Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Abdera in Athen

Wie nach landläufiger Meinung in der Verteidigungsrede und in den Gefängnisdialogen der gute Abgang dargestellt wird, so sollen in den Sophistengesprächen die glänzenden Auftritte bewirkt werden, und wie dort die schwere Tragik das Wort führt, so soll hier die überlegene Ironie des Meisters zum Siege gelangen. Wir werden bald genug erfahren, gegen wen sich diese Ironie in Wahrheit kehrt, und daß es kein anderer als Sokrates ist, der aus der blutigen Satire als die lächerliche und in alle Ewigkeit auszulachende Figur hervorgeht.

Wir nehmen uns als erstes Musterbeispiel das berühmte Werk des Plato »Protagoras« vor, und stellen uns zunächst als gläubige Schüler auf den überlieferten Standpunkt: das ist ein Turnier zwischen dem Hauptphilosophen und dem Hauptsophisten, worin die große Philosophie die kleinliche Sophisterei mit allen Waffen großzügiger Geistigkeit und des scharfzielenden Spottes überrennt. Zwar vom Protagoras haftet uns ein unsterbliches Wort im Gedächtnis: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge«, und es will uns scheinen, als ob dieser Spruch in seiner Fernwirkung von gar keinem anderen übertroffen würde. Gleichviel, er war ein »Sophist«, ein Mann also, der seine Gelehrsamkeit und seinen Unterricht für blankes Geld verkaufte, ein Trödler und Schacherer, der obendrein seinen Kunden geistiges Talmi für echtes Gedankengold aufschwatzte, also eigentlich ein philosophierender Hochstapler. Und wenn so einer an einen Mann wie Sokrates gerät, das kann und muß ein Schauspiel für Götter werden. Die zusammengelogene Herrlichkeit wird in Fetzen fliegen, und in seiner schauerlichen Blöße wird er vor uns stehen, der elende Sophist.

Es fängt sehr niedlich und stimmungsvoll an. In aller Morgenfrühe hämmert ein Freund, Hippokrates, den Sokrates aus dem Schlafe, um ihm mitzuteilen, daß der berühmte Protagoras aus Abdera in Athen eingetroffen sei und beim Kallias Wohnung genommen habe. Er solle nur gleich aufstehen und zum Weisheitsausschank im Kallias-Bräu mitkommen.

Es ist noch stockdunkel, so finstere Nacht, daß sich Hippokrates ans Bett des Meisters herantappen muß. Nichtsdestoweniger ist Sokrates sogleich ganz bei der Sache. Er erhebt sich, macht sich bereit, aber da es doch wohl noch zu zeitig ist, um bei anderen Leuten einzudringen, so unternehmen die beiden Herren zuvörderst einen Spaziergang im Hofe des Hauses.

Wenn Sokrates auf und ab geht, so doziert er, ob gefrühstückt oder nicht. Und so gibt es vor Tagesgrauen einen Posten Philosophie auf nüchternem Magen.

Bei diesem Vor-Kolleg handelt es sich, kurz gesagt, um die Frage, warum man nun eigentlich zum Protagoras hinwolle. »Kurz gesagt«, das sei besonders betont! denn es wird doch nötig sein, einzelne Absätze im Wortlaut herauszugreifen, und man wird daran zu denken haben, daß die ganze Schrift des Plato einen Umfang besitzt etwa wie ein ausgewachsenes, abendfüllendes Theaterstück. Die hier herausgezogenen Stellen beschränken sich daher, wie durchweg in vorliegender Studie, auf das zum Verständnis notwendige alleräußerste Minimum. Kurz gesagt: das ist ein Programm, von dem der geborene Langsager Sokrates nichts weiß.

Sonach wird schon im Beginn das Allereinfachste vom Einfachen gestreckt und verwickelt, gemäß einer Anlage, die ein geistreicher Zeitgenosse (Eduard Engel) in ganz anderem Zusammenhange »rabies complicatoria«, die Verwicklungswut, genannt hat. Ein lernbegieriger Freund strebt zu einem Mann, der ihm als Berühmtheit aus der Gilde der Sophisten bekannt ist; seine Absicht ist klar und müßte einem Kinde verständlich sein: er will bei ihm sophistische Weisheit lernen. Hier beginnt die zerrende Maschinerie des Sokrates zu schnurren:

Sage mir, Hippokrates, zum Protagoras willst du jetzt, um ihm Geld als Lohn für dich zu zahlen; aber was ist er denn, daß du zu ihm hingehst? Was willst du denn bei ihm werden? Wie, wenn du zu deinem Namensbruder Hippokrates, dem Asklepiaden (dem Begründer der wissenschaftlichen Heilkunde), gehen wolltest, ihm Lehrgeld zu bezahlen, und es fragte dich jemand: Sage mir Hippokrates, dem Hippokrates willst du Lehrgeld entrichten? Warum? Was ist er denn? was würdest du dann antworten?

Ich würde sagen, sprach er, weil er ein Arzt ist.

Und was willst du bei ihm werden?

Auch ein Arzt, sagte er.

Oder wenn du zu Polykleitos von Argos oder zu Phidias aus Athen zu gehen im Sinne hättest, um ihnen Lehrgeld zu entrichten, und es fragte dich jemand: warum willst du denn dem Polykleitos oder dem Phidias dieses Geld entrichten? Was würdest du antworten?

