Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Kunst und Distanz

Es gibt keinen Wert ohne Gegenwert und keine Rechnung ohne Gegenrechnung. Jede Größe, jede Errungenschaft zerstört ein Äquivalentes, jede neue Kunstform entwertet eine alte, jeder neue Bewußtseinsinhalt läßt einen alten versinken, und jeder Kulturfortschritt muß sich mit einem Verlust bezahlt machen. Gegen keinen Wert wüten Kultur und Technik so grausam und hartnäckig als gegen die Distanz. Sie eröffnen die Kontinente, erschließen die Wälder, nivellieren die Höhen, überbrücken die Meere, lassen das Weltgebilde zusammenschrumpfen. Auf den Linien Herodots schreibt der unter der Firma von Cook Brothers schlendernde Tourist seine Ansichtskarten, zwischen den Ufern der Fabelländer, die Ulysses befuhr, verkehren die Luxusdampfer. In der Zeit, die Goethe brauchte, um von Trient bis Padua zu gelangen, kommt man heut von Paris bis Peking, in sechs Wochen um die ganze Welt. Die Erde wird nicht bloß astronomisch klein vorgestellt, sondern direkt als klein wahrgenommen. Alle Sprachgrenzen werden vom Esperanto überflogen. Über tausend Kilometer hinweg fliegt in der telephonischen Unterhaltung der neueste Witz, in Budapest erzählt, in Berlin belacht. Wo noch vor fünfzig Jahren auf den Schulatlanten große weiße Flecke mit dem Querdruck »Unerforscht« zu sehen waren, werden heute Personenzüge abgefertigt, militärische Exerzitien nach europäischem Kommando geübt, Verbotstafeln aufgestellt, Rapporte nach London und Brüssel telegraphiert. Der Enkel des Kleinbürgers, dem seine Provinz die Welt bedeutete, macht seine Hochzeitsreise nach Indien oder Florida. Zwei einsame Punkte waren bis in unsere Tage als unberührte Symbole der Distanz übriggeblieben. Der eine von ihnen verkündet bereits mit hochgezogener Fahne den Verlust seiner Jungfräulichkeit; und wenn uns der Südpol vorläufig noch als geheimnisvoller, unerreichbarer Punkt vorschwebt, so interessiert uns das sportliche Problem stärker als das geographische. Gelangen wir über kurz oder lang dahin, so wird alle Sensation der Angelegenheit auf der Seite des Technischen liegen und durch den Triumph der starren über die halbstarre Flugmaschine, oder umgekehrt, bezeichnet werden.

 

Mit der Distanz zugleich verschwindet das Exotische, die Phantastik des Fernen und Märchenhaften. Die nivellierende Dampfwalze geht über Sitte, Religion, Tracht, über alles Typische und Spezielle. Der Bankdirektor, der vom Bureau weg aus dringender Veranlassung mit dem Expreß nach Rom oder Konstantinopel eilt, ohne sich erst persönlich von seiner Familie zu verabschieden, findet dort Herrschaften, die seine Sprache reden, seine Anzüge tragen, seine Gedanken mitdenken, zu seiner gewohnten Stunde sein gewohntes Diner verzehren. Der spanische Hidalgo promeniert im Zylinder, der neapolitanische Kutscher versteht Deutsch, die venezianische Gondel verliert ihre Form und gewinnt den Benzinmotor, die athenische Nachfolgerin der Aspasia wie die Zirkassierin hinter Haremsgittern läßt bei Paquin arbeiten und liest Maupassant; der japanische Kriegsmann hat in einem europäischen Regiment gedient, der Sproß aus der verflossenen Taipingdynastie verkehrt in den Tango- und Foxtrottsälen. Das eine Wort »Bagdadbahn« redet ganze Bände voller Traueroden über verklungene Romantik des Orients. Der Araber geht von den Irrungen der tausend Märchen zur parlamentarischen Tagesordnung über, der Perser von den Gesängen seines Firdusi zu den Berichten seiner Budgetkommission. Der Präfekt von Stambul plant schnurgerade Avenuen durch das Gewirr der Basare, um das Straßenbild von Byzanz dem von Charlottenburg und Mannheim zu nähern. Über der Schmiedeesse im Vesuv glänzt das Sternchen Bädekers, und über dem Herdfeuer des Vulkans kocht der Pächter des Berges das Lunch à prix fixe. Ein ganz gefährlicher und raffinierter Emotionsräuber von immenser Praxis ist der Kinematograph, denn er versteht es, seine Technik zur Illusion zu verkleiden: er wendet keine rohe Kraft beim Einbruch an, sondern bestiehlt die Exotik mit ihrem eigenen Tresorschlüssel.

