Alexander Moszkowski
Das Geheimnis der Sprache
Alexander Moszkowski

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Gespenster und Atome

Vor dreihundert Jahren entfaltete Bacon von Verulam in seinem Novum Organon die Lehre von den Sprachgespenstern; eine der merkwürdigsten Offenbarungen dieses tiefgründigen Denkers. Die Hohepriester der heutigen Sprachbewegung werden schwerlich Veranlassung nehmen, dieses Jubiläum besonders festlich zu begehen; Grund genug für mich, des Jahres und des Werkes zu gedenken und einige Zeilen aus Bacons Lehre herauszuholen:

»Die alleinige Ursache fast alles wissenschaftlichen Unheils liegt darin, daß man die Kräfte der menschlichen Vernunft oder Sprache fälschlich bewundert und erhebt . . . Die Logik dient mehr dazu, die in den sprachlichen Begriffen steckenden Irrtümer zu befestigen, als die Wahrheit zu entdecken . . . Die Gespenster der menschlichen Sprache halten die Vernunft so gefangen, daß die Wahrheit nur schwer Zutritt findet; würde aber dieser Zutritt dennoch ermöglicht, so würden bei der Erneuerung der Wissenschaften diese Gespenster immer wiederkehren und belästigen . . . Denn die Worte der Sprache vergewaltigen die Vernunft; die Kausalität und alle diese (Aristotelischen) Begriffe gehören zu den Gespenstern der Menschenhorde . . . Es glauben nämlich die Menschen, die Vernunft herrsche über die Sprache; aber die Worte haben wiederum Gewalt über die Vernunft, und davon ist die Philosophie sophistisch und unwirksam geworden . . . Wenn ein schärferer Verstand oder eine genauere Beobachtung die Definitionen der Begriffe mit der Natur mehr in Übereinstimmung bringen möchte, so schreien die Worte dagegen; darum endigen gelehrte Kämpfe so oft in Wortstreitigkeiten . . . Also muß den Gespenstern aller Art mit einem festen und feierlichen Entschlusse aufgesagt und aufgekündigt werden . . . Die Pietät für eitle Hirngespinste ist die Pest des Verstandes . . . Die Atomistiker sind immerhin tiefer in die Natur eingedrungen als die Begriffsphilosophen . . . Die wahre Einsicht in das Wesen der Natur kann nur von besonderen Fällen und geeigneten Versuchen kommen . . . Die lichtbringenden Experimente sind noch wertvoller als die fruchtbringenden.«

Schon aus dieser dürftigen Auslese erhellt Bacons Überzeugung davon, daß Worte und Wortbegriffe unvermögend sind, aus sich heraus Geisteswerte zu erzeugen. Aber ohne Worte keine Sprache, ohne Sprache keine Gedankenübermittelung, ja kein Denken, auch kein Baconsches Denken, und so ergäbe sich ein Fehlerzirkel, der sich nur dadurch löst, daß man das Sprachgespenst mit der hellen Laterne schärfster Definitionen beleuchtet. Alsdann verflüchtet sich das Gespenstische, und das Wort wird zum brauchbaren Diener der in Beobachtung verankerten, durch das Experiment erwiesenen Gedanken. Freilich läßt sich mit den Worten selbst nicht experimentieren, wie man Kräfte, Strahlungen und chemische Reagenzen der Beobachtung unterwirft. Nur ein einziger Apparat steht hier zur Verfügung, nämlich wiederum der Gedanke, das Gedankenexperiment. Dieses kann aber so aufgebaut werden, daß aus ihm zur Beurteilung des Wortes gewisse Erkenntnisse erfließen.

Zu den Experimenten, welche die drei Jahrhunderte nach Bacon verwirklichten, gehören uns zeitlich zunächst die auf Atomforschung gerichteten. Sie haben unter anderm zur Entdeckung der radioaktiven Familien geführt und elementare Umwandlungen erkennen lassen, die in Erscheinungen des Sprachlebens ihre Gegenbilder finden. Es soll kein physikalischer Satz sein, sondern eben nur gedankenexperimentell verstanden werden, wenn ich mich zu der Ansage versteige: Die Begriffe einschließlich der Empfindungen, mit denen wir arbeiten und die uns bearbeiten, bilden eine radioaktive Familie.

