Alexander Moszkowski
Das Geheimnis der Sprache
Alexander Moszkowski

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Sprachkrank

Wer ist es? Wir oder die andern? Wir, groß geschrieben, die Sprecher und Schriftsteller, die sich einer Sprachklasse fühlen mit den Bedeutenden, die das deutsche Schrifttum geschaffen haben, oder die Doktoren, die uns heute beklopfen, behorchen und mit bekümmerter Miene feststellen, daß wir von einem schweren Leiden befallen, ja eigentlich unheilbar seien? Eine verzweifelte Gilde! Sie beschränkt sich nicht darauf, den Schreibern von Fach das schlimme Zeugnis auszustellen, sie faßt vielmehr ihr Urteil ganz allgemein und erklärt das ganze deutsche Volk für »sprachkrank«, für sprachverseucht, und in die Donner ihrer Entrüstung mischen sich elegische Mitleidstöne über die ungeheure Klinik von Memel bis Basel.

Und nicht einem dieser Doktoren fällt es ein, zu fragen, ob denn der Begriff der Krankheit überhaupt statthaft sei angesichts eines Allgemeinzustands. Ein Mindestmaß des Nachdenkens müßte zu der Erkenntnis hinreichen, daß der Normalzustand, mag er erscheinen wie er wolle, sich als die Gesundheit darstellt, jedes Abweichen davon als die Krankheit. Wenn alle Menschen husten würden, so gehörte der Hustenreiz zu den notwendigen Lebensfunktionen, krank wäre nur derjenige, dem dieser Reiz und seine Befriedigung versagt bliebe; ihn müßte man kurieren, um ihn der Reihe der gesund Hustenden zuzuführen. Das Gesetz der großen Zahl liefert hier wie in so vielen Betrachtungen die allein gültige Entscheidung. Es geht nicht an, auszurufen: Du ganzes Volk bist falsch gefärbt, besitzest ein krankhaft entwickeltes Hautpigment, weil ich, der Beurteilende, eine andere Hautfarbe trage; ja nehmen wir, um auf den Sprachfall zurückzukommen, einen äußersten, unmöglichen Zustand: stellen wir uns vor, ein ganzes Volk stotterte; so wäre es ebenso töricht, ihm das Stottern austreiben zu wollen, als den Franzosen die Nasallaute oder den Holländern die rauhen Kehltöne. Im Stottervolk wäre der Nichstotterer der Ausdruckskranke, wie im Bereiche der Hunde der Einzelhund, der anstatt zu bellen, in Nachtigallentönen flötete oder wie ein Löwe brüllte oder wieherte oder quakte.

Aber so ungefähr stellen sich die Doktoren ihre Stellung innerhalb der sprechenden und schreibenden Masse vor. Sie begrenzen die Krankheit freilich enger, verlegen ihren Herd in ein anderes Gehirnzentrum, aber sie kommen von der Täuschung nicht los, daß sie, die wenigen, den reinen Typus darstellen, die Norm, das Gesunde, die andern aber, die Millionen, den Lazarettfall. Grund genug für sie, um in ihrer Quacksalberei fortzufahren, die schon deshalb zu keinem Ergebnis führen kann, weil sie auf einen Widersinn hinauswill, nämlich auf die Leugnung des durchgreifenden Gesetzes von der großen Anzahl.

In Wahrheit sind sie die Sprachkranken, mit deutlicher Verkümmerung gewisser Organe, die sich im großen Werdegang der Sprache als Empfänger und Fortbildner entwickelt und als unerläßlich erwiesen haben. Zu diesen Organen gehört der Sinn für die feinen Unterscheidungen in der unermeßlichen Vielfältigkeit der Begriffe; die hinausstrebt über die groben Einteilungen bis zum ahnungsvollen Erfassen verschwimmender Unterschiede in den begrifflichen Grenzgebieten.