Schon heute verlohnt es sich kaum noch, der Exotik wegen irgendwohin ins Weite zu reisen. Man findet nicht nur, unerfreulich genug, sich selbst wieder, nicht nur seine Bekannten, was ebenso fatal ist, nein, auch das angeblich Fremde erscheint als Abklatsch der Heimat; vielleicht ein bißchen anders koloriert, aber wesentlich mit denselben Konturen. Und was das Schlimmste ist: nicht nur die Distanz selbst, auch die Freude an der Distanz ist verloren. Trifft der Reisende wirklich einmal eine Divergenz, die ihm die Entfernung kräftig fühlbar macht, dann wird er je nach Eigenart ärgerlich oder melancholisch, er bekommt es mit dem Heimweh zu tun und beklagt sich beim Gesandten.

 

Auch der Reiz des Märchens beginnt zu verblassen. Elfen und Gnomen, verzauberte Prinzessinnen und verwunschene Prinzen finden selbst in der Kinderwelt nicht mehr die mächtige bis ins Mannesalter hineinreichende Resonanz wie vordem. Schneewittchen ist von Buffalo Bill überritten, Kleindäumling vom Detektiv verdunkelt. Schon dem Kinde ist heut eine Erfindung lieber als etwas Erfundenes, und als Weihnachtsgeschenk erregt ein Spielzeug, das sich auf die Phantasie verläßt, lange nicht so viel Freude als eine Sache mit Elektrizität. Der beabsichtigte Rückfall in Kindheit und Narrheit, wie ihn der Karneval darstellt, wird immer seltener und widerwilliger exekutiert, ist in nordischen, wissenschaftlichen Ländern schon gänzlich von der Verstandesklarheit überwunden. Um Gotteswillen bloß nichts, was die Einbildungskraft zur Mitarbeit heranzieht.

Edgar Poe hat schon vor siebzig Jahren die Wunder von Tausendundeiner Nacht durch die Errungenschaften der modernen Technik ad absurdum geführt. Heute muß auch Poes Skizze schon zum alten Eisen geworfen werden. Wer in hundert Jahren die Erzählungen der Scheherazade liest, wird kaum noch die Romantik des Morgenlandes spüren, und zwei Drittel aller Märchenmagie im arabischen Mythus werden ihm vor den Tatwundern seiner Zeit als dilettantische Versuche erscheinen. Das holde Spiel mit utopischen Gebilden muß in der Modernität versagen, die an die Unmöglichkeit weit stärkere Probleme stellt und sie praktisch überwindet.

Das romantische Gefühl der großartigen Natur gegenüber scheint ja freilich noch in Blüte zu stehen. Und in der Tat, der letzte Rest des Distanzbewußtseins hat sich in dies Gefühl geflüchtet. Wo sich in einem starken Geiste die ahnende Vorstellung dem sehnsüchtigen und vergeblichen Verlangen gesellt, da erreicht dieses Gefühl den Höhepunkt. So wurde Schiller im Tell der eloquenteste Sänger der Höhenwelt, er, der von ihren Wundern zeitlebens abgetrennt die größte Distanz zu ihnen hatte. Die dritte Dimension in der Erhebung gewaltiger Gebirgsmassen ist als ausdrucks- und eindrucksvolles Moment dem Menschen relativ sehr spät aufgefallen. Die ganze Bergromantik ist höchstens zweihundert Jahre alt und tritt in der Zeit vor Rousseau jedenfalls nur in verschwindenden Andeutungen auf. Alle früheren Reisebeschreibungen feiern nur die Ebene und deuten auf Felsgipfel und Gletscher im besten Fall als auf etwas Gleichgültiges, in der Regel als auf Widriges, jedenfalls zu Vermeidendes. Was die Bergromantik für die Emotion in kurzer Zeit geworden ist und noch heute bedeutet, will ich gewiß nicht unterschätzen; ich selbst bekenne mich mit aller Leidenschaft zu ihr. Aber auch hier nagt die Technik bereits recht bedenklich an der Distanz der Höhe. Jede Zahnrad- und Drahtseilbahn, jede Unterkunftshütte und jedes in Gletschernähe prunkende Hotel, jeder Tunneldurchstich und jedes Telephon in unwirtlicher Lage unterwühlen die Distanzempfindung und drücken auf die Emotion. Der hohe Aussichtspunkt, auf dem zwischen Frühkonzert und five o'clock telephoniert wird, liegt ästhetisch genommen schon im Niveau des Meeresspiegels. Das Schreckhorn bewältigen hat keinen rechten Sinn mehr, wenn dicht daneben die Jungfrau dem eiligen Touristen mit Fahrplan und gedrucktem Preistarif ihre Reize zur Verfügung stellt. Der rüstige Naturfreund, der auf dem alten Fußpfade neben den Bergbahnen einherzieht, kommt nicht mehr zum Hochgefühl der Wanderlust. Der Gedanke, daß er seine Zeit verliert, die Sohlen zerreißt und dafür zehn Franken Fahrgeld spart, steht im Vordergrunde. Heut tragen die Kulturnationen in unabsehbarem Touristenstrom 300 Millionen Franken jährlich nach der Schweiz. Aber der emotionelle Gegenwert, den sie heimbringen, ist wahrscheinlich sehr viel geringer als zur Zeit der ersten Niederwerfung des Matterhorns. Auch hier wirkt die Nivellierung gegen die Emotion, und so sicher wie die Gebirgswasser durch Erosion alles Gebirge Meter auf Meter abwaschen, trägt auch die Kultur von der Gebirgsromantik Stück auf Stück davon ins Uferlose.

