Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Das Gelächter der Götter

»Adventavit asinus
Pulcher et fortissimus.«

Soweit mein Umkreis reicht, habe ich nur einen gefunden, der die Frage Sokrates-Plato mit wirklichem Spürsinn und genügender Feinfühligkeit erfaßt hat. Der war kein Philosoph, kein Historiker, kein Nachläufer Schleiermachers und kein Vorläufer Windelbands, überhaupt keiner von der professoralen Gilde, sondern ein Dichter. Grund genug für die Zünftigen, um ihn zu übersehen, und Grund genug für viele anderen, um ihn überhaupt nicht zu studieren. Man kann ja nicht gerade behaupten, daß unser Christoph Martin Wieland in Mißkredit gekommen sei, man läßt ihn wohl noch als den Schöpfer des Oberon und der Abderiten gelten. Aber wer vertieft sich noch heute in seinen Aristipp? Wer steigt überhaupt in die Unendlichkeiten seiner Werke hinein, wie sie in der großen, sechsunddreißigbändigen Ausgabe von Göschen vorliegen? Ich habe unter den mir erreichbaren Gelehrten und Schöngeistigen noch keinen gefunden, zum mindesten noch keinen, der sich darüber klar geworden, daß in diesem Wieland an vielen versteckten Stellen Weisheitsaufschlüsse verborgen liegen. Diese herauszuziehen, soll uns nunmehr ein Amt und ein Vergnügen sein. Wir werden wahrnehmen, daß Wieland, weil er gleichzeitig Weimarer und Hellene, Dichter und Erkenner war, die Figur des platonischen Sokrates doch mit schärferen Blicken angesehen hat als die Fachleute auf den Lehrkanzeln; und daß er, wenn auch nicht erschöpfend, so doch anleitend zu unserem großen Thema recht erbauliche und wissenswürdige Dinge zu sagen weiß. Zwei sehr gescheite Weltweise unterhalten sich bei Wieland brieflich über die platonischen Dinge, immer mit dem Untergrund, daß aus dem Plato dessen Lehrmeister Sokrates vernehmlich wird. Hippias schreibt an Aristipp, und aus dieser Korrespondenz wie aus den umgebenden Erörterungen wollen wir einiges hierhersetzen, nicht ganz wörtlich genau, sondern nur soweit es sich mit den Zwecken des großen Themas verträgt und zur Beleuchtung des Sokrates dient. Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß die hineinspielende Person der Lais eine nicht sonderlich keusche, aber recht geistreiche Griechin war, die mit mehreren Gliedern des platonischen Kreises Beziehungen der Seele und des Körpers unterhielt. Der Wielandsche Hippias hat das Wort:

»Kaum kann ich glauben, daß die schöne und – – allzuweise Lais im Ernst zu wissen verlangt, was ich von dem »Phädon« des jungen Platon halte. Wenn sie ihn gelesen hat, so kann sie sich selbst am besten sagen, ob sie durch die vorgeblichen Beweise der Unvergänglich- und Unsterblichkeit der Seele, die er seinem Meister Sokrates in den Mund legt, überzeugt ist oder nicht. Ich für meine Person erinnere mich nicht, in meinem ganzen Leben etwas Frostigeres und weniger Befriedigendes über diesen Gegenstand gehört oder gelesen zu haben. Wahrlich, es steht schlecht mit der Hoffnung derer, die sich ewig zu leben wünschen . . ., wenn sie auf keinem festeren Grunde ruht als auf der Behauptung, es müsse auf den Tod ein neues Leben folgen, weil das Erwachen aus dem Schlaf entstehe, und beides eine notwendige Folge davon sei, daß jedes Ding, dem etwas entgegengesetzt ist, aus diesem Entgegengesetzten entspringe.« Was wird die Nachwelt – wofern dieses platonische Machwerk seinen Schöpfer überleben sollte – von Sokrates und von denen, die ihn für einen Weisen hielten, denken müssen, wenn sie liest, daß er ein paar Stunden vor seinem Tode seine besten Freunde, lauter gesetzte und zum Teil schon bejahrte Leute, mit so läppischen Fragestücken, wie man sie etwa an ein Kind von drei Jahren richten könnte, unterhalten habe! Und sollte die Nachwelt wohl glaublich finden, daß so verständige junge Männer, wie Cebes und Simmias, sich diese kindische Art von Belehrung hätten wohlgefallen lassen? Oder was denkst du, daß man zu einem Dialog, im Geschmack der kleinen Probe, die ich mir (wundershalber) abzuschreiben die Mühe geben will, sagen werde?

