Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Hörbilder und Sehklänge

Allein in der Zeit der verfeinerten Nervenkünste spüren wir wohl alle, daß es sich hier nur um ein Provisorium handeln kann. Die Art, wie ein zur Höhe des Raffinements geschultes Künstlerauge heutzutage den Wechsel der Beleuchtung, die Folge optischer Stimmungen in einer Landschaft oder auf einem Menschenantlitz beobachtet, empfindet und genießt, ja sogar auf niederer Stufe das Entzücken, mit dem das profane Auge bei den Tricks einer Serpentintänzerin auf der Farbenskala umhertaumelt, lassen darauf schließen, daß sich im Auge die Ansätze einer neuen Entwicklung vorbereiten. Genau so, wie das Ohr vormals sich von der Ausschließlichkeit der linearen Urmelodie befreite, so will das Auge nunmehr aus den Zwangsdimensionen heraus, in denen seine künstlerischen Erregungen gefangen liegen. Es zeigt die offenbare Tendenz, die Dimension der Zeit als eine Quelle des Genusses hinzuzuerobern. Das ist allerdings keine von Saison zu Saison verfolgbare Angelegenheit, und ich selbst bin weit von der Annahme entfernt, daß wir noch in der Philharmonie Fugen und Sonaten in Farben erleben könnten. Im Rahmen dieser Betrachtung soll ja auch nur entwickelt werden, welche Erweiterungen des kunstempfangenden Sinnenapparates denkbar erscheinen; und ich bitte Sie, besonders beim nächstfolgenden möglichst energisch die landläufige und wie ich Ihnen erzählt habe in zahlreichen Fällen ad absurdum geführte Vorstellung der »Unmöglichkeit« zu unterdrücken.

Denn in eine wirklich recht abenteuerliche Zukunftsmusik beabsichtige ich Sie jetzt zu verleiten, in ein Experimentalgebiet, auf dem Hörbilder und Sehklänge aus anscheinend widernatürlicher Paarung und Kreuzung entstehen sollen.

Der Apparat, durch den wir die Natur zur Herausgabe größter Kunstgeheimnisse überlisten wollen, ist der zwar noch nicht vorhandene, aber im Prinzip gänzlich unbezweifelte, durch die Versuche Szczepaniks, Andersens, Ruhmers und die Fernphotographie Korns auf praktische Grundlage gestellte elektrische Fernseher. Wir stehen hier hart an der Schwelle eines Zaubers, der neue Geheimnisse der Kunst zu erschließen befähigt erscheint. Er öffnet die seit Urzeiten erträumte Möglichkeit, zwischen Schall und Licht eine Brücke zu schlagen, oder um gleich den verwegensten Ausdruck dafür festzustellen, Bilder in Klänge und Klänge in Bilder direkt zu verwandeln.

Ich möchte mich mit der Erörterung der technischen Grundlage dieser Erfindung nicht aufhalten; es genüge, an das wunderbare Medium der Selenzelle zu erinnern, die, verschiedenen Graden der Belichtung entsprechend, verschiedene Leitungswiderstände für den elektrischen Strom darbietet. Man vergegenwärtige sich: wenn der Lichtstrahl gezwungen werden kann, in einer Leitung Induktionsströme zu erzeugen oder zu verändern, so müßte ein in diese Leitung eingeschaltetes Telephon nun auch in seiner Weise diese Wirkung aufnehmen und wahrnehmbar machen. Das Hörtelephon verwandelt aber naturgemäß solche Induktionserscheinungen in Klänge. Was also an der Empfangsstation als Bild eintritt, würde im Zwischenapparat als Ton erscheinen, und wenn am Ursprung bewegte Bilder, sichtbare Vorgänge aufgenommen werden, so müßten sich diese in einer Folge von Tönen, in tönend bewegter Form kundgeben – immer vorausgesetzt, daß der Apparat vollkommen funktioniert.

