bewahrt, nämlich als »Pelerine«. Nur der Prozentsatz des Fremdwörtlerischen ist verschieden, es besteht darin nur ein Unterschied des Grades, nicht des Wesens.

Der lateinische modus hat sich seiner mehrfältigen Bedeutung entsprechend sowohl zu Maß, als zu Modell, Mode, modern entwickelt. Das »Maß« soll gelten, die »Mode« wird von den ganz Gestrengen verpönt, obgleich sie schon im 15. Jahrhundert als Wort in Deutschland heimatsberechtigt war. Auch Schillers Fürsprache (in der Ode an die Freude) hat dem Wort Mode nicht viel geholfen; wir kommen aus dem Zwiespalt am leichtesten heraus, wenn wir das Verfahren der ganz Gestrengen als eine vorübergehende Mode erklären.

Das massige centum ist im Gewicht Zentner, in der Berechnung Prozent geworden. Bevor es Zentner wurde, war es centenus, centenarius; dieser Weg war ihm erlaubt, aber Prozent, prozentig; – das geht nicht, das müssen sie verdeutschen. Müssen sie wirklich? dann sollen sie auch für das Fremdwort Zentner Hundertpfünder sagen und es dem Hörer überlassen, ob er dabei an ein messendes Gewicht oder an eine Kanone denken will.

Der alte deus steckt noch in »Dienstag«, zugegeben in alleräußerster Verdünnung; er steckt weit sichtbarer in »ade!« und »adieu!«, aber wehe dem Zeitgenossen, der den lieben Gott auf dem Umwege über Frankreich in den deutschen Gruß hineinbemühen will! Lieber verzichten sie auf den ganzen deus und rufen Guten Morgen, Guten Abend, Empfehle mich Ihnen, damit bloß der verwelschte deus aus der Anrede verschwinde. Einige sagen allerdings (für den Norddeutschen beinahe mundartlich): »Grüß Gott«, und glauben damit auf unanfechtbarem Deutschgrund zu stehen. Aber auch das »Grüß« war einmal Fremdwort, als es in unmerklichen Umbiegungen aus der griechischen Formel χαι̃ρε, chaire, zu uns hinüberwanderte. Erscheint es nicht viel einfacher, das ade und adieu, adjö, nachdem es milliardenfach von deutschen Lippen erflossen, als Bestandteil deutscher Sprache anzuerkennen? und dabei festzustellen, daß der alte deus in dieser Gestalt bei uns nicht nur Volksrecht, sondern sogar Volksliedrecht gewonnen hat?

Es gibt auf diesem Wege kein Aufhören. Je mehr Beispiele man behandeln will, desto mehr bleiben als unerledigt zurück. Aber schon beim hundertsten müßte es völlig erwiesen sein, was das tausendste nur noch zu bestätigen, nicht mehr zu beweisen hätte: auf die Frage, was ist Fremdwort? gibt es keine Antwort. In unermeßlicher Anzahl waren sie Fremdworte, die nämlichen Lautgebilde, die längst deutsch geworden, oft genug ununterscheidbar von den teutschesten Urworten. Sie waren es in Zeiten, da sie die Möglichkeit fanden, sich einzudeutschen, da keine Verbieter auf allen Wegen umherlauerten, um das Eindringen fremden Sprachgutes zu verhindern, das Aufsprießen aus fremden Wurzeln zu verhüten. Und wie sähe die Sprache aus, wenn die Aufpasser schon vor Jahrhunderten ihr Werk geübt hätten, mit welcher Verödung, Verkümmerung, Verarmung hätte sie solches »Reinigungswerk« von anno olim bezahlt! Und wie sehr ist sie mit ihrer heutigen Pracht und Fülle den Vorfahren verpflichtet, die in aller Einfalt das Gute nahmen, wo sie es fanden, die es in aller Freiheit nehmen und verarbeiten durften!