Sokrates: Was meinst du, Cebes, ist irgend etwas dem Leben so entgegengesetzt als das Schlafen dem Erwachen?

Cebes: Allerdings.

Sokrates: Was denn?

Cebes: Das Gestorbensein.

Sokrates: Entstehen nicht beide aus einander entgegengesetzten Dingen, und muß es nicht mit ihren respektiven Entstehungen (γενεσεις) eben dieselbe Bewandtnis haben?

Cebes: Wie könnte es anders?

Sokrates: Ich will dir nur das eine Paar der soeben genannten Dinge sagen, sowohl sie selbst als ihre Entstehungen, und du sagst mir dann das andere. Ich setze also, schlafen und wachen, und nun sag' ich: aus dem Wachen entsteht das Schlafen, und umgekehrt aus dem Schlafen das Wachen, und ihre Entstehungen sind: vom einen das Einschlummern, vom andern das Aufwachen. Hab' ich das deutlich genug ausgedrückt oder nicht?

Cebes: Sehr deutlich!

Sokrates: Nun sage du mir auch, wie es sich mit dem Leben und dem Gestorbensein verhält. Sagst du nicht, daß Leben das Gegenteil sei vom Gestorbensein?

Cebes: Allerdings.

Sokrates: Und daß sie auseinander entspringen?

Cebes: Ja.

Sokrates: Was wird also aus dem Lebenden?

Cebes: Das Gestorbene.

Sokrates: Und aus dem Gestorbenen?

Cebes: Notwendig muß man bekennen: das Lebende. (!!)

Sokrates: Demnach, mein lieber Cebes, entstehen die Lebenden aus den Gestorbenen?

Cebes: So scheint es. (!!)

Sokrates: Unsere Seelen sind also im Hades, in der Unterwelt?

Cebes: Man sollt' es denken.

Sokrates: Und was ihre beiderseitigen Entstehungen betrifft, liegt nicht die eine klar am Tage? Denn das Sterben ist doch etwas Augenscheinliches, oder nicht?

Cebes: Ganz gewiß.

Sokrates: Wie wollen wir nun weiter verfahren? Wollen wir das, was aus dem Gestorbensein entsteht, nicht ebenfalls für etwas Entgegengesetztes halten? Sollte die Natur nur hier allein hinken? Oder müssen wir eine dem Sterben entgegengesetzte Entstehung annehmen?

Cebes: Das müssen wir allerdings!

Sokrates: Was für eine also?

Cebes: Das Wiederaufleben.

Sokrates: Wenn nun ein Wiederaufleben stattfindet, wäre da nicht das Wiederaufleben eine Entstehung des Lebenden aus dem Gestorbenen?

Cebes: Unstreitig.

Sokrates: Wir sind also genötigt, als etwas Ausgemachtes einzuräumen, daß die Lebenden ebensowohl aus den Gestorbenen entspringen, als die Gestorbenen aus den Lebenden: und wenn dies ist, so haben wir einen hinreichenden Grund, anzunehmen, daß die Seelen der Verstorbenen irgendwo sein müssen, von wannen sie wieder geboren werden können?

Cebes: Aus dem Eingestandenen folgt dies notwendig! usw.