Ich würde sagen, weil sie Bildhauer sind.

Und was wolltest du selbst bei ihnen werden?

Offenbar ein Bildhauer . . . .

Das Präludium ist hoffnungsvoll, und das präludierende Thema ließe sich offenbar – wenn sich's der andere gefallen läßt – bis ins unendliche ausspinnen: du willst zu einem Maler? warum wohl? weil er ein Maler ist; und was willst du bei ihm werden? auch ein Maler. Du willst zu einem Flötenspieler? warum wohl? weil er ein Flötenspieler ist? und was willst du bei ihm werden? auch ein Flötenspieler. In der Kinderfibel geht es so zu und in der A-B-C-Schule, und wie wir bemerken, auch in der gefeierten Lehrschule von Athen. Sokrates hält das aus, aber der andere, der Freund, setzt er sich nie zur Wehr, wenn ihm der Klippschulenmagister mit seiner Bohrmechanik so zusetzt? Keineswegs, er hält still. Also ein Schwachsinniger? Ein Tölpel aus der Hefe des Volkes? Weit gefehlt. Wir erfahren späterhin aus Sokrates' eigenem Munde die Rangklasse des Freundes. Er wird vorgestellt als Sproß eines großen und glänzenden Geschlechtes, von trefflichen natürlichen Anlagen, mit allen Anwartschaften auf Auszeichnung in Stadt und Staat. Wir lernen ihn anders kennen bei jenem Nachtwandler-Gespräch im Hofe, als ein Rindvieh in Größtfolio, das solcher ungeheuren Dressur bedarf, um endlich mit Ach und Krach dahin zu gelangen: ich will zum Sophisten Protagoras, weil er ein Sophist ist, und weil ich, gestützt auf die Analogie mit dem Arzt und dem Bildhauer beim Sophisten ein Sophist werden möchte.

Die Methode des Sokrates hat ihren ersten Erfolg weg. Selbst ein solches Rindvieh wie dieser Hippokrates hat schließlich begriffen, hat das dargereichte Kletterseil erfaßt und sich daran zur Höhe eines Folgeschlusses aufgezogen. »Errötend« allerdings, heißt es bei Plato; denn der Tag schimmert schon etwas, so daß Sokrates das Erröten des talentvollen Jungviehs deutlich beobachten konnte. Aber das Morgenrot auf den Wangen des Jünglings verschwindet nach dreißig weiteren Klimmzügen an dem nämlichen Gedankenseil, um der Blässe der Ignoranz zu weichen. Und er bekennt weiterhin ganz resigniert, daß er eigentlich keine Ahnung habe, weshalb er denn eigentlich den Sophisten besuchen wolle:

Vielleicht, sprach ich (Sokrates), sagten wir dann etwas Richtiges, aber vollständig doch noch nicht. Denn die Antwort bedarf noch einer Frage: nämlich worüber denn der Sophist im Reden tüchtig macht? Wie zum Beispiel der Musikmeister doch auch wohl seinen Schüler tüchtig macht im Reden, darüber nämlich, worin er ihn auch sachverständig macht: über die Musik, nicht wahr?

Ja! (spricht Hippokrates).

Gut; worüber also macht der Sophist tüchtig im Reden? Offenbar über das, worauf er sich selbst versteht?

So sollte man denken.

Was ist also dasjenige, worin der Sophist selbst sachverständig ist und auch seinen Schüler dazu macht?

Beim Zeus, sagte er, weiter weiß ich es dir nicht zu sagen!

Es war also eine gedankliche Karusselfahrt, und wir sind genau so weit wie am Anfang. Trotzdem gilt ein Gespräch wie dieses als die Probe der sogenannten »maieutischen Lehrweise«, die man durchaus mit heißem Bemühen studieren muß, um den Sokrates als Lehrmeister der Welt voll zu würdigen: »Maieutisch« heißt: nach der Art der Hebeammen und gewinnt eine besonders sinnvolle Beziehung dadurch, daß Sokrates in Person als Sohn einer Hebeamme zur Welt kam. Die Methode gründet sich auf Frage und Antwort unter der Voraussetzung, daß der Gefragte intelligent genug sei, um unter geschickter Behandlung des Fragers alle erdenkliche Weisheit zu produzieren, zu gebären. Der Schüler wird als gedankenschwanger vorgestellt, und der Lehrer tritt nur als Geburtshelfer auf, um ihn zu entbinden. Ganz normal geht es dabei nicht zu, auch insofern nicht, als eine gebärende Frau erst nachher in die Wochen kommt, während der gebärende Schüler schon Wochen unter der Geburtszange des Meisters verbringt. Dabei ergeben sich Totgeburten, Fehlgeburten, Mißgeburten, und wir werden noch merkwürdige Pröbchen von Wechselbälgen erleben, die durch sokratische Maieutik hervorgeholt, in Platos Spiritus auf die Nachwelt gekommen sind. Dagegen ist nicht ein einziger lebensfähiger Gedanke auf diesem Wege ans Licht befördert worden. Hebeammendienste verrichtet man nur, nachdem man die Hoffnung auf eigene Fruchtbarkeit aufgegeben hat, so sagte Sokrates selbst in einem lichten Augenblicke ironischer Erkenntnis.

