Alexander Moszkowski
Das Geheimnis der Sprache
Alexander Moszkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die werbende Kraft

Ein garstig Lied, pfui, ein statistisch Lied! die meisten Menschen hören es nicht gern pfeifen, da ihnen das Grundbekenntnis der Pythagoreer »das Wesen der Dinge ist die Zahl« noch nicht recht eingegangen ist. Zudem birgt die Statistik, sobald man einen bestimmten Beweisfall herausgreifen will, tatsächlich genug der Fußangeln und Fallstricke; besonders dann, wenn man keine Vorarbeit findet und darauf angewiesen ist, das Material auf allerhand Umwegen herbeizuschaffen.

Es gibt drei Arten von Lügen:
Die eine lügt zum Vergnügen,
Als Notlüge wandert die zweite durch's Land,
Die dritte wird »die Statistik« genannt.

Und dennoch ist sie in vielen Fällen nicht zu entbehren, wenn man sich nur das eine klarmacht: Eine statistische Aufmachung kann zu Fehlschlüssen verleiten, die Verleugnung jeder Statistik muß Fehlschlüsse bewirken. Und ferner: Zwischen Unrichtigkeit und Falschheit bleibt immer noch ein Unterschied. Es handelt sich um Näherungswerte, welche die Wahrheit zwar nicht erreichen, aber doch die Richtung erkennen lassen, in der die Wahrheit zu finden sein könnte.

Die Frage des gegenwärtigen Kapitels ist auf die werbende Kraft der Sprachbewegung gestellt, und wir wollen versuchen, mit aller gebotener Vorsicht, irgend einen zahlenmäßigen Ausdruck für diese Kraft zu gewinnen. Stellen wir uns in äußerster Verwegenheit vor: es wäre denkbar, es wäre möglich, die Zahl der heute umlaufenden Fremdworte festzustellen und mit der Zahl der Fremdworte zu vergleichen, wie sie vor zehn oder vor zwanzig Jahren umliefen: so besäßen wir ein Mittel, um das Kraftmaß der Bewegung zu erfassen. Das Verhältnis beider Zahlen würde uns zeigen: soviel Fremdworte sind verschwunden, das bedeutet so viel Prozent der Gesamtmasse, und in diesem Prozentsatz könnten wir das Maß der werbenden Leistung erblicken.

Aber dieser Weg ist nicht beschreitbar. Kein Verfahren bietet eine Möglichkeit, auf solche Weise auch nur einen Zipfel der Statistik zu erhaschen. Wir versuchen es daher mit einer anderen Methode, die zwar nicht bis zum Ziel hinführt, aber es doch wenigstens für den Fernblick kenntlich macht.

Vorerst legen wir uns die Zwischenfrage vor, was wohl zur Beurteilung der Sprachmasse wichtiger wäre: die Summe der Bücher oder die Summe der Zeitungen? Liegt das Übergewicht, ganz im großen nach Masse und Zahl betrachtet, beim Buch oder beim periodisch erscheinenden Blatt? Hier ließen sich vielleicht irgendwelche brauchbare Verhältniszahlen gewinnen, während uns der bloße Gedanke, die von Mund zu Mund flutenden Gespräche nach Zahl und Maß zu werten, mit schauderndem Verzicht erfüllen muß.

Selbstverständlich handelt es sich in der Frage: Buch oder Zeitung? durchaus nicht um Abwägungen im Sinne der Geistigkeit und der Kulturbedeutung. Hier kommt vorläufig nur der mechanisch abzusteckende Umfang in Betracht, und da ergibt schon der erste Rechnungsanlauf das Übergewicht, und zwar ein erdrückendes Übergewicht zugunsten der Zeitung.