Nun frage ich dich, Aristipp, ob das unauslöschliche Gelächter der seligen Götter im ersten Buch der Ilias hinlänglich wäre, eine solche Manier, zu philosophieren, nach Gebühr zu belachen? Und in was für ein unendliches und unermeßliches Wiehern müßten erst die besagten Götter (die schon über einen herumhinkenden Mundschenken so entsetzlich lachen konnten) ausbersten, wenn sie ein Paar gravitätische Leute unter den Wolken über Dinge, wovon sie nichts verstehen noch wissen können, im höchsten Ernst so possierlich irre reden hörten?! Gleichwohl läßt Plato den guten alten Sokrates seinen ganzen Sterbetag über in diesem Geschmack dialogieren, der ganze Diskurs dreht sich immer um diesen feinen Beweis herum. Und welch ein Beweis! Aus einer Induktion, die auf ein bloßes Spiel mit Worten hinausläuft und auf der grundlosen Annahme beruht: wenn zwei einander entgegengesetzte Dinge aufeinander folgen, so entstehen sie aus einander! Diesem Grundsatz zufolge könnt' er uns ebenso bündig beweisen, ein Hungriger müsse notwendig satt werden, wenn er gleich nichts zu essen hat, oder die alte Hekuba müsse wieder jung und eine zweite schöne Helena werden: denn Hunger und Sättigung, Alter und Jugend, Runzeln und Schönheit sind einander entgegengesetzt und folgen aufeinander, müssen also ebenso notwendig aus einander entspringen, als das Wachen aus dem Schlafen und das Leben aus dem Tode. Der Beweis müßte sich gut ausnehmen, wenn er, nach dem obigen Muster, in kurzen Fragen und Antworten mit möglichster Langweiligkeit geführt würde!

* * *

Es ist des Staunens kein Ende! Wenn man schon für einen Moment vielleicht darüber hinwegkommt, daß diesem sinnlosen Schwätzer Sokrates vom zeitgenössischen Orakel die Titulatur als Weisester der Menschen verliehen wurde, so prallt man immer wieder an eine neue, noch stärkere Barriere des Denkens: wie konnte es zugehen, daß intelligente Menschen, die er in seine Gespräche verwickelte, so restlos ihren Verstand einpackten, wenn sie ihm Rede stehen sollten? Daß sie wie hypnotisiert von seinen Absurditäten immer nur seine Eselsrufe echomäßig wiederholten? Wieland greift das vereinzelte Beispiel mit dem Cebes heraus; stellen wir uns einmal vor, daß dieser junge Herr sich mit seinem philosophierenden Altersgenossen Simmias zusammengesetzt hätte, um in Fortsetzung der Methode jenes obige Gespräch weiterzuführen. Man braucht kaum parodistisch zu werden, man kann sich ziemlich genau im Rahmen des Originals halten, um den folgenden Dialog zu entwickeln:

Cebes: Was meinst du, Simmias, sind nicht die Vernunft und die Unvernuft entgegengesetzte Dinge?

Simmias: Das meine ich allerdings.

Cebes: Und könnte man nicht ebensowohl behaupten, daß ein weiser Philosoph und ein unweiser Esel einander entgegengesetzt seien?

Simmias: Gewiß könnte man das behaupten.

Cebes: Sonach wäre erstlich erwiesen, daß unser hochgelobter Lehrmeister Sokrates und ein schreiender Esel als zwei entgegengesetzte Erscheinungen aufgefaßt werden müssen.

Simmias: Das wäre zweifellos erwiesen.

Cebes: Nun aber haben wir vorher ermittelt, daß alle entgegengesetzten Dinge, wie Schlafen und Wachen, Leben und Tod aus einander entspringen.

Simmias: Das haben wir tatsächlich ermittelt.

Cebes: Somit dürfen wir wohl die erste Schlußfolgerung ziehen: daß Sokrates aus einem Esel entspringt.

Simmias: Wir dürfen es nicht nur, sondern wir sind zu dieser Schlußfolgerung logisch durchaus verpflichtet.

Cebes: Nun wissen wir aber aus der Erfahrung und aus der Naturgeschichte, daß sich ein Esel immer wieder und ganz ausschließlich in einem Esel fortsetzt.

Simmias: Das ist uns allen zur Genüge bekannt.

