Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Erlöschen der Künste

»Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen; darum scheint es eine Torheit, sie wieder durch Worte vermitteln zu wollen.« Dieser Satz Goethes enthält eigentlich eine Verurteilung jeder ästhetischen Analyse. Aber es ist eine bedingte Verurteilung. Goethe selbst ist in diese Torheit mit zahllosen Worten der Weisheit verfallen, unter denen seine Sentenz am höchsten steht: »Bilde Künstler, rede nicht!« Die Weisung wird der Vertreter der unsubstantiellsten Kunst am leichtesten befolgen, weil es ihm am schwersten ist, sie zu umgehen. Aber je schwerer es erscheint, über Musik zu reden, desto leichter wird es wiederum, ihren historischen Ablauf darzustellen, weil die in Betracht kommenden Zeiträume hier am kürzesten und übersichtlichsten sind. Alles hat sich sozusagen in Sehweite zugetragen. Die Musik ist die Blume, die am spätesten zum Erblühen gelangte und die folgerichtig am frühesten dem Verwelken anheimfallen muß. Der Zeder, die auf tausend Jahre zurückblickt, trauen wir eher noch weitere tausend Jahre zu, als der jungen Lilie neben ihr, deren Knospen wir beobachtet haben. Sie enthält im Ablauf ihrer Erscheinungen weniger Unbekannte. Es ist weniger Paläontologisches darin, die durch merkbare Verschiedenheit auffallenden Positionsglieder liegen enger beieinander, die Unbekannte der Zeit bietet uns deutlich wahrnehmbare, rasch aufeinanderfallende Zäsuren, die das Errechnen der Zukunft erleichtern. Wesentlich aus diesem Grunde ist die Musik in den vorliegenden Betrachtungen zum Ausgangs- und Kernpunkte gewählt worden.

Die stärkste Konsistenz in Ansehung der Zeit zeigt die Dichtkunst, weil in ihren großen Werken das Antiseptikum des Verstandes steckt, das sie gegen die zersetzenden Einflüsse der Zeit bis zu einem gewissen Grade immun macht. Die Gesänge des Homer, die Dramen des Äschylos, das Gedicht des Kalidasa erscheinen uns alt und verwittert, aber nicht durchaus veraltet und verwest. Als Spiegelbilder des Lebens geben sie uns auch heute alle Züge der Wirklichkeit, die von der politischen und sozialen Nivellierung noch übrig gelassen wurden. Sie zeigen vor allem die Kontraste zwischen Hoch und Niedrig, zwischen Menschenschwäche und Naturkraft, sie zeigen die Fallhöhe der Großen, den Wert der Distanz, die als Kunstfaktor ihre Geltung behaupten wird, bis die Kultur sie endgültig überwindet. Und so auch umgekehrt. Ein alter Meister der Dichtkunst würde, wenn er heute wiederkehrte, in der Lage sein, ein modernes Stück wenigstens im Aufbau und den Grundzügen zu begreifen. Ich stelle mir ein persönliches Privatissimum mit einem antiken Großmeister vor. Da könnte ich freilich übersetzen, erklären und deuten, so viel ich wollte, ich würde niemals dahin gelangen, einem Anakreon eine moderne Lyrik von Liliencron oder Dehmel begreiflich zu machen. Aber ich getraute mir, in einem mäßig ausgedehnten Kursus den Plautus so weit zu orientieren, daß er die annähernde Vorstellung eines Dramas von Wildenbruch, ja sogar von Ibsen gewänne. Ob's ihm gefiele, steht dahin, aber er würde ungefähr verstehen, was der neue Dichter gemeint und gewollt hat. Im Gebiete der Baukunst und Skulptur würde dasselbe Experiment noch weit schneller und sicherer glücken. Kallikrates würde den Messel, Phidias den Reinhold Begas, Donatello den Rodin begreifen. Ja, auf den ersten Blick würden sie ohne den geringsten Zweifel empfinden: das ist unsere Kunst! anders dargestellt, aber zweifellos unsere. Und in weiterem Abstande würde Zeuxis, oder näher gegriffen Giotto, vor einem modernen Aktbilde immerhin noch Absicht von seiner Absicht erkennen. Nehmen wir in der Musik dagegen ganz kleine Zeitmaße. Was wüßte wohl Mozart mit dem Feuerzauber anzufangen? was Haydn mit dem Tanz der Salome? was Rossini mit dem Après-midi d'un Faune? Und was hilfe da alle Erklärung und Wiederholung? sie wüßten nicht die leiseste Beziehung zwischen diesen Künsten und ihrer Kunst herauszufühlen und wären weltenweit davon entfernt, dergleichen überhaupt als Musik wiederzuerkennen. Der Analogieschluß ist unabweisbar: jene Elemente, die der Poesie und den bildenden Künsten der Zeit gegenüber eine gewisse Kontinuität verbürgen, sind in der Musik nahezu ausgeschaltet, diese ist verurteilt oder auch berufen, einem Novum Platz zu machen, das nach heutigem Gehörmaße nicht mehr Musik sein wird. Was es sein wird? Ignoramus. Wir können höchstens sagen: etwas fürs Ohr; etwas in Schwingungen, aber nichts in Ganz- und Halbtönen Ausdrückbares. Etwas Kosmisches, das sich nicht in Notenschrift festhalten, nicht auf einem Podium ausführen läßt; eine Neukunst, für die unser Gehör noch taub ist, die sich auf eine noch unbekannte Erregbarkeit stützt; etwas für einen Sinn, der wahrscheinlich als Nervenkomplex anatomisch schon vorgebildet, aber zur künstlerischen Betätigung noch gar nicht herangezogen ist und erst dann zu künstlerischer Empfängnis erwachen wird, wenn die bekannten Gehörfunktionen musikalisch abgewirtschaftet haben werden.

