Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Also sprach Pythia

Es gibt ein Wort, das wie ein Peitschenhieb durch die Luft knallt. In keinem Lexikon steht es, in keiner Schulklasse, in keinem Universitätssaal wird es gehört, und der Sprachgelehrte lehnt es als nicht vorhanden ab. Aber jedermann sollte es kennen und anwenden, wo ihm die Tüftelweisheit, die Verkehrtweisheit, die Philosophie in ihrer Aftergestalt entgegentritt. Es lautet: »Philosophatsch«! der große Rüpel unter den Philosophen, unser Eugen Dühring, der denk- und sprachgewaltige, hat es geprägt; in einem knalligen Ausdruck der Verachtung faßt er alles zusammen, was die Philosophie in Verruf gebracht hat. Aus tiefem Verdruß ist es entstanden, wie seine Seitenstücke »Aufkläricht« und die »Intellektuaille«. Im Tone des »Philosophatsch« schlägt der Quatsch durch, der uns umspritzt, wenn wir verurteilt sind, in den Niederungen des gelehrten Denkens umherzustampfen, auf den Spuren der Magister, denen Goethe die Votivtafel gestiftet hat: getret'ner Quark wird breit, nicht stark; mit dem überflüssigen und schädlichen Zusatz: schlägst du ihn aber mit Gewalt in feste Form: er nimmt Gestalt. Nein, Quark bleibt Quark, und Philosophatsch bleibt Philosophatsch,so nachdrücklich man ihn auch in die feste Form der Systeme hineingepreßt hat.

Und wenn wir noch heute so weit sind, daß die Allmutter Philosophie sich von den Brosamen des Respektes nähren muß, die wir ihren Kindern, der forschenden Naturkunde und der erfindenden Technik spenden, – der unendliche Philosophatsch hat es verschuldet, der sie unkenntlich und zu einem Gebilde des Ekels gemacht hat.

Sokrates aber, das werden uns die folgenden Blätter bis zur Evidenz dartun, Sokrates ist der Vater des Philosophatsches. Hat das nun Dühring erkannt? Nein, er ebensowenig wie andere Professoren. Wohl lamentiert er über die Verachtung, der die Philosophie anheimfiel, über ihre bis in die jüngste Zeit verdiente Schmach, wohl erkennt er die große Krankheit »Paranoia paralytica philosophastrix«, – allein, daß diese Paranoia sich von dem Ur-Idioten in Athen auf alle späteren Philosophaster und Philosophatscher vererbt hat, das sieht er nicht. Mit dem üblichen Überschwang, mit der Hochspannung der Begeisterung, die wir im Vortrag aller Lehrbücher antreffen, feiert er den Sokrates. Er wiederholt es wie hundert andere und unterstreicht es als zu Recht bestehend, daß Sokrates die Philosophie vom Himmel auf die Erde verpflanzt und aus der Weite des Kosmos zu den Behausungen und dem Treiben der Menschen zurückgerufen habe. Und wenn noch heute ohne kontrastierende Warnung die Taxe gilt, daß er der erste, der wahre, der einzige Vermittler zwischen Gottesdenken und Menschendenken war, so vernehmen wir in diesen unendlichen Psalmen noch immer den Nachhall des alten Orakels, das jenseits von richtig und falsch als Wahrheit auftrat für wenige Versteher, als Lüge für den Schwarm der Mißversteher.

Der Orakelspruch der Pythia in Delphi lautete:

Weise ist Sophokles, weiser Euripides,
Aller Männer weisester aber Sokrates!

Er selbst berief sich auf diesen Spruch in seiner Verteidigungsrede, als er schwer verklagt vor den Athenern stand. Und er erzählte auch freimütig, wie der Spruch zustande gekommen war, als eine Antwort auf eine hervorlockende Frage. Sein Jugendfreund Chaerephon war nach Delphi gepilgert, nicht um allgemein zu erfahren: Wer ist der Weiseste? sondern um mit Ungestüm zu erforschen, ob wohl jemand weiser wäre als Sokrates. Das Orakel gab also erstlich keine selbständige Aufklärung, sondern nur die Bestätigung eines ihm vorgetragenen Glaubens. Und als eine Instanz für den Glauben, nicht für das Wissen ist es zu werten. Sein Diplom galt dem Manne, der sich zu einfachen und eindringlichen Sprüchen bekannte, zu »Ich weiß, daß ich nichts weiß«, »Unrecht leiden ist besser als Unrecht tun«, »Die Seele dauert fort«, »Alles Lernen ist Erinnerung«, zu Heilswahrheiten, die Opferduft atmeten. Das Diplom galt aber nicht dem Manne, der es nachher unternahm, solche Worte umständlich zu »beweisen«; der auf diesem Wege zum Beweisfanatiker wurde, sich dabei in die Sackgassen des Denkens verirrte und, um den Ausweg zu gewinnen, mit dem Kopf gegen alle Unmöglichkeiten rannte. Wir werden erfahren, wie es in diesem Kopfe und in seiner Gehirnmasse aussah, nachdem er sich in unaufhörlichen Prallstößen zerbeult hatte; und wie aus ihm gar nichts anderes herauskommen konnte als idiotischer Philosophatsch.