Cebes: So daß, wenn wir einen Esel erblicken, wir mit Sicherheit angeben können: dieser Esel ist aus einem anderen Esel entsprungen und wird mit größter Bestimmtheit die körperlichen und geistigen Eigenschaften seines eselhaften Vorgängers fortsetzen.

Simmias: Ich erachte dies als selbstverständlich und würde daran erst zu zweifeln anfangen, wenn ich ein einziges Mal beobachtet hätte, daß ein Esel Eier legt und daß aus einem solchen Ei eine kluge Eule hervorkriecht. Da wir indes einen derartigen Vorgang niemals erlebt haben, so müssen wir wohl dabei bleiben, daß aus jedem Esel in körperlichem wie in geistigem Betracht niemals etwas anderes entstehen kann als wiederum ein Esel.

Cebes: Du hast dies bewunderungswürdig ausgeführt, lieber Simmias. Entsinne dich nun der Schlußfolgerung, die wir zuvor in vollkommenstem Anschluß an die Methode unseres gepriesenen Lehrmeisters gezogen hatten: Wir hatten als unverrückbar festgestellt, daß Sokrates aus einem Esel entspringt.

Simmias: Freilich, das hatten wir ermittelt.

Cebes: Auf Sokratische Weise ermittelt, mithin ganz unumstößlich. Wenn wir nun unsere beiden Schlüsse vereinigen, so ergibt sich daraus mit vollkommener Deutlichkeit, – was wohl, lieber Simmias?

Simmias: Sprich du es aus, teurer Cebes, daß ich es nachspreche, was mir auf der Zunge liegt, was ich aber ohne inneren Kampf kaum verlautbaren könnte.

Cebes: Es ergibt sich daraus mit mathematischer Notwendigkeit, daß unser Sokrates in keiner Weise von einem Esel zu unterscheiden ist.

Simmias: Ich wüßte mit aller Anstrengung nichts vorzubringen, was diesem logisch entwickelten Satze widerspricht.

Cebes: Wir sind noch nicht fertig, lieber Simmias. Denn nach dem Sokratischen Lehrsatz und Beweis von dem Ursprung aus Gegensätzlichkeiten folgt nicht nur, daß Sokrates aus dem Esel, sondern auch umgekehrt, daß der Esel aus dem Sokrates entspringt.

Simmias: Es ist gänzlich unmöglich, das zu bezweifeln.

Cebes: Wir haben uns nur noch zu fragen: wer ist denn eigentlich aus dem Sokrates entstanden, wenn wir ihn uns als eine geistige Persönlichkeit vorstellen? Und darauf kann es nur eine einzige Antwort geben: Wir selbst sind es, du und ich, seine Jünger und Zöglinge, die der hohen Ehre teilhaftig werden, den Sokratischen Kreis zu bilden.

Simmias: Das leuchtet wohl ein: allein ich fürchte, wir werden hier zu einem Schluß gedrängt, der von jener hohen Ehre nicht viel übrig lassen wird.

Cebes: Der Philosoph fürchtet nicht und am allerwenigsten, wenn es sich darum handelt, der Logik Genüge zu tun. Entweder man ist Logiker oder man ist es nicht; und ich darf wohl annehmen, daß du, in so vortrefflicher Schule gebildet, nicht zögern wirst, dich zu den Schlüssen der gesunden Vernunft zu bekennen.

Simmias: Ja freilich.

Cebes: Nun wohlan! Unsere glücklich gewonnenen, unerschütterlichen Obersätze lauteten: Der Esel entspringt aus dem Sokrates; wir sind aus dem Sokrates entstanden, und diese zwei Sätze verschmelzen sich unweigerlich zu dem dritten: wir sind Esel!!

Simmias: So scheint es.