Dem künstlerischen Auge steht ein ähnlicher, wenn auch langwierigerer Prozeß bevor. Er wird dadurch verzögert, daß die Malerei im Kontakt mit der Wirklichkeit lebt, den sie definitiv nicht aufgeben kann, ohne sich selbst aufzugeben. Aber an sie schleicht sich eine andere Gefahr heran. Sie ist die einzige unter den Künsten, die nicht nur in ihrem Substrat, in der Emotion, sondern auch in ihrer Hervorbringung von der Technik bedroht wird. Das klingt im ersten Anlauf banausisch, muß aber doch in diesem Zusammenhang ausgesprochen werden. Und einige der vorzüglichsten Künstler haben es auch schon ausgesprochen, wenn auch mit selbstverständlichen Vorbehalten. Hören wir Alma Tadema: »Ich bin überzeugt, daß die Photographie einen sehr gesunden und nützlichen Einfluß auf die Kunst ausübt. Sie ist den Malern außerordentlich nützlich.« Delacroix: »Wenn sich ein genialer Künstler der Daguerrotypie bediente, wie man sich ihrer bedienen muß, dann würde er sich zu einer Höhe aufschwingen, von der wir keine Ahnung haben.« Wiertz: »Ehe ein Jahrhundert vergeht, wird diese Maschine (die photographische) alles ersetzen: die Pinselführung, die Palette, die Farbe, die Geschicklichkeit, die Gewohnheit, die Geduld, das schnelle Auge, den Ateliertrick, die Technik, die Glätte.« Und wenn auch zahlreiche andere Größen die Photographie nur sehr bedingt oder gar nicht gelten lassen wollen, so sieht man doch: hier ist eine Technik aufgetreten, die sich als Hilfsmittel oder Konkurrentin anschickt, in die Geschäfte der Kunst einzugreifen.

Es vergeht keine Ausstellung, ohne daß die Kritiker von dem ganz ernst gemeinten Kunstwerte der Photographie reden; ja die Fälle sind nicht selten, in denen ihr ein höherer Wert zugesprochen wird, als den gleichzeitig ausgestellten, von Künstlerhand geschaffenen Porträts. Selbst derjenige Beurteiler, der diesen Wert der Photographie recht gering einschätzt, muß zugeben, daß sich die Distanz zwischen ihr und den wirklichen Malerwerken von Jahr zu Jahr verringert. Mag die Distanz auch eine ungeheure sein, so findet doch eine Annäherung statt, in der das stärkere Tempo von der Technik eingeschlagen wird. Ihr positiver Einfluß ist unverkennbar, und wenn wir bei minderwertigen Genremalern den gegründeten Verdacht äußern, daß sie nach Photographien arbeiten, so liegt auch in diesem Verdacht die Anerkennung eines Kunstwertes; eine noch stärkere in der Wahrnehmung, daß die Momentphotographie selbst den besten Künstleraugen für die Erfassung transitorischer Vorgänge Lehrmeisterin geworden ist. Wo gibt es dergleichen in der Poesie und in der Musik? Wo ist die Technik, die auch nur aus Siriusferne versuchen wollte, das allerkleinste, allernichtigste poetische oder kompositorische Element zu leisten? Es gibt keine, es kann keine geben; denn die Wortpoesie und die musikalische Komposition sind rein produktive Künste, während in der Malerei bei allem Neuschöpferischen ein Rest von Modell und materiell Vorgebildetem nie zu überwinden ist. Aus dem schweren Bewußtsein dieser Abhängigkeit strebt der Künstlersinn zur Losreißung von der konturierten Wirklichkeit, zur Verbannung der Anekdote, ja überhaupt zur Darstellung der Stimmung an sich, in Farbenflecken, die wiederum in sehr ferner Zeit zu einer neuen Kunst, der rhythmisierten, nach Art der Musik in der Zeitdimension erfaßbaren Farbenkunst führen wird.