Wer in der Seelenlehre über die Anfangsgründe hinausgelangt ist, der kennt jenen dämmernden »Hof«, den Rand, den Saum, der sich kreisförmig über Worte und Begriffe lagert. Der bedeutende Philosoph William James hat ihn unter dem englischen Namen »fringe« in die Philosophie eingeführt und ausführlich behandelt. Fringe, zu deutsch Franse oder Franje, besagt, daß die bestimmten Bilder der landläufigen Psychologie nur den allerkleinsten Teil unseres tatsächlichen Seelenlebens ausmachen, daß fast jede unserer Vorstellungen im Strom des Bewußtseins von Begleiterscheinungen umgeben und gefärbt wird. Wie der Hof um den Mond, so lagern sich um Worte und Gedanken jene Säume mit all ihren wechselnden Unbestimmtheiten, welche die scheinbare Endlichkeit der Wortvorstellungen zur Unendlichkeit steigern. Die Ansicht der überlieferten Psychologie – sie wird sprachlich durch die Gilde der dokternden Pedanten vertreten – gleicht derjenigen, wonach ein Fluß lediglich aus so und sovielen Tonnen, Eimern, Krügen, Löffeln voll Wasser bestünde. Auch wenn diese Gefäße alle tatsächlich in dem Strom ständen, würde das freie Wasser doch fortfahren, zwischen ihnen hindurchzuströmen. Gerade dasjenige, was diesem freien Wasser im Bewußtsein entspricht, ist es, was jene Psychologen so standhaft übersehen. Jedes bestimmte Bild in unserem Geist wird von dem freien Wasser, das es umspült, benetzt und gefärbt.

Das Bewußtsein wird in jedem Augenblick von etwas gefärbt und betont, was der greifbaren Gegenwart gar nicht angehört. In allen Vorstellungen waltet ein Hinüberklingen aus der Vergangenheit, ein Vorausklingen der Zukunft; das Symbol, unter dem jene Unter- und Obertöne sich ankündigen, ist jener Saum mit seinen verschwimmenden, niemals in Sprachgrenzen einzuzeichnenden Unendlichkeiten.

Das im Kern sprachgesunde Volk besitzt zwar nicht diese Lehre, aber eine ahnungsvolle Erkenntnis von dem Vorhandensein der unermeßlichen Vielfältigkeit im Bereich der Vorstellungen, die nach Sprachausdruck streben. Es spürt, daß wir niemals zu viel, immer viel zu wenig Worte haben. Begierig greift es nach allen erdenklichen Ausdrücken, gleichviel aus welcher Sprache, wenn es nur irgendwie taugt, um einer der zahllosen Färbungen zu entsprechen. Überläßt man das Volk seinen sprachgesunden Trieben, so mehrt es von selbst seinen Wortschatz, eben weil es eine Ahnung von den Lichtern und Schatten besitzt, die in jedem Ausdruck hinein- und um jedes Wort herumspielen.

Der dokternde Schulmeister bemerkt diese Färbungen, diese Höfe, Säume, Ränder nicht, ist gar nicht imstande, sie wahrzunehmen, denn seine Organe sind verkümmert, und diese Verkümmerung bedeutet seine Krankheit. Er ist von einer Art Taubheit befallen, von der Unempfindlichkeit gegen die tönende Schattierung. Wagt es einer aus dem Volke, von dieser zu reden, so hat der taube Sprachdoktor sofort eine geschriebene Zurechtweisung zur Hand, eine papierne Formel, des Inhalts: Schattierung – »Nüance« – ist Unsinn. Er hat eine wahre Wut darauf – die Wut des Eunuchen gegen das, was seinen mangelhaften Organen versagt ist – und geht zunächst darauf aus, dem Gesunden die Sache zu verekeln: er schreibt »Nüankße«, schreibt es so hundertmal, tausendmal, macht ein Plakat daraus, speichelt es an allen Ecken an und glaubt damit den Begriff der Schattierung totzumachen. Denn er weiß genau: bleibt die »Nüance« bestehen, läßt sich die Färbung nicht überpinseln, dann ist er verloren.

Das ist er nun wirklich, denn jenes unendliche Farbenspiel in den Möglichkeiten und Erfordernissen des Ausdrucks läßt sich nicht hinwegdisputieren durch die holzpapiernen Gründe, die dem Sprachdoktor zur Verfügung stehen. Und aus welcher Truhe seiner Wissenschaft sollte er auch andere hernehmen, er, der in der Tendenz erstarrte, der nur die eine Truhe besitzt, vollgepfropft mit Rezepten zur Künstelei? Befragt sie nur einzeln, die Herren, prüft, wie oft bei ihnen die Beschaffenheit der Empfindung dem Maß ihres Wissens entspricht, und ihr werdet euer Wunder erleben.

