Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Operndämmerung

Wenn der Historiker ein rückwärts gekehrter Prophet ist, so braucht man seine Perspektive bloß zu verändern, um ihn in einen vorwärts schauenden Propheten zu verwandeln. Ja, eigentlich gelangt er erst in dieser Umkehrung vom Niveau des Registrators zur wissenschaftlichen Höhe. Er muß imstande sein, die Erfahrungslinien nicht nur nachzuzeichnen, sondern auch zu verlängern und die bis zur Gegenwart reichenden Entwicklungsgesetze über die handgreifliche Aktualität hinaus zu verfolgen. Seine historische Arbeit gewinnt erst tieferen Sinn, wenn sie von der Berufsfrage: wie ist es gewesen? zu der weiteren fortschreitet: was wird werden?

So oft ein praktischer Musiker sich mit solcher Frage beschäftigte, hat er stets versucht, den kommenden Mann zu erraten; denn vom Persönlichkeitskultus kommt auch in abstracto derjenige nicht los, der in concreto für sich selbst Lohn und Beifall erhofft. Insofern haben sich meine Vorgänger das Feld ihrer Prognose von vornherein so sehr verengt, daß sie mit ihrer Untersuchung im ersten Anlauf stecken bleiben mußten. Es ist sehr viel schwerer, den kommenden Mann als die kommende Zeit zu erraten, und man hält sich den Blick viel freier, wenn man das Horoskop der Gattung stellt, anstatt die Merkmale irgendwelcher Zukunftspersönlichkeit aus den Sternen zu lesen.

Wir sind hier von sehr verschiedenen Prämissen ausgegangen, von den Formen der Ästhetik, von der Emotionsfähigkeit, von der Raumerfassung im Ohr, von der Interessenverteilung, vom biologischen Gesetz, und haben gesehen, daß alle Betrachtungen nach ein und demselben Punkte konvergierten; nach einem fernen Punkte jenseits und außerhalb unserer Kunst. Ein Denken, das nicht auf diesen Punkt lossteuert, ist inkonsequent; es ist so, als wenn ein Grieche zu Themistokles' Zeit gefragt hätte: wird der Seekrieg der Zukunft durch Dreiruderer oder Fünfruderer oder gar durch Hundertruderer entschieden werden? Die Frage ist sinnlos und erhält einen Sinn erst dann, wenn sie zum Zweifel heranwächst, ob dann überhaupt noch Ruderer existieren werden.