Mehrfach treten sie auf, diese Augenblicke der Weisheit in Quentchen gegen Stunden der Narrheit in Zentnern. Bei einer sehr komplizierten Zangengeburt im Phädon sagt Sokrates: ». . . fast glaube ich, daß ich vielleicht jetzt mich nicht sonderlich philosophisch in dieser Sache verhalte, sondern rechthaberisch wie die ganz Ungebildeten«; und bald darauf noch heller: ». . . ihr aber, wenn ihr mir folgen wollt, kümmert euch nicht um den Sokrates, sondern vielmehr um die Wahrheit.« Die Antithese ist unübertrefflich, denn unter allen Gegensätzlichkeiten, in denen er schwelgt, bleibt dieser Kontrast als der schroffste bestehen: Wer der Wahrheit nachspürt, darf des Sokrates nicht achten. Selbstironie? vielleicht; Zirkelschluß? bestimmt. Denn hier war er ausnahmsweise Wahrheitsfinder, da er einen Moment lang die Wahrheit auf anderen Spuren vermutet, als auf seinen eigenen.

Im Grunde handelt es sich bei diesem ganzen Entbindungsrummel um ein Versteckspiel und um eine Irreführung. Denn nicht der entdeckende Schüler, sondern der weise Meister soll ja letzten Endes aus den Dokumenten hervorleuchten. Und mehr als im Frager drinsteckte, konnte auch aus dem Gefragten niemals herausentbunden werden. Ein Pythagoras hätte durch geschicktes Fragen aus einem leidlichen Schüler den Pythagoräischen Lehrsatz, ein Euklid ebenso die ganze Euklidische Geometrie herausgeholt. Aber hier fragte Sokrates; und da er ein Idiot war, konnte das Ergebnis eben nur Idiotisches sein. Und als ein Weltwunder muß es angesprochen werden, daß dieser klare und jedenfalls scharf zu erweisende Sachverhalt durch die Jahrtausende nicht erkannt, nicht Gemeingut der Welt wurde, ja, daß die ganze Welt noch heute auf das Gegenteil schwört.

* * *

Betrachten wir einmal die nachstehende dialektische Mißgeburt, und stellen wir uns einstweilen vor – ich betone die Vorläufigkeit –, daß Sokrates wieder einen Einfaltspinsel vor sich hat, dem er nach seiner Entbindungsmanier die Antworten herauspolkt:

Sokrates: Du nennst doch etwas Unsinnigkeit; ist nicht davon ganz das Gegenteil die Wahrheit?

– Mich dünkt es so, sagte der andere.

Und wenn die Menschen richtig und vorteilhaft handeln, dünken sie sich dann, besonnen zu sein, wenn sie so handeln oder das Gegenteil?

– Alsdann sind sie besonnen, sagte er.

Nicht wahr, durch die Besonnenheit sind sie besonnen?

Wir schalten ein: sowie nach Onkel Bräsig die große Armut von der großen Powerteh herkommt, und wie nach dem Arzt bei Molière ein Schlafmittel deshalb Schlaf bewirkt, weil es eine Schlafkraft, virtus dormitiva, besitzt.

Der andere. Natürlich!

Sokrates: Und nicht wahr, die nicht richtig handeln, die handeln unsinnig und sind nicht besonnen, indem sie so handeln.

Das dünkt mich ebenso, sagte er.

Mithin ist das Gegenteil vom Besonnenen das unsinnig handeln?

Er gab es zu.

Nicht wahr, was unsinnig getan wird, wird durch Unsinnigkeit und was besonnen, durch Besonnenheit verrichtet?

Das räumte er ein.

Und nicht wahr: wenn etwas durch Stärke verrichtet wird, das wird stark getan, und wenn etwas durch Schwäche, schwach?

So schien es ihm.

Und was mit Schnelligkeit, schnell, was mit Langsamkeit, langsam?

Er bejahte es.

Und wenn also etwas ebenso getan wird, wird es auch von demselben verrichtet, wenn aber entgegengesetzt, dann auch von dem Entgegengesetzten?

Er stimmte bei.

Wohlan, sage ich, gibt es etwas Schönes?

Er räumte es ein.

Und ist diesem noch irgendetwas entgegengesetzt außer dem Häßlichen?

Nichts weiter.

Und wie? gibt es etwas Gutes?

Ja.

Ist diesem etwas entgegengesetzt außer dem Bösen?

Nichts weiter.

Und wie? gibt es etwas Hohes in der Stimme?

Er bejahte es.

Ist diesem etwas Anderes entgegengesetzt als nur das Tiefe?

Nein, sagte er.

Also, sprach ich, jedem einzelnen von diesem Entgegengesetzten ist auch nur eins entgegengesetzt und nicht viele?

Dazu bekannte er sich.

Komm denn, sprach ich, laß uns zusammenrechnen, was wir eingestanden, daß einem nur eins entgegengesetzt ist, mehreres aber nicht.

Das haben wir eingestanden.

Und daß dasjenige, was auf entgegengesetzte Art getan wird, auch durch Entgegengesetztes verrichtet wird?

Er bejahte es.

Haben wir eingestanden, daß das, was unsinnig getan wird, auf entgegengesetzte Art getan wird, wie das, was besonnen?

Er bejahte es.

Und daß, was besonnen getan wird, durch Besonnenheit verrichtet wird, was aber unsinnig, durch Unsinnigkeit?