Gewiß, ihr werdet auch hier löbliche Ausnahmen entdecken, Kenntnisreiche, die nur durch die vorgefaßte Tendenz auf den falschen Strang gerieten. Vielleicht sind sie nur vorübergehend sprach-unpäßlich, nicht eigentlich sprachkrank, wie diejenigen der Gilde, deren Leiden im letzten Grunde auf ihrer »enzyklopädischen Unwissenheit« beruht.

Fex wird sich zur Wehr setzen, weil er sich sehr gebildet vorkommt und sogar das Wort »Enzyklopädie« nach seiner zusammengesetzten Herkunft als einen überaus lästigen Ausländer nachzuweisen vermag. Er ruft mich also zur Ordnung und entzieht mir das Wort, das Fremdwort, denn man kann ja bekanntlich »alles übersetzen«! So übersetze er's mir, mit »Sachwörterbuch« oder wie immer, und ich werde geradewegs behaupten, daß der gute Sinn verschwindet und an seiner Stelle der blanke Blödsinn herauskommt. Es macht nämlich einen gewaltigen Unterschied aus, ob ich eine fertige eingebundene Enzyklopädie, z. B. ein Konversationslexikon, im Auge habe, oder ob ich auf den geschichtlich begründeten Allgemeinbegriff hinweisen will. Aber gerade darauf kommt es mir an, denn ich rede zu Leuten, denen das Wesen der enzyklopädischen Entwicklung aus platonischer Zeit über Diderot und d'Alembert hinweg bis zur Neuzeit bekannt ist, und bei denen ich das Wort nur anzuschlagen brauche, um das Mitklingen zahlreicher zugehöriger Vorstellungen zu veranlassen. Eine Seite Drucktext wäre nötig, um den Begriff »enzyklopädisches Wissen« zu umschreiben, und in fünf Seiten Drucktext könnte man den Sarkasmus »enzyklopädische Unwissenheit« noch nicht verdeutlichen; der trotzdem ganz klar und verständlich ist für einen, der ungefähr eine Ahnung vom Wesen der Sache besitzt. Besitzt er sie aber, so wird er von vornherein für ausgeschlossen erachten, einen derartigen höchst zusammengesetzten Begriff den Übersetzungs-Sportlern zur Verunstaltung auszuliefern.

Da steht schon wieder so ein verbotener Ausdruck; verboten durch Verfügung der Unentwegten, die »Sport« noch nicht für genügend eingedeutscht erachten und dafür verlangen: Kraft-Leibesübung, Spiel, Freispiel, Liebhaberei, Zeitvertreib. Und wiederum werden die Anklänge und Mitklänge, die im Schattensaum des Wortes eingelagerten Färbungen und Töne von stumpfen Organen übersehen und überhört. Nämlich auf irgend einen Einzelsport (Rudern, Jagen, Rennen, Golf, Schach, Sammeln) wird zur Not irgend ein Aushilfswort passen, nur auf den Sport als Ganzes, als Allgemeines paßt kein einziges; weil eben das begriffliche Hinüberklingen verhindert wird. Wenn ich etwa das Briefmarken-, das Münzensammeln als einen Sport bezeichne, so will ich dadurch nicht einfach die Liebhaberei oder den Zeitvertreib ausdrücken, sondern ich will den Sammler und die Zielstrebigkeit seines Gebarens in Vergleich setzen mit dem Rennsportler, Rudersportler; er soll durch den Ausdruck etwas von der Ausdauer, von der Leidenschaft, Verbissenheit und sogar von der Muskelanstrengung des Mannes erhalten, der einer Leibesübung sportsmäßig huldigt. Sage ich also: »Übersetzungs-Sport«, so treffe ich damit eine Eigenheit und Tönung des Übersetzungsbetriebes, das ich sonst durch kein Ausdrucksmittel erreichen könnte, weil einzig der Gesamtbegriff in seinen Ausstrahlungen die Lichter entsendet, die meiner Absicht entsprechen.