Ihr Kennzeichen ist die beständige Umwandlung, der Zerfall und die Abspaltung. Bei den in der Chemie betrachteten Elementen schwanken die Zerfallsperioden zwischen Milliarden von Jahren und Bruchteilen einer Sekunde. Das Eisen z. B. besitzt wirklich eine eiserne Natur und dementsprechend eine ungeheure Lebensdauer während das Niton in vier Tagen, eine bestimmte Radiumklasse in drei Minuten Zerfallserscheinungen aufzeigt. Diese Umwandlungen erfolgen nicht stetig, sondern in kleinsten Teilteilchen explosiv, wie denn überhaupt die Atome im Kleinen das wiederholen, was wir im Großen als Explosion und Bombardement bezeichnen.

Man ist (in der sogenannten Quantentheorie) dazu übergegangen, auch in dem Walten der unkörperlichen Kräfte eine atomistische Struktur anzunehmen, und eine neue auf Intuition gegründete Philosophie bezeichnet zudem das Wesen unserer sinnlichen und seelischen Wahrnehmung als ein unstetiges, atomistisch auflösbares. Die Brücke ist also eigentlich schon gegeben. Und da Intellekt, Seele, Wahrnehmung, Begriff, Empfindung nur verschieden dargestellte Formen derselben Sache sind, so gehört kein übertriebener Wagemut zu der Folgerung: unsere Begriffe zerfallen beständig, spalten ab und bilden Neu-Elemente, welche diese Tätigkeit in Explosionen bis ins Unabsehbare fortsetzen.

Kein Begriff, und sei er auch noch so alt und scheinbar gefestigt, widersteht dem Abspaltungsprozeß; er verändert sich nicht nur, sondern er schleudert unablässig Teilchen von sich, die sich zu neuen Gestaltungen zusammenfinden. Und kein Neubegriff ist jemals aufgetaucht, der nicht aus Altem sein Material gewonnen hätte. Ihre Anzahl überschreitet alles Vorstellbare, das Zählen hört bei ihnen auf wie im Bombardement der Atome. Jede geringste Verschiebung in einer Empfindung, jedes zum ersten Mal wahrgenommene Pulsieren in einem Nerv ist etwas begrifflich Neues, wünscht, – fast immer vergeblich, – in Sprache mitgeteilt zu werden. Mit den Radio-Elementen verglichen sind dies Empfindungen von kürzester Lebensdauer, räumlich oft nur auf einen einzelnen Menschen angewiesen, zeitlich auf Tage oder auf Sekunden beschränkt. Und zwischen ihnen und den Dauerbegriffen lebt eine Welt von Begriffsformen in stetem Kampf mit der Sprödigkeit des Ausdrucks.

Denn das Wort kann diese Explosionstätigkeit nicht mitmachen. Seine Abwandlungsfähigkeit ist gering, seine Beständigkeit vergleichsweis ungeheuer. Das Wort arbeitet mit den endlichen Permutationen weniger Zeichen, bleibt also mit all seinen Veränderungen im Endlichen, bis zu Null Geringfügigen gegenüber der Unendlichkeit der unvollendbaren Begriffe. Jeder Allgemeinwert – (wie Welt, Gottheit, Kraft, Stoff, Form, Erscheinung, Begriff, Idee, Wesen, Art, Gattung, Leben, Beziehung) – wird vom wogenden Begriffsinhalt immer stärker aufgetrieben und besagt immer weniger, je mehr auszudrücken er sich abmüht. Er gibt vor, etwas zu sein, zwingt uns, daran zu glauben, selbst wenn wir die Dünnheit des Worthäutchens durchschauen, verhält sich dem Verstande gegenüber gespenstisch. Wir empfinden das Mißverhältnis zwischen Worthülse und Inhalt, besitzen aber kein Mittel, uns aus der Unstimmigkeit zu befreien und verfallen immer wieder in den Aberglauben, dem Wort eine greifbare Bedeutung zuzuschreiben. Wir wirtschaften mit ihnen wie mit Banknoten von ungeheurem aufgedruckten Wert, kommen uns immens reich mit ihnen vor und erleben niemals den Augenblick der Umwechslung in erprobbares Bargeld.