Er räumte es ein.

Also, da es auf entgegengesetzte Art getan wird, muß es auch durch Entgegengesetztes verrichtet werden?

Ja.

Es wird aber das eine durch Besonnenheit und das andere durch Unsinnigkeit verrichtet?

Ja.

Auf entgegengesetzte Art.

Freilich.

Also auch durch Entgegengesetztes?

Ja.

Entgegengesetzt also ist die Unsinnigkeit der Besonnenheit?

Das ist klar.

Erinnerst du dich wohl, daß im vorigen von uns eingestanden war, die Unsinnigkeit wäre der Weisheit entgegengesetzt?

Das gestand er.

Und daß einem nur eins entgegengesetzt wäre?

Das behaupte ich.

Welche von unseren beiden Behauptungen wollen wir also aufgeben? Die, daß einem nur eins entgegengesetzt ist, oder jene, als wir sagten, die Besonnenheit wäre etwas anderes als die Weisheit? Wie könnten beide Behauptungen auch zusammenklingen, wenn notwendig eines nur einem entgegengesetzt ist, . . . und sich doch wieder der Unsinnigkeit, welche eins ist, sowohl die Weisheit als die Besonnenheit entgegengesetzt zeigt? Ist es so, fragte ich, oder irgendwie anders?

Er mußte es zugeben, aber sehr ungern.

So wären diese als wohl eins, die Besonnenheit und die Weisheit?

Ich meine, wenn ein tüchtiger Kompilator den Gallimathias der Weltliteratur zu einer Blütenlese des Unsinns vereinigen wollte, so dürfte das vorstehende Bruchstück nicht fehlen. Soweit noch ein Rest von Verstandesarbeit in äußerster Verdünnung drin steckt, ginge er darauf aus, einen Gleichheitsbeweis aus Gegensätzlichem, eine Identität e contrario zu erbringen. Es gibt aber nichts Absurdes, was man nicht durch so durchsichtigen Betrug beweisen könnte, wenn der Andere stupid genug ist, auf jeden Leim zu kriechen, auf jedes Hexeneinmaleins hereinzufallen und nicht einmal die gröbste Eulenspiegelei zu durchschauen. Zum Beispiel: Der Mensch ist als sittliches Wesen dem Affen entgegengesetzt; der Mensch ist aber auch als Sterblicher einem unsterblichen olympischen Gott entgegengesetzt. Folglich? Folglich, – so schließt ein Idiot, und ein Trottel merkt den Trugschluß nicht, folglich ist der Affe gleich einem olympischen Gott, und Zeus ist ein Affe. Zeus klettert auf den Bäumen umher und klammert sich mit einem Wickelschwanz an die Äste. Ebenso Apollo. Und da der Mensch bekanntlich kein Frosch, ihm mithin entgegengesetzt ist, so ergibt sich e contrario die Identität: Apollo ist ein Frosch, er entwickelt sich aus der Kaulquappe und macht Brekekekex. Weiterer Schluß: der Affe ist ein Frosch, der Storch frißt Affen. Alles klar erweisbar nach der wunderbaren maieutischen Methode des Sokrates. Mich dünkt, ich hör' ein ganzes Chor von hunderttausend Narren sprechen.

Und da steht ein anderer gegenüber, der diese Schlüsse pagodenhaft kopfnickend mitmacht und billigt. Wohlverstanden, ein Grieche, der nicht einen Moment lang den richtigen Sachverhalt verkennen dürfte, da im Urdialog die Worte σοφια (sophia) als auf das »Wissen« gerichtet und σωφροσυνη (sophrosyne) als auf die Vorsicht im Leben gerichtet, sich noch schärfer gegeneinander abheben, als die Ausdrücke in der Verdeutschung. Tut nichts; der Gesprächsteilnehmer bleibt bei seinem J–a, J–a, und übertölpelt womöglich noch den Beweisführer.

Aber, halt! Wer ist denn eigentlich hier der Gesprächsteilnehmer? einer von den Mitläufern, von den nie widersprechenden Trabanten? wie wir oben, unter Betonung der Vorläufigkeit annahmen?

Nein! es ist Protagoras selbst, dem hier Plato diese erbärmliche Rolle zuweist; der Denker Protagoras, der, wie aus zahlreichen anderen Stellen der gleichnamigen Schrift hervorgeht, an Einsicht, Scharfsinn und Wortkunst den Sokrates hundertfach übertrifft! Beginnt es nun Licht zu werden? Dämmern müßte es wohl jedem, der sich nicht die siebenfache Binde um die Augen legt! Jener Blödheitsdialog ist nur ein Ausfluß der Formel, nach der Plato bewußt und klug arbeitet. Demzufolge stuft Plato die Torheiten seines Helden nach Gradunterschieden; und wo es gar zu toll wird, gibt er ihm als Partner keinen offenkundigen Dümmling wie Kriton oder wie Hippokrates, sondern einen Protagoras. Er legt ihm die Folie eines Bedeutenden unter, in der freundlichen Täuschungsabsicht: wenn sogar ein Selbstdenker wie Protagoras nicht nur mitgeht, sondern sich, seitenweis wedelnd, unterwirft, dann muß doch wohl die Beweisführung des Sokrates irgendwelche denkerische Qualitäten besitzen! Er, Plato, glaubt nicht an sie, durchschaut vielmehr die abgründige Oberflächlichkeit bis auf den Grund ihrer Hohlheit. Aber er hat es so oder so ähnlich aus dem Munde des Sokrates vernommen und will nicht unterschlagen. Er gibt den ungefähren Wortlaut, aber er salviert seine Seele: wenn ein Protagoras als Zustimmender dabei steht, dann wird wohl der Hochgrad der Dummheit nicht so ohne weiteres erkannt werden. Und dieser Trick hat tatsächlich seine Dienste geleistet, nicht nur gewirkt, sondern durch die Jahrhunderte durchgeschlagen. Jener Hochgrad des Blödsinns kam den Lesenden nicht zum Bewußtsein, dank der Magie des Plato.