 

Es gälte ein Buch für sich zu schreiben, wenn ich diese Studie auch auf die Tiefste der Emotionen, auf die Liebe, ausdehnen wollte. Ich zweifle auch daran, daß es mit den mir verfügbaren darstellenden und betrachtenden Mitteln gelingen kann, hier zu einem glaubhaften Beweise zu gelangen. Ich möchte deshalb statt eines Beweises nur die subjektive Überzeugung aussprechen, daß auch sie bereits anders gearteten, vorwiegend materiellen Interessen ihren Tribut gezahlt hat. Nicht bezüglich ihrer sinnlichen Intensität, aber in Ansehung ihrer Farbigkeit, ihres Hinüberspielens ins Mystische, Überweltliche, in ihrem Zusammenhang mit religiöser und künstlerischer Offenbarung. Emanzipation, Berufstätigkeit und Berufssorge, neuzeitliche, durch den Mutterschrei betonte Pflicht zur Fortpflanzung, neuerdings dazu ausgedehnte soziale und politische Tätigkeit verweisen die Frau mit ungalanten Befehlen auf Gebiete, in denen der Venus Amathusia nicht mehr um ihrer selbst willen gehuldigt wird. Die heroische Liebe rückt wie die heroische Männerfreundschaft immer weiter aus dem Sehfelde der Gegenwart und weckt nicht mehr das Weltecho der Künstlerschaft. Wo sie sich etwa noch zuträgt und im sozialen Abstand des Liebespaares Balladenhöhe und Tragödientiefe erreichen könnte, verfällt sie schneller dem Spötter als dem Dichter. Der Minnesänger, der nur von Minne, von eigenen und fremden Liebesqualen zu erzählen weiß und von gar nichts anderem, der nicht mindestens imstande ist, seine süßen Gefühle mit Ironie zu pfeffern, findet heute weder Verleger noch Publikum. Die Fülle der Liebesabenteuer in Zeitungen, Romanen und Theaterstücken kann mich nicht irre machen. Für mich bedeutet ein geglaubtes Madonnenbild, eine aus der Legende herauswachsende Isolde, ja selbst in der karrikierenden Prosa eine Dulcinea mehr als Berge heutigen Schrifttums. Indes durchgreifend beweisen läßt sich da nichts. Es bleibe daher die Liebe als einer der wenigen Kreditposten in diesem Konto der Emotionen bestehen.