Führen wir eine Betrachtungsgröße ein: die Lese-Einheit, indem wir uns für unsern Zweck vorstellen, alles Gedruckte würde auch einmal gelesen. Die Lese-Einheit, entsprechend dem Druckinhalt eines durchschnittlichen Druckbogens, würde also die Wirkung darstellen, die diese Menge von Buchstaben, Worten, Sätzen auf einen Leser ausübt. Die Besonderheit dieser Wirkung braucht nicht erörtert zu werden. Sie möge ausfallen wie sie wolle, so wird sie bestimmt auch sprachliche Bestandteile enthalten, wird von der Sprechweise des Schreibers abhängen und sich in gewisser Weise an den Sprachsinn des Lesenden wenden. Sonach zerfällt alles, was gedruckt und gelesen wird, – sagen wir: in Deutschland während eines Jahres – nach seiner Bestimmung und Wirkung in eine endliche, aber zweifellos ungeheure Anzahl von Lese-Einheiten.

Wie groß mag diese wohl sein? – Versuchen wir es, mit allen erdenklichen Vorbehalten durch Rechnung und Schätzung uns an die Summe heranzutasten.

Eine Gewißheit steht am Anfang: Nach einer auf 1912 bezogenen statistischen Ermittlung erzeugte Deutschland als Jahresmenge rund 36 000 Werke in 53 000 000 Einzelbüchern, die zusammen eine Million Kilogramm Papier verschlangen. Die durchschnittliche Auflage des Einzelbuches hielt sich mithin auf der bescheidenen Höhe von ungefähr 1500 Exemplaren. Rechnet man den Bogen zu 25 Gramm, oder das Kilogramm Druckpapier zu 40 Bogen, so ergibt sich ferner, daß man in Übertreibung verfällt, wenn man die Bezeichnung »Werk« auf die Gesamterzeugung anwendet. Der durchschnittliche Umfang des Druckexemplares fällt mit etwa 3-4 Bogen winzig genug aus, und da sich doch in der Gesamtmenge auch genug Dickleiber und Wälzer befinden, so erreicht die überwiegende Zahl kaum das dürftigste Broschürenformat. Immerhin marschiert Deutschland mit der vollen Million Kilogramm Buchpapier und mit etwa 100 neuen »Büchern« pro Tag unter allen Ländern an der Spitze der Erzeugung; wir gelangen zu 60 Millionen Lese-Einheiten als Ausdruck dessen, was unser Buchmarkt den geistigen Verzehrern in einem Heilsjahr des Friedens anzubieten vermag.

Aber ein ganz anderes Bild eröffnet sich, wenn wir statt des Buches die periodische Presse ins Auge fassen. Wir geraten in ein Gebiet der Ungeheuerlichkeiten, worin wir etwas nach Maß und Zahl Begreifliches nur mit Mühe festzuhalten vermögen. Es erscheint da geboten, aus der betäubenden Vielfältigkeit nur eine einzelne Erscheinung herauszugreifen, eines der großen Weltblätter, wie es vom Wirbel der hauptstädtischen Maschinen unablässig in die lesebedürftige Menschheit hinausgeschleudert wird.

In dem von A. Fürst und mir herausgegebenen Buch der Tausend Wunder findet man Angaben über die hier obwaltenden Riesenverhältnisse, in denen die Ziffern zu Abenteuern und Orgien emporschnellen: Eines der erwähnten Großorgane mit einer Auflage von ¼ Million Exemplaren brauchte für eine gewöhnliche wochentägliche Morgenausgabe im Frieden (vor der Papiereinschränkung) durchschnittlich 130 Rollen Druckpapier in Gesamtlänge von 1 170 000 Metern. Für eine Sonntagsausgabe in der Weihnachtszeit wurden etwa 270 Rollen mit einer Papierlänge von 2 400 000 Metern verbraucht, was der Entfernung von Berlin bis Gibraltar entspricht. Mit der Länge des in einem Jahre verdruckten Papieres kann man den Erd-Äquator zehn Mal umwickeln, in Längsspannung des Streifens eine Verbindung zwischen unserm Planeten und dem Monde herstellen. Es sind Tagesausgaben gedruckt worden, die nach Buchstaben gemessen einen Band Schiller in der Cottaschen Ausgabe erreichten, vervielfältigt mit dem Multiplikator der Auflage, der das Typengewimmel bis zu unzählbaren Milliarden steigerte.