Wer noch nicht die Gewißheit hat, dem sollte nun doch wenigstens der Verdacht nahetreten. Und in der Nähe dieses Verdachtes lese er folgende Auseinandersetzung: Thema probandum: Tugend und Tapferkeit. Protagoras verficht mit ausreichenden Gründen die an sich einleuchtende These, daß die Tapferkeit sich von den anderen Elementen der Tugend merklich unterscheide. Man fände nämlich viele Menschen, die sehr ungerecht, sehr ruchlos, sehr unverständig und sehr unbändig seien, die sich aber zweifellos sehr tapfer verhielten. Sokrates verficht eine andere These, nämlich die, daß auch in diesem Thema die ganze Philosophiererei dazu da ist, um für den Laien klare Dinge pseudowissenschaftlich zu verwirren. Er bekennt sich natürlich nicht ausdrücklich zu diesem Satz, aber er bietet sich als lebendes Paradigma für seinen Inhalt.

Sokrates: Ob etwa einiges an der Tugend schlecht ist und anderes schön? oder alles schön?

Protagoras: Alles durchaus im höchsten Maße schön.

Weißt du auch wohl, welche Leute dreist ins Wasser springen?

O ja, die Schwimmer (sagt Protagoras).

Weil sie es verstehen, oder aus einem anderen Grunde?

Weil sie es verstehen.

Und wer ficht im Kriege dreist zu Pferde? Die Reiter oder die Unberittenen?

Die Reiter.

Zwischenbemerkung: Wir erkennen sofort wieder die Methode der Einseifung. In Wirklichkeit würde ein so gerissener Debatter wie Protagoras gar nicht daran gedacht haben, solche Schaumschlägerei auf seinem Gesicht zu dulden. Aber er läßt sich's gefallen, weil's Plato so braucht, und der braucht es, weil sein klassischer Aujust ohne einen gefälligen Mitspieler eine gar zu traurige Figur machen würde.

. . . überhaupt, sagt Protagoras, sind auch in allen anderen Dingen, wenn du darauf hinaus willst, die Kundigen dreister als die Unkundigen.

Hast du auch schon solche gesehen, fragte ich (Sokrates), die aller dieser Dinge unkundig waren, und doch zu allem dreist?

O ja, sagte er, und sehr dreist.

Sind wohl diese Dreisten auch tapfer?

Dann wäre ja, sagte er, die Tapferkeit etwas sehr schlechtes, denn diese sind toll.

Was sagst du denn von den Tapfern, sprach ich; nicht, daß sie die Dreisten sind?

Auch jetzt noch, sagte er.

Aber diese, sprach ich, scheinen nicht tapfer zu sein, sondern toll? Und vorher dort, daß diese Weisesten auch die Dreistesten sind? Und wenn die Dreistesten auch die Tapfersten? . . .

Nicht richtig, sagte er, trägst du vor, Sokrates, was ich gesagt und dir geantwortet habe. Gefragt von dir, ob die Tapferen dreist wären, habe ich dies bejaht, ob aber die Dreisten auch tapfer sind, das wurde ich gar nicht gefragt. Denn wenn du mich das gefragt hättest, würde ich gesagt haben: nicht alle . . .

Folgt eine längere, sehr verständige Ausführung des Protagoras, die ihn, im Intermezzo sozusagen, als den Herrn der Lage kennzeichnet. Nach dieser Reverenz vor dem Überlegenen läßt Plato seinen Sokrates wieder Kapriolen machen. Ein weiterer Begriff, der der Feigherzigkeit, wird zum Jonglieren herangeholt; und aus dem Tanz der Pfauenfeder auf der Nase des Clown ergibt sich:

. . . .

Geht nicht der Tapfere, fragte ich (Sokrates), nach dem Schöneren, Besseren und Angenehmeren?

Notwendig, sagte er (Protagoras), muß man das annehmen.

Also überhaupt, wenn die Tapferen sich fürchten (!), ist dies keine schlechte Furcht, und wenn sie dreist sind, ist das keine schlechte Dreistigkeit?

Ganz recht, sagte er.

Und wenn nicht schlecht, ist dann beides nicht schön? Das gab er zu. (Aber Herr Plato! das wollten Sie der Welt einreden? Aber Frau Menschheit! das haben Sie sich einreden lassen?!)

Und wenn schön, auch gut?

Ja.

Werden also nicht im Gegenteil die Feigherzigen, Verwegenen und Tollkühnen sich mit einer schlechten Furcht fürchten und mit einer schlechten Dreistigkeit dreist sein?

Das gab er zu.

