Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Flecken auf der Sonne

Wir sind es so sehr gewöhnt, Fragen des Verstandes mit denen der Moral zu verquicken, daß wir auch im Falle Sokrates nicht umhin können werden, dem alten Hange nachzugeben. Sollte der Weltweise von Athen am Ende Flecke auf der Führungsliste besitzen? Und sollten ferner diese Flecken mit den Trübungen im Verstande in ursächlichem Zusammenhange stehen? Aber das ist ja gar nicht möglich! tönt es von allen Kathedern. Denn bei den Inhabern der Lehrkanzeln läßt sich vielleicht vom Philosophen Sokrates eine Kleinigkeit abhandeln, nimmermehr aber vom gleichnamigen Tugendmenschen. Immerhin werden wir an einzelnen Zügen seines Charakters nicht vorbei können, an Zügen, die man vernachlässigen könnte, wenn wir sie bei einem wirklichen Denker anträfen, nicht aber bei einem, in dem wir neben den sieben Weisen den hervorragendsten Unweisen Griechenlands erkennen werden.

Erstlich: Sokrates soff. Das war menschlich genommen sein gutes Recht, wird auch von seinen Lobrednern nicht verschwiegen. Nur gehörte er nicht zu den starken Naturen, die im Weine die Wahrheit finden, sondern zu den Armen im Geiste, denen der Wein die letzten Reste der Denkmöglichkeit hinwegspült. Daß Sokrates bei Gelegenheit ein strenger Zecher gewesen sei, bemerkt Wieland in einer versteckten Notiz, das erhellt aus verschiedenen Stellen des platonischen Symposion: »So rühmt es ihm zum Beispiel Agathon, der Wirt in diesem berühmten Gastmahl, als keinen geringen Vorzug vor den übrigen Anwesenden nach, daß er den Wein besser vertragen könne als die stärksten Trinker unter ihnen; und der junge Alcibiades, da er, um die Gesellschaft zum Trinken einzuladen, dem Sokrates einen großen Becher voll Wein zubringt, setzt hinzu: »Gegen den Sokrates, meine Herren, wird mir dieser Pfiff nichts helfen: denn er trinkt soviel als man will, und ist doch in seinem Leben nie betrunken gewesen – – –.« Auch leerte Sokrates den vollgeschenkten Becher nicht nur rein aus, sondern nachdem auf eine ziemlich lange Pause das Trinken wegen einiger noch von ungefähr hinzugekommenen Bacchusbrüder von neuem angegangen war, und unter mehreren anderen, die es nicht länger aushalten konnten, auch Aristodemus sich in irgend einen Winkel zurückgezogen hatte und eingeschlafen war, fand dieser, als er um Tagesanbruch wieder erwachte und ins Tafelzimmer zurückkehrte, daß alle anderen weggegangen und nur Agathon, Aristophanes und Sokrates allein noch auf waren und aus einem großen Becher tranken. Sokrates dialogierte noch immer mit ihnen fort und fühlte sich durch allen Wein, den er die ganze Nacht zu sich genommen hatte, so wenig verändert, daß er, als es Tag geworden war, mit besagtem Aristodemus ins Lyceon baden ging und, nachdem er den ganzen Tag nach seiner gewöhnlichen Weise zugebracht, erst gegen Abend sich nach Hause zur Ruhe begab. – Ein Zug seines Temperaments, der bei Schätzung seines sittlichen Charakters nicht außer Acht zu lassen ist. Denn mit einem solchen Temperamente kann es bei einem einmal festgesetzten Vorsatz eben nicht sehr schwer sein, immer Herr seiner Leidenschaft zu bleiben.« Danach käme zugunsten der sittlichen Persönlichkeit gar noch ein Benefizium heraus. Nur daß das alles eben durch die Brille Platos gesehen ist, und zwar durch die Brille, nicht wie er sie aufhatte, sondern wie er sie der Mit- und Nachwelt aufsetzte, und zwar in der einen Absicht, seinen Helden, den er als Geist ironisierte, wenigstens als Charakter zu verklären. So kommt denn in dem unaufhörlichen Gezeche ein Bild der Standhaftigkeit zum Vorschein, während wir in der Wirkung der Weindünste ungezwungener einen weiteren Erklärungsgrund für die Sokratische Philosophasterei finden können; nur einen ergänzenden, nicht etwa den einzigen, denn die Grundanlage des Sokrates, seine Gehirnschwäche, würde auch in nüchternem Zustand genügend erkennbar bleiben. Aber gewisse Symptome werden doch noch klarer, wenn man ein ansehnliches Maß von Alkoholisierung einrechnet, vor allem jenes eigensinnige, mit der Echolalie verwandte Gebaren, das an gewisse Zwangszustände der Gewohnheitssäufer erinnert; das unablässige Wiederholen einzelner Worte, das ewige Hinundherschwenken abgerissener Gesprächsfetzen, das unheimliche Durcheinanderwirbeln dunkler Begriffe, die in seinem Gesichtskreis eine ähnliche Rolle spielen, wie die Mäuse im Sehfelde eines Deliranten. Es mag sein, daß ihn Alcibiades nie eigentlich betrunken gesehen hat, aber vielleicht auch nie eigentlich nüchtern, wenn man unter Nüchternheit den geistigen Normalzustand eines Denkers versteht. Faßt man aber die Trunkenheit in dichterischem Sinne als den holden Wahnsinn, der die Schläfe umspielt, so kann man glauben, daß Sokrates selbst dann, wenn er mit Wein vollgepumpt war, das Bild eines durchaus »nüchternen«, das heißt trockenen, von keinerlei Schwung getragenen Sprechpedanten geboten haben muß.