Es wäre ganz lohnend, mit einem Unentwegten auf die Reise zu gehn, möglichst weit in die Welt hinein; mancherlei würde sich da draußen freier darstellen als in der engen Umfriedigung des Hauses und der Heimat. Der zuvor gebrauchte Vergleich mit dem Sportsmann diene als Reisevorbereitung; wie ein Jäger schußbereit vor dem Wilde liegt, so knalle er hier nach Lust und Sport auf Fremdworte und bringe sie zur Strecke. Ich will ihm Prachtexemplare zutreiben, jenseits der Grenzen, jenseits Europas, – in den Tropen zum Beispiel.

Erster Schuß: auf die »Tropen« selbst. Da liegen sie entseelt am Boden, werden ausgeweidet, und ihr Fell gelangt ins Museum der Sprachkunde, wo sie fortan nicht mehr Tropen heißen, sondern Wendekreise. Ganz einverstanden, obschon ein Unterschied zurückbleibt: die Wendekreise sind zwei Linien, die Tropen eine Gebietsfläche, zwischen ihnen also ein mehrdimensionales Gebilde. Der Unterschied dem Wortsinne nach ist zu gering, um sich dabei aufzuhalten.

Aber die Tropen entsenden als Begriff wieder ein Strahlenbüschel mit Färbungen, die wir uns nicht fortwischen lassen wollen. Wir sagen: tropische Tierwelt, tropischer Pflanzenwuchs und spüren, daß von der Fülle des Ausdrucks etwas verloren geht, wenn wir – umständlich genug, denn Wendekreis hat kein Adjektiv – sagen sollen: »Zu den Wendekreisen gehörige Tierwelt, Wendekreis-Pflanzenwuchs.« Ist hier etwas Psychologisches eingetreten? Zweifellos. Denn der Wendekreis gibt uns wesentlich eine Erstreckung, einen geographischen Hinweis, etwas auf die Erdgeometrie bezügliches; während in »tropisch« bereits die Natur Stimme gewinnt und mitschwingt. Das Geometrische tritt etwas in den Hintergrund, die Üppigkeit und Glut werden fühlbar. Das Wort »tropisch« hat eine höhere Temperatur als jede auf »Wendekreis« zurückgreifende Übersetzung.

Wir sprechen auch von »subtropischem« Gebiet, »subtropischer Vegetation« und meinen mit dieser nicht schlechthin die Pflanzengestaltung in einem bestimmten geometrisch abgeteilten Erdgürtel, sondern eine gewisse Glut und Pflanzenpracht, die an die tropische erinnert, ohne sie völlig zu erreichen. Nicht der Standort ist dabei die Hauptsache (etwa die Lage am Mittelländischen Meer), sondern die Unterstimme des Wortes, der Gefühlston; leise aber unverkennbar liegt in ihm die Andeutung vom südlichen Klima.

Zugegeben oder nicht, – es hat sich ein neues Beutestück zum Abschuß gestellt, das Welschwort »Klima«, – der Unentwegte kann seinem Sport wieder obliegen.

Wie? er zögert? Mann Gottes, zeige deine Künste, aber nicht deine Verlegenheit! Wahrhaftig, er scheint Lust zu haben, das Wort für »eingedeutscht« zu erklären. Damit soll er uns aber nicht durchkommen; denn warum dieses Wort und nicht auch tausend andere vom selben Sprachrang? Klima ist und bleibt unverändert griechisch, heißt wörtlich soviel als Neigung, Abflachung, hat seinen Bedeutungswandel durchgemacht und will sich heut zur Ruhe setzen. Also her mit der Weisheit aus den Tiefen der Ersatzbücherei!

Sie lautet beim Stichwort Klima: »Himmelsstrich, Erdstrich, Himmelslage; Gegend; Witterungs- oder Luftverhältnisse oder -beschaffenheit, Himmel, Luft.« Soll man's erst diskutieren, daß hier aus der reichen Umsäumung des Begriffes immer nur einzelne Flecken herausgeholt werden, ohne daß deren Gesamtheit irgendwie erfaßt wird? Tatsächlich bedeutet Klima die Summe aller Eigenheiten eines Gebietes in Luft, Himmel, Wärme, Feuchtigkeit, die Vereinigung alles Meteorologischen einschließlich aller Einflüsse auf Tier- und Pflanzenleben. Zwei Erdpunkte können zur selben Zeit gleiches Klima haben und verschiedene Witterung, gleiche Witterung und verschiedenes Klima; über dem Kilimandscharo wölbt sich der afrikanische »Himmel«, sein Klima ist sibirisch. Einzig und allein das Wort »Klima«, gebildet aus der Abdachung der Erde vom Äquator nach den Polen, aus der »inclinatio coeli«, hat seit Polybios genügend Zeit gehabt, um die Fülle der meteorologischen Beziehungen in sich aufzunehmen, die uns heut vorschweben, wenn wir von klimatischen Dingen reden. Die Ersatzbrocken liefern Hinweise auf Begleiterscheinungen, niemals die Sache selbst.