Aber auch die Legionen der Worte von engerer Spannweite gebärden sich träge in der Fortzeugung gegen die wimmelnde Vermehrung der Begriffe und Empfindungen, denen sie beikommen wollen. Eine endlose Begriffsbrut schreit unartikuliert nach Worten, aber ehe auch nur das Dürftigste herbeigebracht ist, hat sich die Zahl der leeren Mäuler schon wieder vermehrt. Dem Mißverhältnis zwischen den Neuzeugungen hüben und drüben ist nicht beizukommen, auch die Aufschüttung der weltbürgerlichen Fremdworte nützt nicht viel, aber sie hilft doch manchmal in Minuten der äußersten Bedrängnis. Man kann der Bedrängnis wehren, indem man sie einfach leugnet; sowie der Vogel Strauß das Widrige leugnet, wenn er den Kopf in den Sand steckt. Man braucht nur den Blick gegen die Begriffsfülle zu verschließen, und das Wort leistet, was man nur verlangt. Der Chinese kommt mit seinen höchstens neunhundert lautlich verschiedenen Worten vollkommen aus. Ein und dasselbe Wort braucht nur verschieden betont zu werden und dient dann allen erdenklichen Zwecken der Verständigung. li bedeutet Pflaume, und Birne, und Kastanie, und Licht, und Vernunft, und noch sehr viel daneben, der andere weiß schon, was gemeint ist, besonders wenn der andere und der eine nach guter Chinesenart es verschmähen, sich auf feinere Begriffsschattierungen einzulassen. Vielleicht besitzt ihr höchstentwickelter Dialekt, der von Fu-tschou, sogar einen prägnanten und ironisch betonten Einsilber für die Entbehrlichkeit der Schattierung und für die Lächerlichkeit eines Sprechers, der ihr nachläuft. Auf Deutsch-Chinesisch nennt man das »Nüanksse«.

Der Purist wird den Hinweis auf das Chinesische ebenso ablehnen wie alle Bildschlüsse von Bacons Gespenstern bis zum atomistischen Abbau und Neubau. Er fühlt sich als ein Krösus im Besitz seiner ein- bis zweimalhunderttausend Worte, mit denen er alle Begriffsnot zudecken kann. Denn diese seine Worte, so behauptet er, sind klar, fest, scharf bestimmt, während die fremden schon deshalb nicht als Aushilfe in Betracht kommen, weil er sie allesamt als verschwommen, unklar, nebelhaft erkannt hat.

Nun denn! wenn der Purist ansagt: Alles deckt sich, ist bedeckbar mit den Wörtern der Heimat, so behaupte ich dagegen: Nichts deckt sich, selbst wenn wir die Hilfe aller erdenklichen Auslandswörter hinzurechnen. Wenn einer in Erstaunen oder Entrüstung ausruft: »Ich finde keinen Ausdruck . . .«, »Das ist einfach unbeschreiblich!« so befindet er sich nicht in der Ausnahme, sondern in der Regel; denn wo er sonst vermeint, den sicheren Ausdruck zu haben, beschreibt er ebenfalls ungenau, wenn auch ausreichend für das gewöhnliche Verständnis. Nur im Gebiet der Mathematik – und auch da nicht durchweg – umkleidet das Wort straff und prall den Begriff, während es sonst ihn mehr oder minder lose umhängt, oft schattenhaft nachschlottert; was sich auch anders gesehen so darstellen kann, als schlottre der Begriff um das vorgestellte Wort. So oder so, wenn wir nicht gerade von mathematischen Exaktheiten reden, deckt sich nichts, ein Nebelrand, ein Rest von Gespenstischem bleibt immer bestehen, damit haben wir uns abzufinden. Und da wir erkannt haben, daß das Wort immer hinter der erwarteten Leistung zurückbleibt, so wollen wir uns wenigstens die Möglichkeit nicht verschränken, die Leistungsgrenze ein wenig hinauszurücken.

Im großen und ganzen wird feststehen: der Schluderer kann deutschen oder welschen, er wird immer schludern. Die Unklarheiten liegen bei ihm zu allererst in seinem Mund und in seiner Feder. Er kann an den möglichen Grad der Klarheit gar nicht heran, weil seine Gedanken in ihrer atomistischen Abspaltung vorwiegend die Kennzeichen einer fauligen Gärung darbieten. Damit entfallen schon tausende von Beispielen, die uns aus Schriften untergeordneter Schreiber zur Abschreckung vorgehalten werden. Sie beweisen uns nur, daß des Schluderns kein Ende ist, und das begründet an sich noch gar keinen Notstand in der Literatur; denn wäre der Meister denkbar ohne das Gegenbild der Stümper?