Wäre die Sprachkunde nicht nur ein gelehrtes Wissen, sondern eine exakte Wissenschaft wie Physik und Astronomie, so würde sie den Prozentsatz des Fremdwortlichen im Einzelwort genau bestimmen können. Wir würden dann etwa feststellen: Meister enthält vom Stammwort magister nur noch 20%, Magistrat enthält 90%, der Trennungsstrich aber, der Deutsch von Nichtdeutsch scheidet, soll bei irgend einem Mittelwert, sagen wir bei 50% liegen. Willkür genug bliebe noch übrig, aber man hätte doch wenigstens eine erfaßbare Regel. Da eine solche fehlt und niemals gewonnen werden kann, so bleibt alles dem Empfinden anheimgestellt, das nur Gradunterschiede, aber keine Wesensunterschiede wahrnimmt. In der Dehnbarkeit dieses Empfindens liegt aber zugleich die Bürgschaft für eine gedeihliche Fortentwickelung des Sprachgutes. Tritt es eng und pedantisch auf, so werden zahllose Keime abgeschnürt, die in naher oder ferner Zukunft zur Vermehrung unseres Sprachschatzes erwachsen können. Tritt es frei auf und nicht durch Verfügungen beängstigt, so können tausende von Fremdlingen dereinst gutdeutsch werden, wie sie früher gutdeutsch waren, als die Empfindung sich noch nach dem Bedarf und nicht nach ausgeheckten Maßregeln richtete.

Sprachlich wie wirtschaftlich war und ist Deutschland darauf angewiesen, Rohstoffe einzuführen, die einem Umbildungs- und vielfach einem Veredelungsverfahren unterworfen werden. Daran wird auch die Zukunft nichts ändern. Je freier die Grenzen, desto größere Möglichkeiten für den Veredelungsbetrieb. Nun hätte es noch allenfalls einen Sinn, dafür zu sorgen, daß nichts hinausdringt, aber die Einfuhr zu unterbinden, ist in jedem Betracht unsinnig, namentlich auch in dem, daß die Worte des gegenwärtigen Bestandes alsdann zur Inzucht verurteilt würden. Und Inzucht führt in allem Organischen zur Entartung, stellt einen verschleierten, langsamen Selbstmord dar. Wo die Kreuzungen ausgeschaltet werden, verfällt die Zucht dem Ruin. Und auf dieses zwar nicht gewollte, aber unvermeidliche Ziel arbeiten diejenigen hin, die angeblich zum Schutz der Sprache die chinesische Mauer errichten. Ginge es nach ihnen und hielte ihre Sperrmauer so dicht, wie sie sich einreden, so hätte Deutschland in hunderten von Jahren nicht eine gereinigte, sondern eine durch Inzucht verschmutzte, verdorbene, hinsichtlich der Ausdrucksmöglichkeit verhungernde Sprache. Nur dann verhungert sie nicht, wenn sie einigermaßen Schritt zu halten vermag mit dem alle Umkreisungen durchbrechenden Denken, das die begriffliche Peripherie dauernd und unaufhaltsam ausweitet. Aber wie soll sie Schritt halten, wenn sie nach allen Richtungen hin gegen eine Mauer anrennt?

Zum Glück hält die Mauer eben keineswegs dicht, und es steht zu hoffen, daß sie unter dem Ansturm der Notwendigkeiten zusammenbrechen wird. Das ist die Hoffnung derer, die da wissen, daß das Fremdwort von gestern das eingedeutschte Wort von morgen und das Deutschwort von übermorgen werden kann; wozu sich ja aus unserer kleinen vorher gegebenen Liste ein ziemlich überzeugender Beweis ziehen läßt. Inzwischen mögen die schulmeisterlichen Veredler von heute fortfahren, ihr Tagewerk zu üben, mit Bestanderhebungen und Beschlagnahmungen von Ausdrücken, denn das ist ihres Amtes, »wie sie es verstehen«. Sie rationieren, sie beliefern uns, sie stellen Bezugsscheine auf Worte aus, nach einem Schema von unergründlicher Amtstiefe. Und manch einer, der sich in seinem Sprachhunger gegen die Bevormundung auflehnt und Auslandsware aufnimmt, mag in den Verdacht des Schleichhandels geraten. Das ist nur ein Übergang. Über kurz oder lang wird doch der freie Handel, auch mit Worten und Gedanken, wieder in Kraft treten, denn er ist die alleinige Form, die den Bedingungen des Menschendaseins und des Geisteslebens völlig gerecht wird.