Was ihr aber, wie überhaupt jeder Emotion das eigentliche Relief gibt, das ist die Gefahr. Wohlverstanden nicht die allgemeine Gefahr, wie sie sich aus Not, Krieg, Hungerblockade und Umwälzung über Länder verhängt, sondern die Gefahr, welche den Einzelnen überfällt in einer Welt der Abenteuer. Wie in einer Bühne eingeschlossen muß diese Welt liegen, nicht ausgeweitet bis zu den grauen Wolken der unendlichen Sorge. In dieser romantischen, durch den Kontrast wirksamen Gefahr liegt Resonanz und Folie, auf der jede Leidenschaft erst so recht eigentlich zu singen und zu leuchten vermag. Ungebändigte Kräfte, mit allem Rüstzeug des Willensarsenals bewaffnet, mit Dolch, Gift, Verschwörung und jedem Impromptu der List und Gewalt müssen überall hervorbrechen, um auf dem schwarzen Hintergrunde der Gefahr das helle, farbige Spiel der Emotion wirksam herauszuheben. Dieser Hintergrund, wie er in der Lebensgeschichte Benvenuto Cellinis gespannt ist, läßt den Vordergrund mit den auf sich selbst und auf das Schicksal der Minute gestellten Menschen so interessant erscheinen. Diese wie von einem überlegenen Dramatiker inszenierte Gefahr hat für uns Lebende ihre Kunstfähigkeit zum großen Teil eingebüßt, da sie von der allgemeinen, unrhythmisierten, grau in grau getünchten Gefahr überwuchert wird. Sie hat aufgehört ein Distanzgefühl zu sein, in Ansehung des Abstandes von der Sicherheit, nachdem viele Millionen eine unterschiedlose Masse von Gefahrobjekten geworden sind. Und in der Kunst ist die Millionen-Multiplizierung immer vom Übel. Man kann nicht mit Kanonen instrumentieren und überhaupt nicht die Mittel moderner Kampftechnik in brauchbares Kunstgut übersetzen. Not, Gram, wie alle Derivate der Gefahr haben sich in Formen gezeigt, in denen die freie Emotion wie in einem stickigen Nebel verkommt. Ein Künstler kann den Hunger als Motiv verwerten, nicht aber die über viele Meridiane hinwegreichende Unterernährung. Die Jungfrau, die ihren Haarschmuck auf den Altar des Vaterlandes niederlegt, ist künstlerisch betont, der Bürger, der in Papierbündeln sein Notopfer ablädt, verliert sich in einem für die Kunst ganz gleichgültigen Chor. Wer sich vollends unterfängt, den Waffenkampf in irgendwelchen wirklichen Dimensionen für das Kunstwerk einzufangen, der verfällt dem Kitsch, dem Bilderbogen, der Guckkästnerei.

Das künstlerisch Wertvolle ist und bleibt die Distanz und nicht deren Überwindung, die von der Kultur so emsig betrieben wird. Um zu begreifen, warum sie es tut und nicht anders kann, müssen wir uns zwei tiefliegende Gesetze klarmachen: Minute, Tag und Jahr erscheinen dem Greise kürzer als dem Jüngling und vollends dem Kinde. Die Zeitperspektive verkürzt sich für jeden Beobachtenden rückwärts und vorwärts gemessen.

Aber nicht nur für den einzelnen, sondern für die Gattung, für die Menschheit. Denn die Gattung repetiert in allen Stücken die Entwicklungsphasen des Individuums. Die Ontogenie ist nichts als der kurze Abriß der Phylogenie, und diese eine erweiterte Ausgabe der Ontogenie. Als biologische Erscheinung ist diese rasche Wiederholung der Gattungsveränderung in der embryonalen Stufenleiter eine der Hauptstützen der Darwinschen Theorie geworden. Aber es bleibt nicht bei dieser einen Wiederholung der Formen im Körperlichen. Auch in den Empfindungsformen repetiert der Einzelne nur, was als ein Empfindungsgesetz der Gattung angesprochen werden muß. Für unsern Fall angewandt bedeutet dies: die ganze Menschengattung empfindet heute die Zeiteinheit kürzer als ehedem, sie ist schneller metronomisiert.

Die Kultur greift da nur auf, was ihr als ein unwandelbares Gesetz entgegentritt. Und sie würde in landläufigem Sinne unkulturell handeln, wollte sie diesen, durch eine durchgreifende Gefühlstäuschung der Menschheit auferlegten Zwang verleugnen. Wir empfinden es somit als Kulturfortschritt, wenn Zeit gespart und unserem wachsenden Stundengeiz Rechnung getragen wird. So kann die Kultur, speziell die Technik, nicht anders als distanzzerstörend auftreten, fort und fort demolierend gerade an dem Faktor, der uns in anderem Sinne als ein so hohes Kulturelement, nämlich als Träger der kunsterzeugenden Emotion, entgegentritt.

Ließe sich nun etwa behaupten, daß die Kultur den Ast absägt, auf dem sie sitzt? Ach nein. Sie sitzt sicher und fest und sägt nur am Nebenaste, der allerdings die lockendsten Blüten und Früchte zeigt. Aber der enthält gerade auch das beste Nutzholz, und deshalb muß er herunter.

 


 


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