Soeben sprach ich von den Erd-Polen; wie denkt der Unentwegte über eine Reise dahin? Wahrscheinlich wird er zunächst den Abbruch der sprachlichen Beziehung zu dem Griechenwort beantragen. Pol, Polos, von pelomai herkommend, läßt sich verdeutschen: »Drehpunkt«, »Angelpunkt«, und vom Standpunkt dessen, der die Erdbewegung ins Auge faßt, ist er ja auch nichts anderes. Unsere Pol-Expedition wird also eine Drehpunktsfahrt, wir geraten dabei ins Drehpunkts-Eis, und wenn wir in der Polregion einem Polarfuchs begegnen, so haben wir die Wahl, ihn Drehpunktsfuchs oder Angelpunktsfuchs zu nennen. Die langen Drehpunktsnächte vertreiben wir uns mit gelehrten Gesprächen, und mein Reisegenosse wird mir bei dieser Gelegenheit mitteilen, wie er die magnetischen, elektrischen »Pole«, oder gar wie er die Erscheinungen der optischen »Polarisation« in seine Drehpunktsmundart überträgt.

Ob's ihm gelingen wird, steht dahin; ich wage zu zweifeln. Dagegen wird er schnell fertig mit dem Wort, sobald er daran geht, die umgebenden Erscheinungen im Gegensatz zu seinen Erlebnissen am Äquator zu bezeichnen. Denn der heißt unabänderlich der »Gleicher«, allenfalls die Gleicherlinie, oder auch kurz die »Linie«, wenn durch den Zusammenhang bereits feststeht, daß vom Äquator die Rede ist. Soweit ganz gut; aber der Äquator liefert auch ein schönes Adjektiv »äquatorial«, und das macht ihm das Hilfswort nicht nach; denn »gleicherhaft« oder »gleicherig« klänge doch übel. Nun wollen wir z. B. von den »Äquatorialströmen« sprechen und setzen für sie »Gleicherströme«. Sofort ist der Unsinn fertig. Denn in den Äquatorialströmen der Atmosphäre (die in der Meteorologie und besonders im Doveschen Gesetz eine Hauptrolle spielen) wird gerade die Ungleichheit hervorgehoben, mit stärkster Betonung des Wechsels, des Richtungsunterschiedes, also mit Verleugnung des Begriffes »gleich«. Das Äquatoriale bleibt nichtsdestoweniger in diesen Strömen bestehen; warum wohl? weil der »Äquator« ein Eigenname der Zone geworden ist, unabhängig von der gleichteilenden Eigenschaft der Linie, ein Eigenname, wie »Äquatoria«, die Provinz, wie »Ecuador«, der südamerikanische Staat, der volle fünf Breitengrade einschließt. Will unser Reisegenosse auch Ecuador verdeutschen? als Linie? das hätte genau soviel Sinn, als wollte er die Hauptstadt von Argentinien (»Silberstaat«) nicht mehr Buenos-Aires, sondern »Gute Lüfte«; als wollte er Veracruz »Wahrkreuz« oder die Insel Reunion »Wiedervereinigung« nennen.