Eine Unmenge von Zeit, Scharfsinn, Gerede und Geschreibe wurde von den Scholastikern auf die Frage verwendet: »Ist die Fledermaus ein Vogel?«, und keinem der weisen Streiter fiel es ein, erst einmal den Begriff »Vogel« fest zu umgrenzen. Ist ein Vogel durch die Federn eindeutig definiert? dann gehört der Kasuar mit seiner roßhaarartigen Bekleidung nicht zu den Vögeln; durch das Fliegenkönnen? dann darf sich die Fledermaus melden, und ebenso der Hammel, der zugleich mit Ente und Hahn den ersten denkwürdigen Flug in der Montgolfiere ausführte, nicht aber der Strauß. Und man definiere, wie man wolle, immer wäre in der Vorzeit oder auf einer unentdeckten Insel ein Geschöpf möglich, das Vogel wäre und doch nicht in die Definition paßte, oder das die Definition erfüllte, ohne Vogel zu sein. Die Enkel jener Scholastiker leben mitten unter uns, die Fledermaus-Debatte haben sie aufgegeben, aber sie fragen so ähnlich und mit derselben Ausdauer: ist dieser oder jener Ausdruck ein Fremdwort? Und wiederum gehen sie an der Hauptsache vorbei, an der Definition. Nämlich weil sie längst definiert wähnen, was ewig undefinierbar bleiben wird. Die Frage: »Was ist ein Fremdwort?« wird noch nicht einmal von der Frage des Pilatus »Was ist Wahrheit?« an Schwierigkeit übertroffen.

Unmöglich bleibt es, aus der Fülle fließender Erscheinungen Bildtafeln herauszuschneiden, sie in Rahmen zu spannen und diese mit gültigen Aufschriften zu versehen, wohl gar aus den Zügen alle Entlegenheiten des Stammes und der Rasse herauszulesen. Das Wort verhält sich in dieser Hinsicht wie der Mensch, da es ähnlichen Bildungsgesetzen unterliegt. Jeder Mensch hat einen Vater, zwei Großväter, vier Urgroßväter, und so steigt die Reihe hinan in scharfer Progression, bis sich die Spuren ins Unerkennbare verlieren. Die Lebensdauer des Einzelwortes mag länger sein als die des Einzelmenschen, seine Ahnentafel gestreckter, aber was aus ihr ermittelt werden kann, bleibt immer nur eine dürftige Linie in ungeheurem Geäste. Denken wir an die letzten Verzweigungen, die vom Dunkel der Jahrtausende überschattet werden, so verliert für uns der Begriff des »Fremden« jeden Sinn; und ebenso werden die Begriffe »schädlich«, »entbehrlich« nur vorläufige Merkzeichen, in engem Bereiche, gewissen höchst veränderlichen Bedürfnissen angepaßt. An sich betrachtet ist kein Wort schädlich, es stamme woher es wolle, und über seine Zweckdienlichkeit entscheidet nicht ein zum Sonderzweck eingesetzter Gerichtshof, sondern die Zeit. Sie allein läßt sprießen und verkümmern, sie stößt ab, was sein Dasein nicht mehr zu rechtfertigen vermag, sie begünstigt lebenskräftige Keime, die der Wind aus aller Welt uns zuträgt, und sie verschafft dem tüchtigen Wort die freie Bahn.

 


 


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