Wie luftige Phantasiegebilde steigt es vor dem Betrachter auf, der sich trotzdem entschließen muß, einen ganz nüchternen Schluß zu ziehen; auf dem Wege liegen Rechnungen, deren Umständlichkeit wir ihm ersparen möchten; das vorläufige Ergebnis wird lauten, daß ein einziges dieser mit Milliarden und Weltkreisen spielenden Organe mehr Lese-Einheiten erzeugt, als der vereinigte Buchdruck im ganzen Reiche. Legt man Bogen neben Bogen, Quadratmeter neben Quadratmeter, so eilt die Zeitung im Gewaltschritt voraus und überflügelt den Wettbewerb aller Bücher, Jahr für Jahr um das Achtfache.

Aber diese eine Zeitung steht doch nicht allein, sie ist nur ein Schwesterglied in einer unübersehbaren Kette von Tagesblättern und Zeitschriften. Unabweisbar wird somit die Annahme, daß der Zeitungsbetrieb als Ganzes mit einem Mehrheitsfaktor, der in die Hunderte gehen mag, über den Buchbetrieb hinausragt. Dieser schrumpft mit seinen für sich so imponierenden Lese-Einheiten zu einer Armseligkeit zusammen.

Die hier nicht erörterten Zwischenrechnungen machen auf Genauigkeit keinen Anspruch. Aber ihre Fehlergrenzen bleiben erkennbar, und eine Umdeutung des Ergebnisses erscheint ausgeschlossen. Es verschlägt nichts, daß auch der eigentliche Buchdruck Gigantengewichte in seine Wagschale wirft; so der Verlag Reclam, der in den 50 Jahren von 1867 bis 1917 allein von Goethe–Schiller über 15 Millionen Bände über die Erde verbreitet hat, von altgriechischen und römischen Klassikern ½ Million, von philosophischer Literatur mehr als 5 Millionen, von geschichtlichen Werken über 6 Millionen, von Shakespeare 6, von Ibsen 4½ Millionen. Denn wir messen hier nicht Kulturwerte, sondern Lese-Einheiten, und jene Kulturmillionen der Universal-Bibliothek bleiben federleichtes Gewicht gegenüber der anderen Wagschale, in der sich die Ballen und Rollen ohne Pause zu kosmischer Höhe türmen.

Man könnte noch tröstlich einwenden: die Zeitung verfliegt mit dem Tage, mit der Woche, das Buch bleibt bestehen, wird immer wieder gelesen, woraus sich dann die Forderung ergäbe, die Lese-Einheit des Buches müßte selbst in rein mechanischer Wägung mehrfach eingesetzt werden. Aber erstens bleibt in der Bücherflut das mehrfach gelesene Einzelstück auf die Minderheit beschränkt, und zweitens versieht die Zeitung ihre Lese-Einheit mit einem Kraftfaktor, der noch erheblich stärker wirkt als die Möglichkeit wiederholter Lesung. Das Wesen dieses Kraftfaktors ist die Überrumpelung durch die »Aktualität«. Ist die Zeitung auf den Tag eingestellt, so entfaltet sie in dieser kurzen Zeitspanne eine Wirkung, die sich zur längeren Buchwirkung verhält wie der Stoß zum Druck. Der kleinste Stoß vermag den größten Druck zu überwinden, oder wie Galilei sagt: die Kraft des Stoßes ist gegen die Kraft des Druckes unendlich groß. Wird dies als zutreffend erkannt, so ergibt sich abermals ein wesentliches Übergewicht der periodischen Presse, – immer, wie selbstverständlich, mechanisch genommen. Aber auf den mechanischen Vergleich kommt es hier an, denn wir wollten doch die »werbende Kraft« der bekannten Sprachbewegung prüfen und hierfür eine statistische, durch Zahl und Maß erreichbare Unterlage gewinnen.