In jener hochnördlichen Zone erleben wir einen Orkan, oder wie der andere sagt: einen »heftigen Sturm«, eine »Windsbraut«. Er legt Wert auf das »heftig«, um damit anzudeuten, daß es »unheftige, sanfte« Stürme gebe. Die Entbehrlichkeit des Fremdwortes liegt auf der Hand, da es doch nur eine Steigerung im Grade ausspricht, und da ein Orkan tatsächlich nichts anderes ist als ein Sturm über die Windstärke 10 hinaus. Das leuchtet ohne weiteres ein; aber dann ist auch das Wort »Sturm« entbehrlich und sollte als überflüssiger Sprachballast abgeschafft werden;

Hört ihr's wimmern hoch vom Turm?
Das ist »heftiger Wind«! –

und der Deutschmeister braucht nur die Stärke in Ziffern, allenfalls die Richtung anzugeben, um das ganze Register der Luftbewegungen auf das Einheitswort »Wind« zurückzuführen. Also fort mit dem »Orkan«, der gar kein Recht auf Eindeutschung besitzt, sintemalen er aus sehr übelbeleumundeter Gegend stammt; nämlich von den Karaiben, von denen er im siebzehnten Jahrhundert als ouragan, hurricane, orcaan nach Europa gedrungen ist. Haben wir es nötig, uns mit Worten zu beschweren, die uns die karaibischen Kannibalen vorgekaut haben? Wir sagen also »Wind«, stufen ihn nach Graden ab und übersehen leichtherzig, daß auch der »Wind« (lateinisch ventus) einmal ein Fremdwort gewesen ist, denn das ist ja schon so furchtbar lange her!

Bald darauf fesselt uns ein neues Phänomen, eine Erscheinung, die nicht nur erscheinungsmäßig, sondern geradezu »phänomenal« auf uns wirkt: wir entdecken einen Bergkegel, der sich so benimmt, daß uns gar nichts übrig bleibt, als ihm den Titel eines »Vulkans« zu verleihen. Aber mein Fahrtgenosse wehrt sich dagegen, die alte Mythologie in Anspruch zu nehmen, wo ihm doch das gute deutsche Wort zu Gebote steht: »feuerspeiender Berg«. Wiederum nichts einzuwenden, denn daß sein Wort, nach Silben gemessen, genau dreimal so lang ist, fällt nicht ins Gewicht. Nur tritt hier – wie in tausend andern Fällen – der Übelstand auf, daß das »Fremdwort« ein wunderschönes, stets gebrauchsfertiges Adjektiv hergibt, das Deutschwort aber keines; weil es nämlich in dem »feuerspeiend« bereits adjektivisch belastet ist. Wie hilft sich also der Herr? er schlägt nach, und er findet in seinem Sprach-Baedeker: Vulkanisch gleich glutflüssig, feuerflüssig, geschmolzen, gesintert, verglast. Gewiß, das sind Eigenschaftswörter, die eine Sinnbeziehung zum Vulkanischen aufweisen, aber ebenso zu einem Hochofen, zur Sonnensubstanz, zu einem Laboratorium. Wenn ich eine Persönlichkeit als »vulkanisch« bezeichnen will (z. B. Mirabeau, Cromwell oder einen Künstler wie Rubinstein), so liegt mir vor allem an der Bildhaftigkeit des Vergleiches, an der sinnfälligen Parallele mit einem wirklichen Vulkan. An die Naturerscheinung will ich anknüpfen mit ihren donnernden Eruptionen, mit ihrer überwältigenden Wirkung, mit ihrem Zusammenprall von hochlodernder Glut und wüster Schlacke, – ich sage »vulkanisch«, und das volle Bild steht vor dem Hörer und Leser, wie es vor dem Sprecher und Schreiber gestanden hat. Wieviel bliebe davon noch übrig, wenn ich von einem glutflüssigen Mirabeau, einem geschmolzenen Cromwell, einem versinterten oder verglasten Rubinstein reden wollte? Nichts als eine Unzulänglichkeit oder Torheit und dazu eine Verstärkung der Erkenntnis, daß es in der »Umsäumung« der Worte irdische und himmliche Dinge gibt, von denen sich die Schulweisheit der Schulfüchse nichts träumen läßt.

Der Vulkan gibt uns Anlaß zur Erörterung gewisser geologischer und kosmologischer (die Erd- und Weltkunde betreffender) Fragen, und im Rückblick auf die Urzeiten geraten wir an das Chaos. Der Gefährte will Urgemisch sagen, und ich muß ihm darin Recht geben: das Wort ist gut und deckt sich ziemlich vollkommen mit dem, was die Menschheit seit Hesiod unter Chaos versteht, als der formlosen Masse, aus der die geordnete Welt, der Kosmos, hervorgegangen gedacht wird. Das »Chaos« hätte sonach seine Wortrolle ausgespielt.

