Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Der wankende Parnass

Neubearbeitung von

Die Kunst in tausend Jahren

Meiner Frau zugeeignet.

Die Kunststadt der Zukunft

Die guten Leute, die dem berühmten Rückertschen Weltfahrer Chidher ihre kurzatmigen Erfahrungen aufdrängten, leben noch heute in Millionen von Exemplaren. Und ob sie dazumal den Ewigkeitsbetrachter mit der Weisheit weniger Generationen informierten, ob sie heute, durch Bücher belehrt, einen etwas weiteren Horizont überblicken, das ändert nicht viel an der Grundüberzeugung: so wie wir es heute erleben, so war es immer, so wird es dauernd bleiben. O, das bezieht sich nicht auf die Details, bewahre! Von dem ewigen Fluß der Form, ja des Inhalts sind sie jetzt wohl allesamt überzeugt; und in dieser Hinsicht wissen sie aus Rückschau und Prognose ganz ansehnliche Konstruktionen zu errichten. Sie erzählen von zerstörten Werten und schreiben mit einem gewissen Sportgefühl neue auf ihre Tafeln. Nur daß jene alten und diese neuen Werte sich im letzten Grunde doch nur zu graduellen und nicht zu prinzipiellen Unterschieden bekennen. Sie würden heute ihren Chidher nicht mehr kindisch belehren: die Stadt stand immer an diesem Ort und wird so stehen ewig fort; sondern mit gewaltigen Perspektiven berichten und orakeln: diese Stadt war ursprünglich ein wendisches Fischerdorf, hat sich mit fabelhafter Schnelligkeit zu einer Weltstadt entwickelt und wird bei Ablauf des Jahrhunderts 20 Millionen Einwohner zählen. Dieser Sandboden ist der Rückstand eines Meeresgrundes, und es erscheint geologisch nicht ausgeschlossen, daß er in ferneren Jahrtausenden wieder einmal überflutet wird. Aber keiner wird auftreten und sagen: Lieber Chidher, bei deiner Wiederkehr in 50 000 oder in 100 000 Jahren wird deine Frage ihren Sinn verloren haben; Frage und Antwort werden sich nicht mehr ergänzen; du wirst keinen Menschen finden, der ein Interesse hat, dir Rede zu stehen, und vor allen Dingen, in dir selbst wird der Trieb der Neugier, der Drang zur Orientierung und Forschung einem Novum von Empfindung Platz gemacht haben, das wir heute noch gar nicht kennen.

Aber wir wollen uns gar nicht so weit ins Spekulative und Transzendente verirren, und wir wollen überdies statt der hier supponierten 100 000 Jahre einen kürzeren Zeitraum beanspruchen, sagen wir, um es ganz knapp und rund zu fassen, ein Jahrtausend. Chidher kommt also bei seiner zweiten Wiederkehr von heut ab, ganz gegenständlich angenommen, nach Berlin, das, ganz bescheiden gerechnet, östlich bis Frankfurt a. O., westlich bis Stendal, nördlich bis Neustrelitz, südlich bis Röderau reicht und billig taxiert 300 Millionen Berlinern räumliche Unterkunft gewähren kann. Wir befinden uns da außerhalb jeder abenteuerlichen Spekulation, gänzlich auf dem Boden der Zukunftswirklichkeit die wir mit unserer Annahme nach Maßgabe der Progressionen in den jüngsten Jahrzehnten eher zu klein als zu groß ansetzen. Der Wanderer, der sich in diesem Gemeinwesen oberflächlich zu orientieren beabsichtigt, fragt nach den künstlerischen Bildungsanstalten, nach dem Nationalmuseum, nach den Konzertsälen, nach den Operntheatern, und ihm wird der Bescheid: das alles existiert hier nicht. Wir wissen zwar aus der Geschichte und aus unserer Lokalchronik, daß dergleichen hier einmal früher gepflegt wurde. Du lieber Gott, was wird nicht alles als wertlos erkannt und abgeschafft. Wir hatten ja früher auch einmal ein königliches Schloß, ein Stadtparlament, eine Ruhmeshalle, eine Hochbahn, wir hatten Krematorien, Aerogaragen, Radiomobilrennbahnen, Stierkampfarenen und wie all das prähistorische Zeug heißt, über das Sie sich aus unserem Stadtarchiv informieren können; wenn Sie wollen auch aus Büchern, die aus der Zeit stammen, in der noch Romane geschrieben wurden. Heute existiert das alles nicht mehr. Wenn Sie wünschen, wollen wir Ihnen auf dem Stadtplan die Punkte bezeichnen, auf denen in grauer Vorzeit Operntheater, Konzertsäle, Kunstschulen und Bildergalerien gestanden haben.

Von allen Seiten braust mir der Zuruf »unmöglich« entgegen, und wenn ich jetzt nicht sehr energisch standhalte, wird mich die Hochflut der Entrüstung hinwegschwemmen, die Lawine der Proteste verschütten. Und selbst die Evolutionstechniker unserer Zeit, die über längeres Gedärm und längere Prognosen verfügen als der Durchschnitt, werden mir entgegenhalten: du verwechselst die Form mit der Sache. Daß die Form sich ändert, ist sicher; daß sie sich zu immer höheren Erscheinungen sublimiert, ist wahrscheinlich; daß sie Zielen entgegendämmert, die außerhalb unseres Horizontes liegen, ist möglich; aber daß die Sache selbst jemals verschwinden könnte, das ist undenkbar.

Um hier überhaupt den Boden für eine Debatte zu gewinnen, wird es vorteilhaft sein, den Begriff der Unmöglichkeit einmal etwas herzhafter ins Auge zu fassen. Blättern wir also zuvörderst einmal in der Historie, um zu erkennen, ob im großen und ganzen die Wahrscheinlichkeit des Irrtums mehr bei den Anhängern der Möglichkeit oder bei den Fanatikern der Unmöglichkeit gewesen ist.

 


 


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