Aber der Pythische Spruch ist allezeit eindeutig aufgefaßt worden und hat von den Tempelhütern der Weisheit niemals eine Korrektur erfahren. Keiner trat auf, der ihn bestritt, der an einen andern Gerichtshof appellierte, und hätte es einer getan, so wäre er in allen Instanzen abgewiesen worden. So stand es in den Sternen geschrieben, so wurde es zum unerschütterlichen Dogma, besonders seit Cicero die Formel dafür gefunden hatte, eben jene schon zuvor angedeutete: »Er hat die Philosophie vom Himmel auf die Erde herabgerufen, er hat sie in die Städte und in einfache Wohnungen eingeführt, er zwang sie, mit dem Leben und der Sittenlehre sich zu beschäftigen und uns zu lehren, was gut und was böse ist.« Freilich schon dem begabten Primaner kommt manchmal ein Zweifel an Cicero, so im allgemeinen; denn den liest er in der Urschrift und da gerät er unmittelbar an die Stellen des Originalquatsches. Aber allen Sokrates lernt er nur auf Umwegen kennen in fertig vorgetragenen durch Zeit und Überlieferung geheiligten Hymnen; so wie es schon sein Oberlehrer und dessen früherer Präzeptor als Studiosen der Philologie in den Universitäten gelernt. Urewig ist dort die alte Leier abgedreht worden, daß alle spätere Philosophie überhaupt gar nichts anderes ist, als eine fortgesetzte Entwicklung der Sokratischen Lehre; und daß er, der so durch alle Jahrhunderte fortwirken sollte, ein vom Himmel verbrieftes Anrecht besaß, sich als erster einen »Philosophen«, das heißt einen Freund der Weisheit, zu nennen. Sollen wir das im einzelnen belegen aus der großen Literatur? Niemand wird erwarten, daß wir hier ganze Bibliotheken exzerpieren werden oder können. Auf eine kurze Streitschrift ist es abgesehen, nicht auf einen mehrbändigen Wälzer.

Die Tatsache steht zudem so fest, kann überall und durchweg so leicht nachgeprüft werden, daß sie nicht erst durch Massenzitate gestützt zu werden braucht. Sie ist ein Ausfluß des ungeheuren Witzes, den sich der Weltgeist in mannigfachen Formen mit der Menschheit erlaubt hat. Ein Seitenstück dazu: Epikur! Ich will dir nicht zu nahe treten, verehrter Leser, vielmehr annehmen, daß du zu dem einen Prozent der Gebildeten gehörst, die da wissen, daß die übrigen 99 Prozent den Epikur pervers betrachten. Tausendmal ist es in gelehrten Schriften, in Nachschlagewerken, in Feuilletons gesudelt worden, daß der Epikureer der Sinnenlust frönt, daß der Epikureismus eine Lebensanschauung bedeutet, die kein höheres Ziel kennt als den heiteren Genuß. Und nur ein Prozent weiß, daß Epikur, einer der tiefgründigsten Forscher des Altertums, in Lehre und persönlichem Beispiel das Vorbild der Enthaltsamkeit bot, daß eine Handvoll Feigen seine Tagesnahrung bildete. Wer ahnt vollends, daß auf den Thron, den bis heute der Philosophatscher Sokrates innehat, gar kein anderer hingehört als ebenderselbige Epikur, als ein wahrer Vater der irdischen Weisheit? Legende hier und Legende dort, wenn auch beim Sokrates noch weit krassere und verhängnisvollere. Manch ein Skeptiker mag nahe daran gewesen sein, der Wahrheit Schleier ein wenig zu lüften; und ich meine, jener Präger des explosiven Philosophatsch-Ausdruckes hätte eine Sekunde lang den Zipfel in der Hand gehabt. Dort nämlich, wo er in einem seiner Hauptwerke sagt: »Das Thema von der Verachtung der Philosophie ist ein uraltes und sogar ein platonisches . . . . Ein Plato hat nicht ohne Grund, aber darum noch nicht mit Recht über Verachtung der Philosophie geklagt. In der Tat war ein Teil von ihr, und nicht etwa bloß die eigentliche Sophistik, jene Verachtung wert.« Noch einen Schritt weiter, und er hätte den Zipfel so fest gepackt, daß er den Schleier hochheben und abreißen konnte. Dieser Schritt ist unterblieben, und nach wie vor, bis auf diese Stunde konnte sich die Hauptursache jener Verachtung, nämlich Sokrates, unter dem Nebel säkularer Anbetung verstecken.

 


 


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