In die reproduzierende Tonkunst freilich ist die Technik auch schon eingebrochen. Pianola, Mignonklavier, Phonograph sind Mechanismen, die ganz zweifellos künstlerische Emotionen erzeugen und bis zu einem gewissen Grade den Kunstmenschen ersetzen. Dennoch sind sie als Requisiten im Haushalte der Kunst höchst untergeordnet, dumpfe Knechte im Verhältnis zur Photographie, die auf eigene Entdeckungen ausgeht. Der Tonmechanismus vermag nur das nachzubilden, was ihm als fertige Künstlertat bereits vorgelegen hat, eine Komposition, eine gesungene Arie, eine Klavierleistung. Die Photographie sucht sich ihre Modelle im Leben, in der Natur und braucht nicht auf den vorbildenden Künstler zu warten. Sie souffliert sogar ihre Anregungen dem Künstler, während Pianola und Phonograph nicht einen Ton hervorbringen, der ihnen nicht vom Künstler zugerufen wurde. Aber es erscheint nicht ausgeschlossen, daß diese Tonmechanismen dereinst das Konzertgetriebe gewaltig beinflussen werden. Wir alle kennen heute schon Künstler, deren Vortragskunst vom Mignonklavier übertroffen wird, und die vor der Pianola als Persönlichkeitsmomente nur die Unreinheit des Passagenspiels und das stockende Gedächtnis voraushaben.

 

Wenn somit auch die Malerei als produktive Kunst in der Technik eine stärkere Konkurrentin hat als die Musik, so kann sie doch von der Prognose langfristiger bemessen werden, weil in ihr ein Abnutzungskoeffizient weit gelinder wirtschaftet. Sie wird nämlich in viel geringerem Grade durch das Amüsement entwertet. Das Amüsementsbedürfnis ist die Begleiterscheinung der Kulturnivellierung und der durch diese hervorgerufenen Verlangweiligung der Welt. Die Freude an den Errungenschaften der Kultur, an der Zerkleinerung der Distanz läßt uns diese Verlangweiligung des gesamten Weltbildes nicht direkt ins Bewußtsein kommen. Im Vollgefühl der Überwindung merken wir nicht so recht den durch die Abschleifung aller Kontraste hervorgerufenen Fehlbetrag. Nur als Untergefühl macht er sich geltend und verlangt nach Kompensation in der Zerstreuung. Da wird denn in all den höchst verfeinerten Tempeln der Kultur, in all den mondänen und mit letzter Zivilisation gesättigten Vereinigungen und Veranstaltungen, die an sich wahre Brutstätten der Langeweile sind, die Kunst als Helferin angerufen. Sie muß dann auf Parketts und in Saisons mitarbeiten, den Rest der Zeit, den die Technik noch übrig gelassen hat, weiter zu zerkleinern. Und je besser ihr dies gelingt, desto kultureller erscheint sie uns raschmetronomisierten Genießern. Die Malerei hat mit diesem Frondienst viel weniger zu schaffen, als die Musik. Was vordem noch hohe und selten gehörte Tonkunst war, ertönt heute beim Five o'clock als Begleitung zur Konversation, wird morgen von einem vorstürmenden Rezensenten als Unterhaltungsmusik klassifiziert. Es versinkt in eine tiefere Schicht des Amüsements und zwar so schnell, daß neue Oberschichten gar nicht entsprechend nachwachsen können. Auch das Drama, zumal die Komödie, verraten die Spuren dieses Abnutzungskoeffizienten. Aber die dramatische Kunst kann das vermöge ihrer enormen Konsistenz und Zählebigkeit eher aushalten. Sie steht da wie der sagenhafte Granitberg, der dadurch verringert wird, daß ein Vogel seinen Schnabel an der Felskante wetzt; die Musik wie eine Waldpflanzung, in der Raubbau getrieben wird. Oder wenn der Vergleich mit einer Leuchte besser gefällt: als eine Kerze, die an beiden Seiten angezündet ist; oben leuchtet sie dem Kunstverstand, und unten wird ihr vom Amüsement das Material fortgebrannt.

 


 


 << zurück weiter >>