Genügend erwiesen ist nun wohl nach dieser langen Vorbereitung, daß man sich zu allererst im Zeitungswesen umzusehen hat, um über die werbende Kraft zu einiger Klarheit zu gelangen. Und das haben auch die Vorkämpfer der Bewegung mit voller, auf Instinkt beruhender Deutlichkeit herausgefühlt. Sie wissen wohl, daß aus der großen Buchmasse für sie nichts herauszuholen ist, und jedenfalls kein Triumph in Sachen ihres heiligen Krieges. Und wenigstens in dem Einen sollen sie Recht behalten: gelänge es ihnen darzutun, daß sie die Zeitungen zu ihrer Ansicht, zu ihrer Sprachweise bekehrt haben, wenn auch innerhalb enger Grenzen, dann wäre ihre werbende Kraft überhaupt eine über jeden Zweifel hinausgerückte Tatsache. Und sie könnten frohlockend über das Versagen dieser Kraft, der Buchmasse gegenüber, hinwegsehen, da ja, wie ermittelt, die Bücher mit ihren vergleichsweise verschwindenden Lese-Einheiten gar nicht in Betracht kommen.

Aber seltsam! statt des Jubelrufes, den wir erwarten, stöhnt uns bewegliche Klage entgegen; Jammer auf der ganzen Linie der Sprachreiniger und Ausdrucksputzer: die Presse, die böse Presse! die haben wir nun durch soviele Jahre zu erziehen versucht, mit allen Mitteln der Überredung und Einschüchterung bearbeitet, und sie will durchaus nicht stubenrein werden; überall und dauernd kleckert sie ihr Gewelschtes umher, trotz aller Gouvernantenkunst, die wir auf Schriftleiter und Mitarbeiter verschwendet haben!

Diese Klage läßt sich nachprüfen in hundert und aberhunderten von Blättern der verschiedensten Richtungen. Aber wir wollen besonders vorsichtig sein. Wir wählen unsern Prüfungsbeleg gar nicht aus dem Legionenreiche der Widerstrebenden, vielmehr aus Schriften und Organen, die nach ihrem eigenen Bekenntnis vollkommen auf dem Boden der »Bewegung« stehen, die nach ihren eigenen, nicht zu bezweifelnden, mit hundert Ausrufungszeichen in die Welt hinausgeworfenen Losungsworten durchaus entschlossen sind, für völkisch-reines Deutsch zu wirken.

Auf ihren literarischen Beilagen und unter dem Strich werden die schärfsten Attacken gegen die Fremdwörtler geritten. Bösewichte, die es noch wagen, einzelne Worte wie etwa »Interesse« oder gar »Desinteressement« anzuwenden, werden herausgeholt, gestäupt, zur Warnung festgenagelt. Man erfährt bei solchen Gelegenheiten, wie vieler Übersetzungen solch ein Einzelwort fähig ist; ein rühriger Kollege hat allein für dieses verruchte »Interesse« neunhundert Verdeutschungen herausgerechnet. Gott, wie »interessant«! Und so geht es unentwegt in verschiedenen Teilen des Blattes, durch Nummern, durch Jahrgänge, – kein Zweifel, das Programm wird erfüllt, die werbende Kraft zeigt sich in Goliathstärke.

Nur wirkt sie nicht bis über den Strich hinauf. Da, wo die Politik verhandelt wird, oben in Leitartikeln und ihren Anhängen, hört man von der ungeheuren Werbetrommel keinen Wirbel, nicht einmal ein säuselndes Echo. Während unten völkisch draufgegangen wird, daß die Späne fliegen, nehmen die Männer, die dem Blatt das eigentliche Gepräge geben, nicht die leiseste Notiz von ihrem eigenen Programm. Und wohlgemerkt, diese Männer sind sehr tüchtige Leute, die gut zu schreiben verstehen.