Betrachten wir statt der Gattung eine bestimmt umschriebene Art: das musikalische Drama. Ich zweifle nicht daran, daß eine Reihe sehr einsichtsvoller Beurteiler geneigt sein wird, der Frage: was wird aus der Oper? mit strotzendem Optimismus zu begegnen. Den historischen Leitfaden in der Hand werden sie uns rekapitulieren, wie es die Oper von ihren kindlichen Anfängen bis hierher so herrlich weit gebracht habe, um mit den Kernworten Excelsior! und ad astra! auf eine weitere, noch viel gedeihlichere Entwicklung zu toasten. Bei anderen wird sich ein Zweifel an dieser herrlichen, niemals endenden Zukunft regen. Sie werden es für diskutierbar halten, ob der Organismus sich zur Überoper entwickeln oder der Verkümmerung anheimfallen muß. Was unsere eigene Prognose sagen wird, ist von vornherein klar, denn innerhalb der Gattungsverurteilung kann die Art keinen Teilpardon beanspruchen. Nicht nur die allgemeine Betrachtung, sondern schon die Zusammenfassung näherliegender Symptome führt uns zu dem Schluß, daß die Oper in einer zwar fernen, aber nicht unabsehbar fernen Zeit verschwinden wird. Wir erweisen dem Opernmassiv vielleicht eine übertriebene Ehre, wenn wir es mit den Alpen vergleichen, die scheinbar unerschütterlich und für alle Ewigkeit gefügt ihre Firnhäupter in den Äther strecken. Aber setzen wir einmal die Parallele, bei der die Oper in Wert und Mächtigkeit keinesfalls verkürzt erscheint. Mit dem Vergleich wird sich auch unser Schönheitssinn gut abfinden. Aber gerade das, was die Schönheit der Alpen ausmacht, der reiche Wechsel zwischen Berg und Tal, die entzückenden Profillinien der Gipfel und Grate, der Farbenkontrast zwischen Höhenazur und Seesmaragd, die künstlerische Gliederung der Massive, sie sind bedingt und hervorgerufen durch die nämlichen Kräfte der Verwitterung und Auswaschung, deren zernagende Arbeit allmählich das ganze Gebäude unterwühlt und dereinst der Ebene gleichmachen wird. Niemand vermag zu sagen, welche architektonischen Formen den Alpen für die nächsten Jahrtausende bestimmt sind; nur das eine ist erwiesen, daß sie nach Millionen von Jahren, zu Schutt zermalmt, die Niederungen der Meere füllen werden. Mit so ungeheuren Zeiträumen wie im Naturschönen brauchen wir im Kunstschönen nicht zu rechnen. Hier schrumpfen die Jahrmillionen zu Jahrhunderten zusammen, und wie der Beginn der Oper in einer relativ nahen Vergangenheit liegt, so rückt auch das Ende des Prozesses beinahe in Sehweite, wenigstens für den, der mit der Oper nicht bloß als Theaterhabitué von gestern auf heute und als Monsieur de l'orchestre von heute auf morgen lebt und sie sich darnach als eine amüsante Folge von Premieren vorstellt.

Seit dreihundert Jahren existiert die Oper, sie war also nicht von Urbeginn eine Kunstnotwendigkeit. In dieser Zeit hat sie von der Gesamtheit der dramatischen Motive gelebt, soweit diese befähigt sind, in Musik aufzugehen. Liegt hier eine Endlichkeit vor oder eine Unendlichkeit? Anders ausgedrückt: darf sich die Oper Hoffnung machen, fort und fort neue und ausgiebige Stoffgebiete zu entdecken?

Diese Frage ähnelt der geographischen: Ist es denkbar, daß noch weiterhin neue Kontinente von der Größe des amerikanischen aufgefunden werden? Beide Möglichkeiten sind ausgeschlossen, und beide aus dem nämlichen Grunde; denn die Seefahrt wie die Opernsuche bewegen sich in hundertmal durchquerten Gebieten. Und hier stoßen wir auf eine merkwürdige Erscheinung. Die beiden Elemente der Oper sind, jedes für sich genommen, an keine erkennbare Grenze gebunden. Die Musik sowohl wie das dramatische Motiv erweitern vorläufig noch ihre Bereiche von Tag zu Tag; sie stellen Unendlichkeiten dar in dem Sinne, daß wir fortdauernd die stetige Erweiterung ihrer Peripherie beobachten können. Sie berühren und durchschneiden einander indes nur in einer endlichen Anzahl von Punkten, und diese Punkte scheinen zum Verhängnis der Oper fast ausschließlich der Vergangenheit anzugehören.

In einigen Fällen läßt sich der Beweis für diese Behauptung direkt erbringen. Die Koloratur als musikalische Form ist unendlich und als Permutationsgebilde unerschöpflich; käme es bloß auf die Musik an, sie würde uns in jedem Jahrzehnt frische, überraschende und künstlerisch wertvolle Figuren liefern. Sie tut es auch tatsächlich im Instrumentalen, im Passagenwerk jedes neuen Klavier- und Geigenkonzertes. Aber sie vermag keine neuen Berührungspunkte mit den lyrischen Bestandteilen der Oper herzustellen. Während sich die Koloratur, musikalisch aufgefaßt, in einer Spirale bis ins Unendliche zu heben vermag, folgt ihr die Oper nur in der Projektion, in ebener Kreislinie, und dieser Kreis hat sich längst geschlossen. »So viel ist gewiß, mit Rossini starb die Oper«, sagt Richard Wagner in seinem ästhetischen Hauptwerk. Ich hätte diesen lapidaren Satz dem ganzen Kapitel als Motto vorausstellen können; ich will ihn aber als beweiskräftig nur für die Koloraturoper verwerten, die sich aus einem ehedem blühenden Gewächs in ein Konservenpräparat verwandelt hat und als solches wohl noch feinschmeckerische Liebhaber finden mag, allein nie mehr junge Triebe ansetzen wird.