Und können sie wohl zu dem Schlechten und Bösen aus einer anderen Ursache dreist sein als aus Unkenntnis und Unverstand?

So muß es sich verhalten, sagte Protagoras.

Und wie? dasjenige, wodurch die Feigherzigen feig sind, nennst du Feigheit oder Tapferkeit? – fragte Sokrates.

Feigheit, versteht sich, sagte er.

Und haben wir nicht gesehen, daß sie eben durch die Unkenntnis dessen, was furchtbar ist, feigherzig sind?

Allerdings, sprach er.

Also durch diese Unkenntnis sind sie feige?

Er gab es zu.

Und wodurch sie feige sind, das ist, wie du eingeräumt hast, die Feigheit?

Er sagte: ja.

Also wäre ja wohl die Unkenntnis dessen, was furchtbar ist, und was nicht, Feigheit?

Er winkte zu.

Aber die Feigheit, sagte ich, ist doch der Tapferkeit entgegengesetzt?

Er bejahte es.

Nicht wahr, die Kenntnis dessen, was furchtbar und nicht furchtbar, ist ebenso der Gegensatz von der Unkenntnis dieser Dinge?

Auch hierbei winkte er zu.

Die Unkenntnis aber hiervon ist Feigheit?

Hier winkte er nur noch ganz schwach.

Ist nun nicht die Kenntnis dessen, was furchtbar und nicht furchtbar ist, Tapferkeit, und steht im Gegensatz zu der Unkenntnis davon?

Darauf wollte er mir nun nicht einmal mehr zuwinken, und schwieg ganz still.

So, Protagoras, sprach ich, du bejahst weder, noch verneinst du, was ich dich frage?

Bringe es nur allein zu Ende! sagte er.

. . . .

Der entzweigefragte Mann aus Abdera kann nicht mehr. Die Kräfte haben ihn verlassen, und er ist jenseits von Winken und Antworten beim Zusammenklappen angelangt. Lange genug hat er es ja ausgehalten, und neben der Standhaftigkeit werden wir auch seine Tapferkeit zu rühmen haben, nach der eben aufgestellten Definition; denn er befand sich in voller Kenntnis der Furchtbarkeit sokratischer Begriffsentwicklung. Auch Sokrates war, wie wir an anderer Stelle in Erinnerung an die Kämpfe von Potidäa und Delion feststellen, kein Feigling; am tapfersten allerdings da, wo er sich ins dichte Wortgewühl stürzte, um die Vernunft niederzumetzeln. Sollte das noch nicht erwiesen sein, so rate ich dem Zweifler dringend, solchen Dialog sich einige Mal mit lauter Stimme vorzulesen. Er wird dann höher als alles andere die engelhafte Geduld des Protagoras bestaunen und es nicht fassen, daß dieser so lange antwortete und winkte, anstatt dem lästigen Pojatz an die Gurgel zu springen. Eine Analyse solcher Ausführungen, in denen mit schlechter Furcht gefürchtet wird, ist schwierig. Man kann Fäden und Stricke entwirren, aber nicht Knoten aus Brei aufknüpfen. Zwei Falschschlüsse arbeiten da beständig in Verschlingung und Verklebung: das Stupidum, aus angeblichen Gegensätzen ein und desselben Gleichheit zu erfolgern; und das Stupidissimum, jede Umkehrung eines Obersatzes für erlaubt zu halten. Es kam wohl vor, daß bezahlte Sophisten sich solcher Falschheiten bedienten, um Überraschendes zu erschließen; dann geschah es in witziger Absicht, mit Geist und klarem Bewußtsein, gleichsam um die Hörer auf die in der Logik lauernden Fallen aufmerksam zu machen. Anders bei Sokrates; er selbst läuft von einer Falle zur andern, läßt sich in jeder fangen und kommt aus jeder mit abgebissener Würde heraus. Er, der Sophistentöter, ist in Wirklichkeit der einzige Sophist in der übelsten Bedeutung des Wortes, der Nichtsalssophist, dessen gesamtes Handwerkszeug aus ermüdenden und irreführenden Plattheiten besteht. Der letzte, der einfältigste Sklave würde sich gegen die Zumutung gesträubt haben, wenn man ihm etwa gesagt hätte: Jeder Sackträger vom Piräus ist ein Mensch; folglich ist jeder Mensch ein Sackträger vom Piräus. Ihm wäre sofort irgendein Vornehmer eingefallen, er hätte sich vergegenwärtigt, daß Perikles niemals im Piräus Säcke getragen, und mit Hohngelächter, vielleicht mit Handgreiflichkeit, hätte er jene Blödheit von sich gewiesen. Protagoras verfährt im gleichen Falle höflicher; mit aller Schonung stellt er fest: Nicht richtig trägst du vor, Sokrates! . . . gefragt, ob die Tapferen dreist wären, habe ich dies bejaht; aber auf die Frage, ob die Dreisten auch tapfer sind, würde ich gesagt haben: nicht alle.

Der Sophist von Abdera weiß ganz genau, daß bei der glatten Umstülpung einer Allgemeinheit ein Unsinn herauskommen muß, wenn nicht dem »jeder« im Obersatz die Einschränkung folgt: »Einige«. Jede Eule ist ein Vogel – einige Vögel sind Eulen; nicht alle Vögel sind Eulen. Aber soweit reicht das Unterscheidungsvermögen des Sokrates nicht, der aus seiner Zirkuslogik niemals herauskann.