Ich nehme mir irgend eine beliebige Nummer solcher alldeutschen Zeitung vor, und um der eignen Willkür gar keinen Spielraum zu lassen, die Nummer von heute, von dem Tage, da ich in diesem Buche bis zur Niederschrift der vorliegenden Zeilen gelangt bin. Es liegt mir daran, für dieses bestimmte Blatt eine Sonder-Statistik zu gewinnen, und der Leser möge mir glauben, daß ich von dem Ergebnis in diesem Augenblick noch gar nichts weiß.

Ich betrachte also den heutigen Leitartikel dieses bestimmten Blattes und ziehe aus ihm der Reihe nach folgende Fremdworte:

Demagoge, obligat, Kapital, moralisch, Kredit, Szene, demokratisch, Parlamentarismus, gratulieren, sozialdemokratisch, Interpellation, Skandal, Konservative, national, Organe, Rhetorik, taktisch, Heros, Kultur, Politik, ästhetisch, positiv, Opposition, Feuilleton, Stil, sophistisch, Dialektik, Agitatoren, pikant, akut, Situation, Effekt, kokettiert, Prophet, salvieren, kriminell, international, Propaganda, konsequent, radikal, revolutionär, pazifistisch, antimilitaristisch, Militärinstanzen, Appell, impressionistisch, ethisch, Nation, Plaidoyer, unlogisch, Resolution, Autorität, Partei, konzentriert, restitutio, Modell, elegisch, Zensur, Kritik).Einige Monate später erlebte man in dem nämlichen deutschvölkischen Blatte das sprachliche Musterbeispiel einer »parlamentarisch-demokratischen Kamarilla«, welche der Staatsmann XX »kreiert und gemanaget« hat.

Das finde ich in einem einzigen Artikel (im Herbst 1917), und ich zähle darin, schon mit Ausschluß der gänzlich unvermeidlichen, also gering gerechnet, 50 Stück von der verpönten Sorte. Und nun sage mir einer, wo da eigentlich die werbende Kraft des Losungswortes stecken soll, das sie auf fliegenden Fahnen vor sich hertragen! Der Sprachgeist so eines Blattes übt sich in zwei Betätigungen: »vorne nickt er, und hinten pickt er.« Das Nicken bedeutet für mich die Bejahung einer kultivierten, mit den Hilfsmitteln der Neuzeit ausgerüsteten Sprache; der Hackeschnabel aber kann bei solcher Bewandtnis unmöglich eine werbende, sondern höchstens eine grotesk belustigende Wirkung äußern.

Tatsächlich machen sich auch die Vorkämpfer der Bewegung bezüglich dieser Tragikomödie auf völkischer Zeitungsbühne keinen blauen Dunst vor, und sie sind ehrlich genug, ihren Mißerfolg teils mit polternder Entrüstung, teils mit elegischem Schluchzen einzugestehn. Einer ihrer Hauptmatadore geht darin noch weiter. Dieser ebenso gelehrte wie gewissenstüchtige, vor allem mit immenser Belesenheit ausgerüstete Herr schreibt: »Jeder Leser weiß so gut wie ich, daß es schwerlich eine einzige deutsche Zeitung mit 2 bis 3 Sätzen hintereinander in reindeutscher Sprache gibt. Die einzige Ausnahme, auf die ich aber nicht schwören will, ist an manchen Tagen die Kölnische Zeitung«; und an anderer Stelle bezeichnet er abermals die Kölnische Zeitung als »nahezu die einzige in Deutschland, die sich mit festem Willen und nicht erlahmender Ausdauer um reines Deutsch bemüht«.