In gewissem Abstande davon mag erwähnt werden, daß in jenem Symposion neben Bacchus auch Venus und ihre Abarten recht ausführlich zu Worte kommen, und jedenfalls eindringlicher als Minerva und Apollo. Das ganze berühmte Gastmahl soll ja im wesentlichen ein Gespräch über die Liebe sein, und es gehört schon ein hoher Grad von humanistischer Gefühlsduselei dazu, um die Liebe, wie sie hier traktiert wird, als eine platonische zu betrachten. Den um den Agathon herum Saufenden standen andere Erscheinungsformen näher, und nach rein ätherischen Gefühlsflügen mag ihnen ja kaum zu Sinn gewesen sein, nachdem sie alle überein gekommen waren, »es bei ihren diesmaligen Zusammensein nicht auf den Rausch anzulegen, sondern nur so zu trinken, zum Vergnügen«; woraus man schließen kann, daß bei anderen philosophischen Zusammenkünften die Besoffenheit als Hauptpunkt auf der Tagesordnung stand. Der Kommentator Dr. Oberbreyer bemerkt zu jenen platonischen Programmzeilen: »Das heißt also: Da sämtliche anwesenden Herren noch vom vorigen Tage einen ziemlich bedeutenden Kater haben, wird beschlossen, für diesen Abend keinen regulären Saufkomment mit obligatem Vor- und Nachtrinken zu veranstalten.« Ob nun solche Mahnung zum regellosen Gesöff wirklich das geeignete Präludium zum Hohelied der Liebe darzustellen vermöge, mag dahinstehen. Tatsache ist, daß die ohne Saufkomment, d. h. mit undisziplinierter Saufgier pokulierenden Herrschaften schnell genug bei einem Liebesthema anlangen, das aus dem Altgriechischen ins Neudeutsche übersetzt unter einem sehr bekannten und vielerörterten Strafparagraphen fällt. Ihre alkoholische Stimmung erzeugt orgiastische Bilder aus dem Phantasiebereich der Homosexuellen. »Ich meines Teiles« – hier wird die Ansicht des Phädros wiedergegeben – »weiß wenigstens nicht zu sagen, was für ein größeres Gut es gibt, gleich in der ersten Jugend, als ein wohlmeinender Liebhaber, oder für den Liebhaber ein Lieblingsknabe. Denn was diejenigen in ihrem ganzen Leben leiten müssen, welche schön und recht leben wollen, dies vermag weder die Verwandtschaft ihnen so vollkommen zuzuwenden, noch das Ansehen, noch der Reichtum, noch sonst irgend etwas als die Liebe . . . . Ich behaupte nämlich, daß einem Manne, welcher liebt, wenn er bei etwas Schändlichem betroffen würde, das er täte, oder aus Feigheit sich nicht wehrte, es nicht so schmerzlich sein würde, von seinem Vater gesehen zu werden oder von seinen Freunden oder von sonst irgend jemand, als von seinem Lieblingsknaben. Könnte man also irgend bewirken, daß ein Staat oder ein Heer aus Liebhabern und Lieblingen bestände, so wäre es ja unmöglich, beides besser zu verwalten, als dadurch, daß sie sich alles Schändlichen enthielten und gegenseitig mit einander wetteiferten.« Die Erklärer haben ja an solchen Stellen lange genug herumgewürgt, bis sie auch aus ihnen eine schöne und erbauliche »Idealität« heraustüftelten, und es läßt sich nicht leugnen, daß die Herren Platoniker ihnen dies Geschäft recht sauer gemacht haben; zumal sie gar nicht an diesen zukünftigen Heiligenschein dachten, sondern ganz naiv, ebenfalls im »Gastmahl« bekannten, daß bei Männern zu liegen und sich mit ihnen zu umschlingen, gewisse Knaben ergötzt: »und dies sind die trefflichsten unter den Knaben und heranwachsenden Jünglingen, weil sie ja die männlichsten von Natur sind«. Im Phädros vollends wird die Knabenliebe in persönlicher Teilnahme mit einer Ausführlichkeit und Eindringlichkeit behandelt, die einen in allen Lastern gebadeten Kriegsknecht erröten machen könnten. Und Sokrates selbst erweist sich in der Behandlung des Themas als so beredt und so sachkundig, daß seine Meisterschaft auf diesem Gebiet jedem Zweifel entrückt wird. Einen Vorwurf indes wird man diesen Herrschaften sicherlich erlassen müssen: den der Einseitigkeit. Ihre Aphrodite und ihr Eros hatten immer mehrere Eisen im Feuer, und sie selbst gingen dem Ewigweiblichen nicht aus dem Wege. Auch Sokrates nicht, trotz seiner Alcibiadischen Freundschaften. Ganz abgesehen von seinem Haussegen Xanthippe ragten Aspasia, Theodore und andere leichte Damen in sein Leben hinein, und wir haben Grund zu der Annahme, daß er sich mit derlei Prüfsteinen für das »Schöne und Gute« intensiver beschäftigt hat, als später etwa ein Spinoza oder ein Kant. Ein mir persönlich sehr nahestehender Autor hat jene Beziehung im Anschluß an ein Wort von Börne so dargestellt:

Weshalb schlich er zu jener verstohlen?
Die üble Antwort, ich kenne sie:
Er wollte sich bei Aspasia erholen
Von allen Strapazen der Philosophie.

Doch meine Antwort ist sicherlich schöner
Und steht auch fester begründet da:
Beim Philosophieren hat sich jener
Erholt von der schönen Aspasia.

Mit der Frage nach seiner intellektuellen Höhe oder Niedrigkeit berühren sich selbstredend weder seine Aspasischen, noch seine Alcibiadischen Neigungen. Wohl aber können diese in Betracht gezogen werden zur Würdigung seiner sittlichen Persönlichkeit, die ja in unserem Zusammenhang einen wichtigen Faktor darstellt; da ja ohne diesen Faktor der ganze Altarbau des Plato für Sokrates den letzten Rest der Verständlichkeit verlieren würde. Wir müssen also davon absehen, daß dieses Pendeln zwischen weiblich und männlich unserem neuzeitlichen Geschmack wenig entspricht, daß wir uns einen Sittlichkeitsmann anders vorstellen, ja, daß wir mit einem Herrn von solcher Doppel-Orientierung überhaupt nicht verkehren würden. Allein, nichts ist wandelbarer in Zeit, Ort und Klima als die ethische Wertung, und so müssen wir wohl glauben, daß Sokrates in den Augen Platos ganz untadelhaft dastand. Wahrscheinlich auch in den Augen der großen Kurtisanen seiner Zeit, als welche, im Banne ihrer Eitelkeit befangen, sie sich einseitig von der Berühmtheit betäuben ließen und sonach in einem von Plato Gefeierten einen Gott erblickten. Eine wirkliche Kritik, eine solche, die auch vor der Nachwelt bestehen kann, scheint ja Sokrates, außer von Aristophanes, nur von seiner Eheliebsten erfahren zu haben, von jener Unholdin, die erst in unseren Tagen durch Fritz Mauthner in einem entzückenden, auf ihren Namen getauften Roman zu einer Huldin umgedichtet wurde. Das Grundthema der Mauthnerschen Transskription lautet: Auch Iphigenie hätte für uns die Bedeutung der Xanthippe gewonnen, wenn sie zufällig in das Unglück geraten wäre, Frau Sokrates zu werden. Zu bedauern bleibt nur, daß die schimpfende Xanthippe nicht schon zu Lebzeiten einen nachschreibenden und verewigenden Plato gefunden hat. Eine getreue Niederschrift ihres Gekeifes wäre wahrscheinlich die sachdienlichste Beurteilung seines unaushaltbaren Geschwätzes geworden. Mag sein, daß Xanthippe ihre Hauslogik etwas kratzbürstig herauskehrte, aber Logik muß es doch wohl gewesen sein, da es sich in der Bekämpfung der Sokratischen Gedankenflucht äußerte.

 


 


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