* * *

Und es scheint nicht nur so. Wir haben vielmehr, wenn wir lange nach Wieland den Jüngern ein derartiges Gespräch in den Mund legen, einen höchsten Punkt der Evidenz erlangt. Jene gehäuften Antworten: »Ja freilich«, »allerdings«, »so scheint es«, mit denen die Gesprächspartner des Sokrates alle seine logischen Bocksprünge und spielerischen Wortfälschungen mitmachen, sind nichts anderes als Zeugnisse ihrer Eselhaftigkeit. Man könnte sich vielleicht bei der Annahme beruhigen, daß der große Verstandverderber ganze Arbeit getan habe als Verseucher der Jünglinge und Männer, die ihm nahetraten, nach dem schon im alten Hellas gültigen Merkwort: Ein Narr macht viele. Allein ich bin doch davon überzeugt, daß man damit die Wahrheit nicht recht erfaßt. Die liegt tiefer und stellt in ihrer Verzwicktheit ein Unikum, etwas mit keiner anderen Wahrheit Vergleichbares dar. Der Kern der Sache liegt immer beim Plato, beim Urheber der ganzen überlieferten Gesprächsherrlichkeiten. Ihm lag nur wenig daran, die Gesprächsteilnehmer als Dümmlinge hinzustellen; daß sie es im Verlauf der Debatten wurden, ergab sich als eine unvermeidliche Begleiterscheinung, steckte aber ursprünglich nicht in seinem Programm, dessen Spitze wesentlich gegen den einen gerichtet war: gegen Sokrates, gegen den Narren Platos. Diese Spitze nach so vielen Jahrhunderten der Falschbeurteilung sichtbar zu machen, sie von den Schleiern, die sie umweben, zu entblößen, ist die Aufgabe der vorliegenden Schrift. Und unter den mannigfachen Schleiern, deren Gespinst wir entwirren, befinden sich nicht nur die von sehr versteckter Pietät mit überlegener Satire gewobenen, sondern auch ziemlich grobe Gewirke.

Auch dies, soweit es auf direkte Fälschungen Platos hinausläuft, hat Wieland erkannt, wenngleich im wesentlichen nur behutsam angedeutet. Seine Lais sagt: »Platos Buch hat mir eine große Meinung von der Feinheit seines Geistes und von seinem Dichtergenie gegeben. Wahr ist's, man müßte den Sokrates gar nicht gekannt haben, wenn man nicht sehen sollte, daß Plato sich große Freiheiten mit ihm herausnimmt; und ich wollte selbst meinen besten Halsschmuck daran setzen, Sokrates habe bei aller seiner Redseligkeit nicht den dritten Teil von alledem gesagt, was ihn der junge Schwätzer grübeln und subtilisieren läßt. Indessen ist doch nicht weniger wahr, daß er die Eigenheiten seines Meisters mit vieler Gewandtheit nachzuahmen weiß; und wiewohl er sie überhaupt merklich übertreibt, so ist doch an vielen Stellen das Originale und Auszeichnende im Ton und in der Manier des Alten gar nicht zu verkennen.«

Aristipp aber, der den göttlichen Plato kühler ansieht, als die eroberungslüsterne Hetäre Lais, ergänzt: »Ich übergehe den allgemeinen Vorwurf, der beinahe alle seine Dialoge trifft: daß Plato dem guten Sokrates unaufhörlich seine eigenen Eier auszubrüten gibt und ihm ein System von Philosophie und Mystosophie unterschiebt, womit sein schlichter Verstand wenig oder nichts gemein hatte; kurz, daß er ihn nicht nur zu einem ganz andern Mann, sondern in gewissen Stücken zum Gegenteil dessen machte, was er war. Plato legt eine gewisse Erzählung dem Sokrates selbst in den Mund, aber an wen die Erzählung gerichtet sei und aus welcher Veranlassung, wo und wann sie vorgefallen, davon sagt er uns kein Wort. Was müssen wir also anders glauben, als Sokrates habe dieses Gespräch allen, die es zu lesen Lust haben, schriftlich erzählt, daß heißt, er habe ein Buch daraus gemacht? Wir wissen aber, daß Sokrates in seinem ganzen Leben nichts geschrieben hat, das einem Buche gleichsieht.

Allen Göttern sei dafür Dank, fügen wir ein.