Und hier stehen wir vor einer neuen Möglichkeit, an die sich die unerschrockenste Phantasie vorerst nur mit schüchternem Zagen herangetrauen darf. Wie werden wir diese tönend bewegte Form empfinden? Wird sie für uns nur chaotisch unverständliches Geräusch sein, oder Musik?

Der Zufall hat es gefügt, daß der Erfinder des musikfeindlichen Antiphons (Pleßner) auch die erste Anregung zur Beobachtung dieser zukunftsmusikalischen Erscheinungen geliefert hat. In seiner (vor dreißig Jahren erschienenen) Schrift »Die Zukunft des elektrischen Fernsehens« sucht er bereits die hier hineinspielenden Fragen zu umschreiben. Er beginnt mit elementaren Figuren und Körpern, deren ewiges Schweigen durch die Telektroskopie gebrochen werden soll. Die Gestalt eines Vierecks muß bei akustischer Verwandlung ein anderes Tonbild hervorrufen, als das von einem Kreise oder Dreieck gewonnene, ein Würfel muß anders klingen als ein Kegel oder Prisma. Gehen diese Figuren aus dem Zustand der Ruhe in die Bewegung über, so wird sich die Veränderung des Klangbildes in deutlich unterscheidbaren Modulationen offenbaren. So überschreiten wir auf einem schmalen Stege den Abgrund, der das Gewohnte vom Geahnten trennt und wir betreten ein neues Naturreich, in dem die Steine nicht nur bildlich genommen, sondern nach allen Regeln der Akustik zu reden beginnen.

Um die Probe auf das Exempel zu machen, verlassen wir das Gebiet der greifbaren Gegenstände und richten den Empfangsapparat gegen das Firmament. Da tauschen plötzlich Blitz und Donner ihre Rollen: der Blitz wird optophonisch hörbar, und wenn wir das Beobachtungsverfahren umkehren, so sind wir imstande, den Donner in eine Reihe von Lichterscheinungen aufzulösen. Für unser künstlerisches Empfinden wird dabei freilich noch nicht viel gewonnen werden; denn da diese Phänomene zeitlich durchaus voneinander abhängig bleiben, so wird der Blitz ein Konzert von minimaler Dauer, also einen Knall liefern, und diesen Knalleffekt hat er ja eigentlich bisher auch ohne alle Apparate zustande gebracht.

Dagegen werden die Gewitterwolken in ihrer Bewegung wie all die andern bisher noch stummen Vorgänge am Himmelsgewölbe, der Regenbogen, das zuckende Nordlicht, der in Phasen dahinziehende Mond, der Wandel der Gestirne, auf unseren Apparat projiziert, eine Reihe bewegter Klangbilder auslösen, die mit der Musik mindestens eine sehr wichtige Eigenschaft, nämlich die Ausdehnung in der Zeit, gemein haben werden. Und hier berührt sich die Voraussicht mit der Erinnerung, da die Idee einer das Weltall erfüllenden Musik zu den Vorstellungen gehört, mit denen die Künstler aller Zeiten gespielt haben. Bei Pythagoras war diese Vorstellung als eine philosophische Abstraktion geboren, aus dem Wesen der Zahl gewonnen, die ebenso die Abstände der Himmelskörper wie die Beziehungen harmonischer Töne bestimmt. Nach dem Glauben der Pythagoräer existierte die Sphärenmusik wahrnehmbar nur für das besonders begnadete Ohr ihres Meisters. Späterhin verdichtete sich die Vorstellung auf eine bestimmte Sphäre, indem sie besonders den Sonnenaufgang mit tönenden, ja geradezu konzertanten Attributen umgab. Bei Ossian bricht die Sonne tönend aus den Wolken hervor, eine Anschauung, die wir in der Personalunion Phöbus-Apollo mythologisch vorgebildet finden. Aber wie stets, wenn es sich um das Eindringen in tiefe Weltgeheimnisse handelt, bietet Goethe hierfür den klarsten und entschiedensten Ausdruck:

»Jetzt eröffneten heftig des Himmels Pforte die Horen,
Und das wilde Gespann des Helios, brausend erhub sich's.«