Wie stellt es nun Plato an, um auch hier zum Schluß seinen Liebling zu retten? Das verlohnt wohl einer besonderen Betrachtung.

Im Hauptpunkt steht die Frage, ob die Tugend lehrbar sei, vornehmlich in Ansehung der Tüchtigkeit für die Staatskunst. Die Tugend, lehrbar oder nicht, bildet Stern und Kern des Redeturniers, das wir einmal, der bildlichen Anschauung wegen, mit einem Schachkampf vergleichen wollen.

Stellen wir uns vor, Sokrates wäre mit den weißen Steinen im Anzuge. Sein Gegner, Protagoras, mit Schwarz, geht aus anfänglicher Verteidigung zur Offensive über, entwickelt sein Spiel, schlägt weiße Figuren aus dem Feld und steht ersichtlich auf Gewinn. Nun könnte ja Schwarz im weiteren Verlauf einen groben Fehler begehen und sich dadurch den sicheren Sieg entwinden lassen. Das ist aber aus inneren Gründen unmöglich. Deshalb verfährt Plato radikaler:

Er dreht einfach mitten im Spiel das Brett um!

So kommt Sokrates auf die Gewinnseite und geht mit allen Ehren aus der Partie hervor. Mit anderen Worten: er verficht und beweist weiterhin bis zum Schluß das genaue Gegenteil dessen, was er ursprünglich zu beweisen unternommen hatte.

Der Vergleich stimmt freilich nicht ganz. Denn Protagoras hütet sich selbstverständlich, die verlorene Weiß-Seite zu übernehmen. Diese bleibt vielmehr unbesetzt, und Sokrates spielt die Gewinnpartie zu Ende, als ob irgendein namenloser Kiebitz die Verlustseite übernommen hätte.

Sokrates tritt nämlich ursprünglich mit der Behauptung in die Arena: die Tugend sei nicht lehrbar. Hier wie in vielen anderen Fällen stellen ihn die ganz Standfesten als den großen Strategen hin, der den Feind auf Umwegen dahin zu locken versteht, wohin er ihn haben will; während der Zusammenhang immer nur zwei Möglichkeiten ergibt: entweder irrlichterierende Planlosigkeit im Uferlosen, oder das Verhängnis des Strategen, sich selbst in Sackgassen zu verrennen, wo es überhaupt mit natürlichen Dingen nicht weiter geht. Hier liegt nun die Sache besonders verzwickt: Im Anfang entwickelt Sokrates seine Behauptung ausführlich, hausbacken, auf Einzelfälle gestützt, aber nicht direkt ungeschickt. Jedenfalls wird der Refrain, die Nichtlehrbarkeit, mehrfach wiederholt und so betont, daß die Grundmeinung feststeht. Allein die Volte, die Brettumkehrung wird schon sanft vorbereitet: . . .

Sokrates: . . . Nicht nur das versammelte Volk denkt so, sondern auch unsere verständigsten und vortrefflichsten Mitbürger sind nicht im Stande, diese Tugend, welche sie besitzen, andern mitzuteilen . . . (Beispiel: Perikles) . . . Und so kann ich dir sehr viele andere nennen, welche, selbst vortreffliche Männer, dennoch niemals einen besser gemacht haben, weder von ihren Angehörigen, noch sonst. Ich also, meines Teils, Protagoras, halte hierauf Rücksicht nehmend nicht dafür, die Tugend sei lehrbar. Nun ich aber dich dies behaupten höre, werde ich in meiner Ansicht wankend . . . kannst du mir also deutlicher beweisen, daß die Tugend lehrbar ist, so schlage mir das nicht ab, sondern zeige es mir.

Man könnte das für höfliche Ironie nehmen; komm auf mich zu, Protagoras, mit deinem berühmten Vortrag, daß ich ihn Zug für Zug widerlege und um so heller erstrahle, je bedeutender ich dich als Gegner zuvor anerkannte! Ansicht steht gegen Ansicht, und hier müßte sich doch bei der Haupt- und Grundfrage das pythische Orakel bewähren, das den Sokrates als den weisesten aller Sterblichen verkündete. Allein es kommt anders. Protagoras überrennt ihn im Anlauf mit einer schönen und meisterhaften Erzählung vom Prometheus, dem Vordenker, und Epimetheus, dem Nachdenker. Man kennt die Lage des Parlamentariers, der einen blamablen Antrag eingebracht hat und merkt, daß die Sache schief geht. Wenn es zur Abstimmung kommt, stimmt er mit der Majorität gegen seinen eigenen Antrag und vermeidet so wenigstens die äußerste Blamage; denn wer mit der siegenden Mehrheit geht, der siegt eben mit, wenn auch gegen sich selbst. Diese Rolle übersetzt Sokrates aus dem Parlamentarischen ins Philosophische: er schlägt sich zur stärkeren Partei des Gegners, siegt mit dem Sieger und stimmt gegen seine eigene These, der er zum Abschied noch einen Fußtritt versetzt:

Sokrates: Der jetzige Ausgang des Gespräches scheint mir ordentlich wie ein Mensch uns anzuklagen und auszulachen, und wenn er reden könnte, sagen zu wollen: Ihr seid wunderliche Leute, Sokrates und Protagoras! Du, der du im vorigen behauptetest, die Tugend sei nicht lehrbar, dringst jetzt auf das, was dir zuwider ist, indem du zu zeigen suchst, daß alles (erlernbare) Erkenntnis ist, die Gerechtigkeit, die Besonnenheit und die Tapferkeit, auf welche Weise denn die Tugend am sichersten als lehrbar erscheinen würde . . . Protagoras wiederum, der damals annahm, sie sei lehrbar, scheint jetzt das Gegenteil zu verfechten . . .