Aber auch der anerkannte Meister muß sich den Rüffel gefallen lassen, wenn er nicht so tut, wie die Gestrengen von der klaren Observanz wollen. Goethe verteidigte (durch Aurelie in Wilhelm Meister) die Anwendung von »perfide«. »Zu Reservationen, Halbheiten und Lügen ist es (das Französische) eine treffliche Sprache; sie ist eine perfide Sprache. Ich finde, Gott sei Dank, kein deutsches Wort, um perfid in seinem ganzen Umfange auszudrücken; unser armseliges treulos ist ein unschuldiges Kind dagegen. Perfid ist treulos mit Genuß. O, die Ausbildung einer Nation ist zu beneiden, die so feine Schattierungen in einem Wort auszudrücken weiß.« Stelle dich ad audiendum verbum, Meister Goethe! vernimm die Belehrung, daß zwar nicht treulos, aber heimtückisch, arglistig, hinterlistig genau dasselbe leisten wie perfid und stecke dir die Rüge dafür ein, daß dir dies nicht einfiel.

Darf man die Vermutung aussprechen, daß Goethe bei aller hier so grausam aufgedeckter Spracharmut doch noch eine besondere Schattierung, eine ganz feine, nur dem Akzent erreichbare, treffen wollte? Es war vielleicht eine Forderung des inneren Ohres, das hier einen Jambus mit schneidendem, pfeifendem Auslaut wünschte; keinen Daktylus, keinen Trochäus noch Doppeltrochäus, sondern eben einen Ausdruck, »kurz lang«, der wie ein Peitschenknall durch die Luft fährt; der nicht nur ausdrückt, was gemeint ist, sondern als Durchzieher auf dem Objekt eine Striemenspur hinterläßt. Spürt ihr nicht die pfeifende Strähne in »Perfid«? Auch sie bewirkt eine »Nüanksse«, die sich den mitbewerbenden, im Ausdruck sonst ziemlich gleichwertigen Worten entzieht. Und man darf es als ausgemacht hinnehmen, daß die nachgoethesche Bezeichnung »Perfides Albion« (französische Prägung von 1840) niemals geflügelt worden wäre, wenn es nicht im schrillen Grundwort perfid den besonderen Luftschwung gefunden hätte.

Ich gehe noch weiter. Ich kann mir Fälle denken, und brauche sie durchaus nicht erst zu konstruieren, wo das Fremdwort stärker nebelt als das entsprechende Deutschwort und trotzdem mit einem Anspruch der Berechtigung auftritt; nämlich dort, wo der Begriffszerfall im einzelnen Menschen vor sich geht und ihm nur auf kurze Zeit ins Bewußtsein tritt. Er kann dann in die Lage eines Lyrikers geraten, der die huschende Stimmung festhalten möchte und den undeutlichen Ausdruck bevorzugt, weil der klarere ihm zu gegenständlich, also stimmungsfremd erscheint. Auch der Erzähler, der Denker, der Forscher kann im Augenblick einer Niederschrift von diesem Wunsch beherrscht werden, und der nichtpedantische Hörer oder Leser wird sich mit seinem eigenen leichtbeweglichen Empfindungsspiel im Augenblick dem Verlangen anpassen.

Der Ausdruck »Reservationen« in dem vorgenannten Satz ist vielleicht um einen Grad verschwommener als »Vorbehalt« und sicherlich minder scharf als »Gedankenvorbehalt«. Aber der Schreiber, Goethe, dachte wenn auch flüchtig an die besondere Bedeutung der reservatio mentalis, wie sie in den Moralschriften der Jesuiten seit Thomas Sanchez Geltung gewonnen hat. Ein Gedankenvorbehalt kann noch ehrlich gemeint sein, die lateinisch unübersetzte reservatio ist immer heimtückisch, soll es sein nach der ausdrücklichen Begründung jenes Jesuitenpaters. Folglich hat die Reservation, wenn der Schreiber schon auf »perfid« hinauswollte, eine Berechtigungsnote mehr, als jeder andere Ausdruck, da der andere zwar ausreichend scharf an sich ist, aber nicht scharf genug, um die Beziehung zu einer bestimmten Schwurmoral zu vermitteln.