Oder doch nicht? Wie gestaltet sich denn die Sache, wenn ich von einem »politischen Chaos« reden will, etwa von dem Zustande, wie er in Rußland nach Beginn der Revolution herrschte? War das ein »staatliches Urgemisch«? aber nein, erklärt der andere, hier übersetze ich eben Chaos mit Wirrwarr, Wirrnis, Durcheinander, Wust, Unordnung. Wiederum sehr gut, sobald es sich nur darum handelt, ein bestimmtes Merkzeichen der Revolution zu treffen, das Regellose, Unübersichtliche, Verworrene der Staatsverhältnisse.

Nun berühren sich aber die beiden Begriffsgebiete, und ihre Grenzen fließen ineinander. Ich suche ein Wort, das in einem Atem sowohl den staatlichen Wirrwarr bezeichnet, als auch den Urzustand der Welt, die Gärung der unendlichen Masse, aus der sich eine Zukunftswelt entwickeln, herauskristallisieren soll. Ich versuche die Kleinlichkeit des Begriffs »Wirrwarr« zu überwinden, indem ich an den größtmöglichen Vorgang, an Schöpfung und Weltgestaltung, anknüpfe. Kurzum, ich wünsche einen Ausdruck, der mir gleichzeitig, kurz und erschöpfend jenes Urgemisch, den brodelnden Anfangszustand in allen Himmelsräumen bezeichnet, und dazu den durcheinanderwirbelnden Wust in einem modernen Staatsgebilde. Und mit hohem Sprachpreise wäre derjenige zu krönen, der diesen Ausdruck findet oder erfindet.

Aber die Sprachbäcker und -schlächter (so nannte Paul Schlenther diese Zunftmeister) brauchen sich keine Mühe zu geben; denn der gesuchte Ausdruck liegt fertig gebacken vor; und alle Akademien der Erde werden zum bewußten Zweck keinen besseren, kürzeren, umspannenderen finden als das Wort, von dem wir ausgingen: das Chaos! und nur derjenige wird es leugnen, in dessen Kopf es »chaotisch« – urgemischlichverworren aussieht.

Auf dem Wege vom Chaos zur Ordnung können sich »Katastrophen« ereignet haben; und an Katastrophen wird man denken müssen, wenn man eben wie wir auf unserer Weltfahrt den Ausbruch eines Vulkans erlebt hat. Es kann aber auch alles im Wege langsamer Entwicklung – Evolution – vor sich gegangen sein. Zwei große Lehren stehen einander gegenüber, die der Revolution und die der Evolution, wie sie von ihren Urhebern (Cuvier–Lyell) verkündet worden sind. Da bietet sich den Übersetzungskünstlern ein lohnendes Feld; für die allmählichen Übergänge haben wir selbst bereits den Ausdruck »Entwicklung« vorweggenommen; die »Katastrophe« verdeutscht sich in: Wendepunkt, Entscheidung, Verhängnis, Unglücksfall, Unfall, Massenunglück, Verderben, Untergang, Vernichtung, Einsturz usw.

Und nun stehen wir vor derselben Schwierigkeit wie beim »Chaos«. Mir liegt daran, ein Gleichnis festzuhalten, ein Bild. Ich will etwa von einem Umsturz in Staat und Gesellschaft reden, aber nicht wie von einem Verhängnis anderer Art, wie von einem Eisenbahnunglück oder einer Fabrik-Explosion, sondern mit dem beabsichtigten Hinweis auf die große Theorie von den Erdkatastrophen, von den Revolutionen, die (nach Cuvier) das Gesicht des Planeten geformt haben. Und im Zusammenhang damit will ich die umbildende Entwicklung nennen, die sich in den Bahnen des stetig wirkenden Verfassungslebens ergibt, wiederum mit dem bewußten Hinweis auf die entsprechende Theorie von Lyell, Darwin und Spencer. Will ich das, so beabsichtige ich die Vorgänge aus der Tagesenge herauszuheben und sie in das Licht weltumspannender Lehren zu setzen. Und das erreiche ich so einfach wie sicher durch Anwendung der Worte: »Katastrophe«, »Revolution – Evolution«, die an sich gut übersetzbar sind und nur das, worauf es mir ankommt, in keine Übersetzung hinübernehmen können; nämlich den Anklang an die Forschung und an den Widerstreit unter den Erforschern des Weltgeschehens. Diese Betonungen gehen verloren.