Machen wir wiederum die Probe aufs Exempel und genau wie vorher mit Ausschaltung jeder Willkür. Ich greife also nach irgend einer, nach der mir zunächst erreichbaren Nummer der Kölnischen Zeitung und finde darin in dichter Aufeinanderfolge:

Trabant, genial, offensiv, Ruinen, Material, Kommission, provinzial, Organisation, kulturell, Maschine, Baracke, Transport, kolonial, Autowerte, Palais, reaktionär, Idee, Trikolore, Textil, Police, Interesse (mehrfach), Pointe, Restaurateur, amoureuse, Inszenierung, Tonnage, Novelle (im Sinne von Ergänzungsgesetz), Originalkadenz, Orchester, Ouvertüre, sympathisches Organ, intim, dramatisch, humoristisch, Romantik, Phantom, Milieu, Reformator, Phrase, Konzentration, Torso, politischer Koloß, Armee . . .

Das wären schon mehr als vierzig Unreinheiten in einer einzigen Nummer des »nahezu einzigen Blattes, das sich um reines Deutsch bemüht«. Wo wächst die Frucht dieser Bemühung? halt, – ich entdecke sie: das Wort »Publikum« wird auf diesen Spalten eifervoll vermieden und durch »Schaumenge« ersetzt. Das ist immerhin etwas und verlohnt die Ausbeute. Dagegen heißt es durchweg, »Telegramm« und nicht Drahtnachricht oder Drahtung, die sich doch soviele andere Zeitungen in neuester Zeit angewöhnt haben. Und eine Selbstanzeige aus dieser Ausgabe vom Herbst 1917 lautet gar wie folgt:

Haben Sie etwas für die Armee oder Marine anzuzeigen? Dann benützen Sie dazu die Tagesausgabe der Kölnischen Zeitung für das Feld. Verlangen Sie Probenummer durch die bekannten Annoncen-Expeditionen oder unsere Geschäftsstelle.

Die Expedition der Kölnischen Zeitung.

Ich dachte, das hieße jetzt »Vertriebs-« oder »Versandstelle« oder so ähnlich, und ein sprachreiner Schriftleiter hätte dafür zu sorgen, daß das Gespenst des Sankt Expeditus nicht wieder in seinen Räumen umherspuke. Aber da wohnt gar kein Schriftleiter, sondern die nämliche Nummer des Kölnischen Weltblattes bekennt sich – o popoi! – zu einem Chefredakteur! Des Weltalls ganzer Jammer faßt mich an. Da haben sie sich durch all die Jahre die Federn und die Lippen stumpf und wund zerarbeitet, um das vermaledeite Satanswort Redaktion hinauszujagen, und in der »nahezu einzigen« Kölnerin thront allen Teufelsbeschwörungen zum Trotz obenan ein Chefredakteur!

Ich fürchte hier keine Falschdeutung, möchte aber, um auch irgendwelches zufällige Mißverständnis auszuschließen, besonders betonen, daß ich persönlich der Kölnischen Zeitung die größte Wertschätzung entgegenbringe. Sie galt und gilt mir als ein Organ, dem auch im Punkt der Sprachleistung eine Vorzugsstellung nicht bestritten werden darf. Und die vorstehende Aufstellung ihrer Fremdworte aus einer beliebigen Nummer bedeutet in meinen Augen nicht eine Belastung, sondern ein Guthaben; denn jene Liste, die sich durch zahllose andere ergänzen ließe, liefert eben den Beweis, daß sich das Blatt keinem einseitigen Banausentum überliefert hat.

Aber wie steht nunmehr die Rechnung der Unentwegten, die mit ausdrücklicher Berufung auf das Weltblatt am Rhein ihr eigenes Guthaben veröffentlichen?