Plato verstößt also gegen alle Wahrscheinlichkeit, da er den Sokrates auf einmal zum Urheber eines Buches macht, das kaum nur den sechsten Teil kleiner ist als die ganze Ilias.«

Hier könnte sich vielleicht der grüblerische Einwand erheben, Wieland wollte mit seinen Pfeilen eigentlich nur den Plato treffen, um den Liebling Sokrates zu retten. Das liefe aber auf eine leere Spitzfindigkeit hinaus. Die olympischen Götter, die er anruft, sind keine Rabulisten und verstehen sich nicht auf Winkelzüge. Wenn sie ein Lachkonzert anstimmen, so wissen sie, weshalb und worüber; sie sehen und hören nur ein Objekt: den schulmeisternden Sokrates, der genau so, wie er hier dialogierte, der historische Sokrates geworden ist. Und der mußte allerdings vom hohen Olymp herab ein schallendes Echo auslösen.

Dem widerspricht es nur scheinbar, daß Plato mit seinem Präzeptor eigenmächtig verfuhr. Wenn wir es mit Wieland für erwiesen halten, daß er mit ihm machte was ihm beliebte, wenn wir ferner die große Eigenperson und Eigenphilosophie des Plato dagegen halten, wenn wir schließlich entdecken, daß dieser platonische Sokrates sich in Torheiten überschlägt und ein Maximum von Unsinn zu stande bringt, ob dessen sich die ewigen Götter in unauslöschlichem unermeßlichen »Gewieher« lachend schütteln müssen, – so bleibt aus diesem Wirrsal für uns nur der eine Ausweg: daß es Platos größte Aufgabe war, der Welt ein welthistorisches Rätsel aufzugeben, daß seine Dialoge nichts anderes darstellen als umfangreiche Attrappen, und daß er aus bestimmten persönlichen, nicht erkenntnis-theoretischen Gründen dem Freunde Sokrates ein ungeheures Monument errichten wollte, das lange aussah wie ein Ehrenbild, bis man endlich die Karikatur darin entdeckte. Bis man dahinter kam, daß jener Sokrates nicht nur ein Idiot war, sondern auch, daß Plato ihn als Idioten durchschaute. Was kam bei der Größe der Aufgabe und bei der Länge der vorausgesetzten Zeiten darauf an, wenn auch ein Jünger, ein Cebes, im Vorbeigehen ein paar intellektuelle Maulschellen davontrug? An ihnen war nichts gelegen; sie waren und sind Nebenfiguren in dem gewaltigen, geheimnisvollen Spiel, das Plato betrieb und das er der Nachwelt wie ein wissenschaftliches Anagramm hinterließ. Nie zuvor und niemals nachher war Ähnliches gewagt worden: einen Heros für die Jahrtausende hinzustellen, mit dem klaren Bewußtsein, einen Kasperle mit der Unsterblichkeit zu umkleiden. So ungeheuerlich seltsam das Beginnen war, das Gelingen darf nicht bezweifelt werden. Unzählige Bücher, ganze Bibliotheken stehen als Zeugen da! Und nicht früher war es möglich, den wahren Wesenskern jenes Monumentes zu erfassen, als bis sich der Trieb einstellte, die Vermutung aufzuwerfen, ob nicht der ganze Plato, soweit er Sokrates behandelt, erst richtig zu verstehen ist, wenn man ihn e contrario in einem Spiegel liest, wo sich rechts in links, Sinn in Unsinn, Lehre in Widerlegung und Beifall in Spott verwandelt. Diese Vermutung aufwerfen, heißt aber nichts anderes als die Gewißheit erlangen; mit derselben Notwendigkeit, mit der alle Schwierigkeiten verschwanden, als man durch Umkehrung der landläufigen Lehre den geozentrischen mit dem heliozentrischen vertauschte. Und diese Gewißheit steht bei Plato leuchtend zwischen den Zeilen: der große Rechthaber Sokrates tummelt sich da als der große Unrechtbehalter, genau so wie ihn Plato gesehen und in Vexierschrift festgehalten hat für alle, die anfangen wollen, lesen zu lernen!

 


 


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