Es war angenommen worden, daß wir unsere Wanderung in den Tropen begannen, um sie weiterhin bis in die subarktische, arktische Zone auszudehnen; der Andere sagt bis ins vornördliche und hochnördliche Gebiet; was aber durchaus nicht dasselbe ist. Denn für einen in Sizilien Beheimateten liegt z. B. Pommern schon im Hochnördlichen, während ein Stockholmer von Algerien als von einer tiefsüdlichen Gegend sprechen wird, ohne dabei an Antarktis, Arktis oder Polarland zu denken. Ohne den »Pol« oder die Arktos (vom Sternbild des großen Bären) ist eben nicht auszukommen, wenn in diesem Zusammenhang eine Bestimmtheit erreicht werden soll. – Nach der Heimkehr vergegenwärtigen wir uns noch einmal die durchmessenen Strecken, indem wir sie auf der Landkarte und dem Globus aufsuchen oder nachzeichnen. Der Andere verschmäht den als Wort durch und durch welschen, weil reinlateinischen »Globus« und sagt dafür Kugel oder Erdkugel. Er schwankt dabei keinen Augenblick, denn die Übersetzung ist wörtlich genau, bis zur vollkommenen Eindeutigkeit. Was tut er also? er zeichnet die Linien, die er auf der »Erdkugel« zurückgelegt hat, auf der »Erdkugel« ein. Daß es sich in dem einen Fall um ein von Menschenhand hergestelltes verkleinertes Abbild handelt, und daß der Satz kindisch und läppisch wird, wenn man im »Globus« nur die Kugelform, nicht aber die Verkleinerung und das veranschaulichende Hilfsmittel übersetzt, kümmert ihn nicht. Ihm genügt es, daß er wieder einmal ein Wort mit welscher Bannware durch Kernschuß getroffen und versenkt hat.

Wir haben die Reise über viele Breitengrade, aber nur über eine ganz geringe Anzahl von Weltworten ausgedehnt; und wir brauchen sie räumlich nicht zu verlängern, um bezüglich der Worte und ihrer Ersätze die hundertfache Menge zu erreichen. Im Rückblick ergibt sich durchweg, daß unser lieber Herr von der Reinigungszunft zwischen zwei Möglichkeiten pendelt: Er wird unklar und verschwommen, wo es auf die Deutlichkeit ankommt, und er nagelt sich auf einseitige Bestimmtheiten fest, wo uns das Verfließende und Schattierte als das Wesentliche, das eigentlich Wertvolle gilt. In diese Geheimnisse der Begriffs-Umsäumungen einzudringen ist ihm nicht gegeben; vermöchte er es, so würde er seine Zunft verlassen, wenn seine Ehrlichkeit nur halbwegs auf der Höhe seiner Hartnäckigkeit stünde. Wir haben versucht, an einigen Punkten den Schleier von jenen Geheimnissen zu lüften; wirklich nur an einigen Punkten, selbst wenn man die entsprechenden Betrachtungen an anderen Stellen dieses Buches dazuzählt. Ein Foliant wäre darüber zu schreiben, wenn man dem Bedeutungs- und Schönheitswert der »Umsäumungen«, der Begriffsränder, auch nur bis zum zehnten Teile gerecht werden wollte. Tatsächlich liegt in ihnen von den Herrlichkeiten unserer Bildungssprache soviel beschlossen, daß sich aus ihnen ein besonderer Kronschatz gewinnen und formen ließe; freilich nur von denen und für die, in deren geistiger Rüstkammer die Fähigkeit zu selbständiger Sprachkritik vertreten ist. Bei den Sprachbäckern fehlt sie. Aber ich nehme an, daß unter den Empfängern der vorliegenden Anregungen mehr als einer aus eigenem Nachdenken jenen Schattenspuren im unermeßlichen Gebiet nachgehen wird, ohne sich durch das Hohngeschrei von der »Nüankße« ins Bockshorn jagen zu lassen; und mit dem Vorsatz, sich aus der Fülle der Schattierungen all das dienstbar zu machen, was ihm die Nuancentöter rauben, hinausräuchern oder verekeln möchten.

 


 


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