Sie selbst erklären, daß sie nur diese eine Trumpfkarte in Händen haben, und diese Karte versagt, sobald sie auf den Tisch geworfen wird. Und auf diesem Tisch liegen Hunderte, Tausende anderer Schriften, die allesamt als Gegenwerte gerechnet werden müssen. Sie umfassen restlos das ganze zeitgenössische Schrifttum, das Millionenheer der Blätter, das für die werbende Kraft der Bewegung zu zeugen hätte, wenn sie nur überhaupt vorhanden wäre.

Lückenlos schließt sich der Beweis zu dem Ergebnis: Diese werbende Kraft ist Null. Um den Beweis zu erhärten, vereinigen sich die Tatsachen mit den klagenden Geständnissen der zünftigen Deutschmeister. Die Zunftherren haben das Spiel verloren.

Nie und nirgend in der Welt ist ein ähnlicher Wettbewerb erlebt worden. Tausende von Gewinnstichen mußten gemacht werden, und nicht ein einziger Stich ist ihnen zugefallen. Zu einem Wettrennen wurde ausgeholt, ohne daß sich die eine Partei von der Stelle zu rühren vermochte, während die andere im Sturmlauf übers Feld fegte.

Wir hatten zuvor die Bücher von dem allgemeinen Schrifttum statistisch abzusondern versucht. Vielleicht war es eine mitleidige Regung, die uns hierzu bestimmte, denn im Hinblick auf das Buch, das Werk, den Einzeldruck, hätten die sprachmeisternden Herren noch schlechter als schlecht abgeschnitten. Eine Zeitung nimmt doch noch wenigstens Notiz von ihren Wünschen und Strebungen. In der ganzen Welt der eigentlichen Werke, der wissenschaftlichen wie der volkstümlichen, wird ihres Wesens nicht einmal ein Hauch verspürt. Grund genug für die Sprachputzer, um das ganze Heer der humanistisch gerichteten Buchschreiber mit ihrem inbrünstigen Haß zu verfolgen und insbesondere die Gelehrtensprache als giftiges Auslandsunkraut zu verschreien. Aber selbst wenn sie die Front der Buchschriftsteller so eingebeult hätten, wie sie sie tatsächlich unberührt ließen – denn Scheltworte sind unwirksam in diesem Gelände –, selbst dann läge noch kein Grund zu einem Triumphruf vor. Denn wir haben festgestellt, daß infolge ihres erdrückenden Übergewichts nur die Gesamtheit der Zeitungen als entscheidende Prüfungsunterlage angesehen werden darf.

Und dies gilt nicht nur grobmechanisch. Denn die gesprochene Sprache ist das Spiegelbild der Zeitungssprache, oder genauer gesagt: Beide sind wechselseitige Abbilder. Es mag Leute geben, die wie ein Buch sprechen – das Volk spricht wie die Zeitung, zwar flüchtiger im Satzbau und immer im Verhältnis von »Rede zu Schreibe« – aber doch im wesentlichen mit den nämlichen Mitteln des Ausdrucks; wie dies auch bei der dauernden innigen Berührung von Blatt und Mensch gar nicht anders möglich ist. Dasselbe Leben pulst in beiden Körpern, im gedruckten, der sich zunächst dem Auge mitteilt, und im atmenden, der von Mund zum Ohr seine Botschaft sendet. Gelingt es, den Wirkungsgrad einer Kraft auf den einen Körper zu beurteilen, so können wir ohne Sorge vor Fehlschluß einen ähnlichen Wirkungsgrad auf den anderen Körper annehmen.

Damit hätten wir den springenden Punkt erreicht; denn eine Untersuchung über die Werbekraft will schließlich deren Einfluß auf das Sprachganze in Druck und in Rede erfassen.