Noch sinnfälliger zeigt sich die Beschränktheit der Opernmöglichkeiten und der enge Zirkeltanz der Opernsuche, wenn wir auf das Dramatisch-Stoffliche eingehen. Der Niedergang und Untergang der Operette – wohlverstanden, der von innerem musikalischem Witz durchleuchteten – wiegt gewiß nicht allzuschwer in der Bilanz der Gesamtkunst. Allein ich kann mich der Befürchtung nicht entschlagen, daß der hier beobachtete Prozeß der Verflauung und Dekomposition, der vor unseren Augen die burleske Spezies ruiniert hat, auch auf die edleren Teile der komischen Oper in naher Zeit übergreifen wird. Mißt man Produktion gegen Produktion, vergleicht man den Tiefstand von heute mit der Blüte der Auberschen und Boieldieuschen Zeit, so könnte man wohl unschwer von der Befürchtung zur Gewißheit übergehen. Aber da ließe sich ja noch immer der berühmte kommende Mann erwarten, der Mißwachs in Überfluß und Ebbe in Flut verwandelt. Als ein Krösus an musikalischen Einfällen, als ein Meister der graziösen Gestaltung wird er gewiß den Anschluß an die Oper suchen und mit einigen Kabinettstücken auch erreichen. Nur eines wird er nicht aufhalten können: die Erschöpfung der Möglichkeiten, die durch den Musiker allenfalls noch für etliche Generationen vor dem Verdursten, aber durch keinen Textdichter der Welt vor dem Verhungern gerettet werden kann. Nicht weil es an humoristischem Nahrungsstoff fehlte; dieser erneut sich stetig und garantiert, aus den unablässig wechselnden Formen der Wirklichkeit erzeugt, dem rezitierenden Lustspiel ein für bürgerliche Zeitmaße unabsehbares Bestehen. Die Oper selbst ist es, die den Stoff zurückweist, indem sie sich kraft ihrer innersten lyrischen Natur immer entschiedener von dem ewig gefüllten Proviantmagazin des Humors zurückzieht.