Auch hier noch einmal Spiegelfechterei und Rückzugskanonade. Protagoras war durchaus beim Programm geblieben und hatte nur aufgehört zu debattieren, nachdem ihm der Ekel hochgestiegen war. Und er konnte damit aufhören, da Sokrates ihm schon vorher den vollen Erfolg bescheinigt hatte.

Sokrates: . . . Daß eine ohne Erkenntnis verfehlte Handlung aus Unverstand so verrichtet wird, wißt ihr (die Leute) wohl selbst, so daß also dieses Zuschwachsein gegen die Lust der größte Unverstand ist; und hiergegen bietet sich dieser Protagoras als Arzt an, auch Prodikos und Hippias (Teilnehmer der Konferenz bei Kallias). Weil ihr (die Leute) aber meint, es sei etwas anderes als Unverstand, so geht ihr weder selbst zu diesen Lehrern hierin, den Sophisten, noch schickt ihr eure Söhne zu ihnen, als ob es nicht lehrbar wäre (!). Daß ihr aber euer Geld so heget und es diesen nicht gebt, daran handelt ihr schlecht als Hausväter und Staatsbürger. Dieses würden wir den Leuten geantwortet haben.

Soll das am Ende auch noch Ironie sein? Nicht doch! so weit treibt selbst ein Konfusionarius wie Sokrates nicht die Verzwicktheit. Es ist vielmehr die volle Anerkennung der Sophisten und ihres Lehrkursus, mit dessen Ergebnis ja Sokrates selbst unter tapferer Niederstimmung seines eigenen Antrags paradieren will.

Wie aber steht er jetzt da? Hier sagt er den Leuten: honoriert die Sophisten, um bei ihnen Weisheit und Tugend zu lernen, während er die nämlichen Lehrer beim Morgengrauen desselben Tags aufs äußerste verdächtigt hatte. Da hieß es: daß nur nicht der Sophist uns, lieber Freund, durch Anpreisung seiner Waren betrügt, wie Kaufleute und Krämer mit den Nahrungsmitteln; denn auch diese verstehen selbst nicht, was wohl von den Waren, die sie führen, dem Körper heilsam oder schädlich ist, loben aber alles, wenn sie es feil haben. Diese Verdächtigung hat er aufgegeben, bis er sich schließlich wieder auf seine alten Bocksprünge besinnt und seinem nunmehr Gutfreund Protagoras nach echter Clownsitte eine Ohrfeige hauen will. Sie sitzt nicht, sie klatscht nicht, aber die Geste kommt doch heraus: in der oben zitierten Bajazzo-Szene, die Protagoras zu dem resignierenden Ausruf veranlaßt: »Bringe es nur allein zu Ende!«

Selbst der Meisterhand eines Plato scheint es kaum zu gelingen, den arg verfahrenen Karren aus dem Dreck zu ziehen. Knapp zwei Seiten vor Schriftschluß überstürzt sich der Held noch mit einem Fragekoller in einem wahren Delirando der Idioterei. Aber Plato deichselt die Geschichte doch noch. Er dreht sie auf einen versöhnlichen Schluß mit Tusch und Apotheose, indem er die ungleichen Wettbewerber zu einer Sozietät verbindet. Der vornehme Protagoras vergißt die ausgestandene Tortur und stimmt einen lauten Lobeshymnus auf Sokrates an. In der neuzeitlichen Posse nennt man das: »Schluß mit Gesang«. Und die Hauptsache bleibt, daß die nachfahrenden Geschlechter den Sokrates für die Krone der Weltweisheit hinnehmen, sintemalen doch selbst ein so gewaltiger Kämpe wie der Sophist von Abdera ihm schließlich den Lorbeer reicht; was also Plato allen Schwierigkeiten zum Trotz ganz vorzüglich gemogelt oder akademisch ausgedrückt, mit den feinsten Mitteln satirischer Dialektik entwickelt hat.

Es wäre aber schade, sich von dieser Szene zu trennen, ohne ihres Einganges zu gedenken: als die beiden Herren zu nachtschlafender Zeit die Konferenz im Hause des Kallias mitmachen wollen, geraten sie an einen sehr groben Pförtner, einen Verschnittenen, der verdrießlich öffnet und beim Anblick der Eindringlinge die Tür wieder barsch zuschlägt. Nur mit Not und Mühe setzen Sokrates und sein Begleiter ihren Willen durch. Wir dürfen annehmen, daß dieser simple Türsteher das kommende Unheil geahnt hat und bemüht war, den bedrohten Menschenverstand zu retten. Kein Lied, kein Heldenbuch meldet seinen Namen. Aber als Anonymus soll er unserem Gedenken teuer bleiben. Wie Xanthippe als keifende Hausfrau, so gehört auch der verschnittene Portier als antisokratisch gerichtet zu den erfreulichsten Erscheinungen jener Epoche.

 


 


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