Soll ich an diesem Punkte einlenken? Soll ich mich vor der Tatsache verbeugen, daß die Bewegung doch immerhin einiges geleistet, eine Anzahl entbehrlicher Fremdausdrücke mit Amtshilfe getilgt hat? Ich würde mich zu dieser Verbeugung gern entschließen, wenn ich mich nur davon überzeugen könnte, daß zur Erzielung solch bescheidenen Ergebnisses ein so umständlicher Apparat notwendig gewesen ist. Die Umformungen, die eine leichtflüssige Sprache erleidet, sind im Laufe der Jahrzehnte so gewaltig, daß ein paar Schock Fremdworte mehr oder minder darin keine Rolle spielen. Ein Mann wie Nietzsche läßt im Sprachreich tiefere Spuren als zehn Verbände mit vorgefaßtem Programm, und die summierten Umformungen, die sich im Strom der Tage wie von selbst entwickeln, verändern das Sprachgesicht weit gründlicher, als alle Massagen der Schönheitskünstler von Beruf. Man wird aber auch in der Annahme nicht fehlgehen, daß die Sprache selbst mit einem Trotzgeist ausgerüstet ist, der nur darauf lauert, seinen Abscheu vor Bevormundung zum Ausdruck zu bringen. Kraft dieses Trotzes nimmt sie in jeder Zeitspanne mehr Fremdworte in sich auf, als ihr von Verbänden und Behörden ausgeredet werden; es kann somit ein erkennbarer Saldo zugunsten unserer Sprachvögte gar nicht zutage treten. Sie selbst geben sich, wie schon erwähnt, hierüber gar keiner Täuschung hin, und wenn sie zetern, daß es keine Zeitung mit zwei bis drei Zeilen hintereinander in Reindeutsch gibt, so steckt dahinter noch etwas anderes: Nämlich das dumpfe Gefühl, daß ihr Geländeverlust im Sprachlichen am Ende gar größer sein könnte als ihr Geländegewinn. Wonach wir die werbende Kraft, die wir vorher als gleich Null bezeichneten, als noch unter Null anzusetzen hätten.

Fehlt es sonach der gesamten Bewegung an einem gesunden Kern? Das behaupte ich keineswegs. Allein ich meine, daß dieser Kern von Anfang an eine falsche Lagerung erhalten hat, in der es ihm unmöglich wird, eine Frucht zu treiben. Oder mit anderem Gleichnisbild: Ein Teil unserer Reformer, die sich im Zeichen des Allgemeinen deutschen Sprachvereins zusammenfinden, segelt auf brauchbarem Fahrzeug mit gutem Winde, aber mit falschem Kompaß, und kann somit das Ziel nicht erreichen, sofern es durch die Forderung bezeichnet wird: Alles Schlechtdeutsch durch Gutdeutsch zu verdrängen. Wer möchte sich nicht zu dieser Losung bekennen? Aber ein anderes ist es, ein Ideal aufstellen, ein anderes, den Weg dahin finden. Der Kompaß muß an ein Ufer führen, das stilistisches Neuland werden kann, nicht aber in Jagdgründe zur Worthatz. Es ist gut, daß aus der Mitte jenes Vereins Stimmen vernehmlich werden, die dieser Auffassung der Dinge nahekommen. Manches regt sich da im Unterbewußtsein, was dereinst, zur Oberfläche aufsteigend, dem Sprachverein edlen Ertrag bringen wird.

Aber solange das Deutsche nicht mit parnassischem Maß gemessen wird, sondern mit dem Bakel, solange zu ihrer Verschönung kein anderes Mittel wirken soll als Fleckseife, kann sich nichts Gedeihliches entwickeln. Vermag die werbende Kraft, wie bis heute, nicht über den Nullpunkt hinauszuklettern, so zeigt dies mit aller Deutlichkeit, daß die ganze Maschine trotz allen Getöses leerläuft, daß sich Gestänge drehen ohne Achsenlager und daß die Treibriemen ohne Nutzwirkung in der Luft schlottern. Denn die Werbefähigkeit und nichts außer ihr gibt das Maß für den Wert der Bestrebung, und an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!

 


 


 << zurück weiter >>