Und damit gelangen wir an den Hauptpunkt. Um ihre Glaubwürdigkeit, ja ihre Wesenheit aufrecht zu erhalten, sieht sich die Oper auf das Entlegene, das Romantische, Malerische und Gegensätzliche angewiesen, also auf das, was die Kultur in der Wirklichkeit immer unnachsichtiger zerstört. Heute mag die Oper ihre Modelle noch in den Vorstädten von Neapel und im Morgenlande finden; wenn aber erst der nivellierende Fortschritt Santa Lucia umgebaut, die künftige Santuzza parfümiert, die Wüstenwege asphaltiert und den Beduinen vom Kamel auf die Moto-Cyclette gebracht haben wird, dann bleibt der Oper nur Abkehr von der Gegenwart, Nachlese an Stelle neuer Ernte, Aufarbeitung der schönen Reste mit frischen musikalischen Mitteln. Aber diese Mittel werden nicht mehr zeugend und fortpflanzend, sondern in der Hauptsache nur antiseptisch zu wirken haben. Immerhin wird sich der natürliche Reiz der Gattung noch durch Jahrhunderte behaupten und jedenfalls so lange, bis der Zukunftsmensch verlernt haben wird, mit der Vergangenheit emotionell zu empfinden. Man braucht gar nicht so weit zu gehen wie Max Nordau, der aus den Analogien des Tanzes, der Fabel und des Märchens, da sie einst die Beschäftigung der vornehmsten und geistig Reifsten bildeten, den Wahrscheinlichkeitsschluß zieht, daß schon nach einigen Jahrhunderten die Kunst als solche reiner Atavismus geworden und nur noch vom emotionellsten Teile der Menschheit, den Frauen, der Jugend, vielleicht nur der Kindheit gepflegt sein wird. Desto unbedenklicher wird man seine schon für die Gegenwart gültige psychologische Bemerkung annehmen, daß die Entwicklung überhaupt vom Trieb zur Erkenntnis, von der schweifenden zur geregelten Ideenassoziation geht. »An die Stelle der Gedankenflucht tritt Aufmerksamkeit, an die der Laune der vom Verstande geregelte Wille. Die Beobachtung besiegt also die Einbildungskraft, und der künstlerische Symbolismus, das heißt das Hineintragen irriger persönlicher Deutungen, wird immer mehr vom Verständnis der Naturgesetze verdrängt.« Ich bekenne mich gern zu dieser weitblickenden Anregung Nordaus, muß jedoch im selben Atem eine scharfe Trennung zwischen unseren Grundbekenntnissen aussprechen. Ich bin Progressist, habe dies in schriftstellerischer Lebensarbeit bewiesen und glaube, daß selbst die pathologischen Entartungen zuletzt auf biologische Notwendigkeiten zurückzuführen sind. Eine dieser biologischen Notwendigkeiten gehört zur Darwinschen Ideenreihe und verlangt das vorzeitige Aussterben der Zwischenglieder, weil diese im Kampf ums Dasein bedrängter stehen als diejenigen Typen, die sich weiter voneinander differenziert haben. Die zwischen absoluter Musik und Poesie stehenden Mischlinge, Oratorium und Oper, müssen den Tribut eher zahlen, als die selbstständigen Eckpfeiler, die ihnen als Stütze dienen. Beide haben zudem, als an bestimmte Stoffkreise gebunden, von der Poesie der Zukunft keine erhebliche Bereicherung ihres wirklichen Inhalts zu erfahren; das Oratorium so wenig, daß es schon heute als vorübergehende Erscheinung erkannt wird. Die vollends zwischen ihnen eingekeilte geistliche Oper existiert kaum noch dem Namen nach und hat eigentlich schon im neunzehnten Jahrhundert die letzten Ehren erfahren.

Noch in unserer Zeit konnte es gelingen, die alte Helden- und Göttersage neu zu beleben. Aber gerade das Kunstwerk des großen Bayreuthers zeigt bis zur Evidenz, daß das vorgeschrittenste Tonmaterial die Neigung hat, sich mit den urweltlichsten Vorgängen zu verknüpfen. Mit ihrem Schwerpunkt im Orchester, atavistisch in der Sprechweise, vorzeitlich in den dramatischen Motiven, weist dieses Kunstwerk zugleich in die entlegene Vergangenheit und in die Zukunft; es deutet auf den kommenden Mann der nächsten Jahrhunderte, dem die Aufgabe zufallen wird: Abkehr von der Zwitterform und Loslösung der Musik von allen Erdenresten. Er wird weder die Edda, noch das Testament, noch den Sophokles nach packenden Motiven durchforschen, weder Wunschjungfrauen, noch Rachejungfrauen, noch perverse Jungfrauen der Sage auf die Bühne stellen; er wird vielmehr sein Genie in der Richtung der kosmischen Musik entwickeln, für die sich der noch im Halbschlummer befangene sechste Sinn im Ohre vorbereitet. Und sein Publikum wird die weiland Oper als eine historische Reminiszenz betrachten, mit ähnlichen Empfindungen, mit denen wir Zeitgenossen etwa eine Messe von Orlando di Lasso anhören würden.

 


 


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