Friedrich Vischer gibt in dem berühmten Tagebuch des Polizeivogtes Einhart die Rechtfertigung der Todesstrafe, in einer Zahlenbegründung, welche mit den Worten schließt »Dies ist eine schlichte und doch gewiß sehr expediente Rechnung.« Expedient in dieser Bedeutung gehört zu den allerseltensten Auslandsworten und wird in den meisten handlichen Nachschlagewerken nicht erwähnt. Gemeint ist: rasch fördernd, beschleunigend, schnell wirksam, und ich habe gar nichts dagegen, wenn einer diese Deutschausdrücke für klarer beschreibend erachtet, als das wenig gebräuchliche Auslandswort. Aber ich versetze mich mit dem Autor in die Seele seines sehr belesenen und gern zitierenden Vogtes, und fühle hindurch, daß er mit der Zusammenfassung der Rechtsgründe ganz unauffällig die Erinnerung an das richtende Fallbeil einfließen lassen will. Das kann er so nebenher, mit dem Fremdwort, da expédier in der Vulgärsprache bedeutet: einen rasch in die andere Welt befördern. Die Rechnung, die der Vogt aufmacht, beschleunigt zwar nur den logischen Schluß, also die Erkenntnis von der Notwendigkeit abschreckender Strafe, aber das Beiwort »expedient« wirft dabei noch ein Blitzlicht auf den Hof, in dem gerade der Verbrecher ins Jenseits expediert wird. Ich bemerke: das Beiwort »schlag-fertig« hätte ähnliches geleistet, aber nicht dasselbe; denn es gibt nur eine Bereitschaft, einen Zustand, nicht aber den Vollzug einer Handlung.

In Nietzsches vielgescholtener »Distanz« steckt auch so ein geheimes, auf Begriffsabspaltung zurückzuführendes Empfindungsspiel. Abstand und Entfernung decken sich tatsächlich mit Distanz in neunundneunzig von hundert Beziehungen, aber gerade auf das letzte Hundertstel kommt es hier an. Weil nämlich die Vorsilbe dis nicht nur das »auseinander«, sondern auch das duo, δύο, das Zweipersönliche enthält, und dazu den weiteren Nebenklang dis, womit der einen Person die hohe Würde zuerkannt wird; Dis patér steht sprachlich dem Diespiter nahe, dem Jupiter. Nietzsche empfand also schon in der Vorsilbe einen Wert, der zwar nicht schulphilologisch, aber klangphilologisch seiner Empfindung entgegenkam. Dieser Wert erhöhte sich ihm durch den Tonfall des ganzen Wortes, wiederum durch den Jambus, der hier die Kraft eines Befehls gewinnt; Distánz, ich híer, – du dórt! Man übersetze Páthos der Distánz, wie man wolle, der Rhythmus kehrt nicht wieder. Aber auch der Rhythmus ist ein Begriff, und wenn dem Wortbildner gerade daran gelegen ist, diesen herauszubringen, so opfert er eine andere Begriffsklarheit, um dieser einen näherzukommen.

Und wenn der Dichter-Philosoph ebensowenig eine »Deckung« von Wort und Begriff zu erreichen vermag, wie der simpelste Schulmeister, der seinen Schülern den Begriff Hauptwort oder Zeitwort klarmachen will, und wenn selbst neben den alten Sprachgespenstern neue auftauchen, so wollen wir doch den Wenigen dankbar sein, den prometheischen Naturen, die uns neue Illusionen verschaffen an Stelle der verblassenden. Wertvoller erscheint uns ihre Magie, als das hausbackne, vernunftlederne Handwerk der Schnellformer, die für jeden Begriff auf Bestellung das Wort prägen, ein Dutzend in der Woche, wenn's verlangt wird; und die niemals dahinterkommen werden, wo die wirkliche Sprachnot sitzt. Denn sie ahnen nichts von den molekularen Vorgängen in der Begriffswelt als von den eigentlichen Urhebern der Sprachnot. Diese hat immer bestanden und wird immer bestehen, im Kampf des schwachen Wortes mit dem unzählbaren Heer der Begriffe und Empfindungen; und sie macht dem Dichter und Denker, dem Sprachmeister, ganz andere Sorgen als dem mit zurechtgeschnittenen Wortlappen fleißig arbeitenden Flickschuster.

 


 


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