Nähern sich diese Verse der »Achilleis« nur allgemein der vorhandenen Vorstellung, so erhebt sich Ariel im Himmelsprolog des Faust zu der bestimmten Ansage:

»Die Sonne tönt nach alter Weise
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschrieb'ne Reise
Vollendet sie mit Donnergang«;

während Ariel im zweiten Teile des Faust mit weitausgreifender Prophezeiung die gesamte Optophonie kommender Jahrhunderte in den flammenden Worten verkündet:

»Horchet! horcht dem Sturm der Horen!
Tönend wird für Geisterohren
Schon der neue Tag geboren.
Felsentore knarren rasselnd,
Phöbus' Räder rollen prasselnd,
Welch Getöse bringt das Licht!
Es trompetet, es posaunet,
Auge blinzt, und Ohr erstaunet!«

Aber das tönende Geheimnis soll, einmal geoffenbart, nicht nur die Ahnung des Dichters bestätigen, sondern auch über all das Aufschluß geben, was wir hier unter dem Sammelbegriff »Letzte Fragen der Kunst« zusammenfassen. Funktioniert das Optophon in absehbarer Zeit wirklich so, wie wir im Zuge dieser Betrachtung annehmen wollen, so muß es die Kraft besitzen, jeder irdischen Erscheinung ihr Tonbild abzufangen, jede Person, jeden Vorgang in Klänge zu übersetzen, von jedem Ereignis ein symphonisches Gegenstück zu entwerfen. Alle unsere Erfahrungen auf diesem Gebiete erheben sich bis heute kaum über den Nullpunkt. Was wir davon wissen oder zu wissen glauben, beschränkt sich auf einzelne Ausdeutungen, die das Sichtbare in den Gehirnen der Komponisten erfahren hat. Wenn uns »Meeresstille und glückliche Fahrt«, wenn uns die traumhaften Flüsterstimmen einer Sommernacht in Klangform erscheinen, so geschieht dies auf dem Umwege über Arbeiten Mendelssohns, dem die Natur die äußere Anregung, aber gewiß nicht die musikalischen Motive lieferte. Erst durch das optophonische Instrument wird uns die Natur verkünden, wie sie selbst so etwas komponiert. Beethovens Egmont- und Coriolan-Ouvertüre, die Faustmusiken von Wagner und Liszt zeigen uns dramatische Erregungen in instrumentaler Umdeutung. Aber vom Drama zur Komposition führt keine nachweisbare physikalische Verbindung; zwischen beiden klafft vielmehr das Grundgesetz der vorgeschrittenen (Hanslickschen) Ästhetik: die Musik kann überhaupt nicht darstellen. Die neue Erfindung macht sich anheischig, an diesem Fundamentalsatz zu rütteln, indem sie dem angeschauten Drama, dem im Mienen-, Muskel- und Augenspiel objektivierten inneren Vorgang ein tönendes Bekenntnis abfordert. Wir werden erfahren, wie das Drama als bewegte Erscheinung klingt, wenn dem Ohre vermöge einer neuen Waffe vergönnt wird, das Unerhörte zu erhorchen. Wir werden einen Kontrollapparat für alle Programmmusik gewinnen, vielleicht sogar einen Kompositionsapparat, immer mit dem Vorbehalt eines vorsichtigen »Wenn«, das der Wirklichkeit verstattet, mit einem niederschlagenden »Aber« zu antworten.

Und damit man mich nicht beschuldige, eine Hypothese in ausschließlich phantastischem Sinne ausgesponnen zu haben, möchte ich schon heute meine Meinung dahin aussprechen, daß jenes Wechselspiel von Wenn und Aber der gesamten optophonischen Zukunftsmusik einen starken Dämpfer aufsetzen wird. Nicht bis zur Unhörbarkeit wird sie gedämpft werden; denn die physikalische Möglichkeit, Licht in Schall zu verwandeln, läßt sich heute nicht mehr bestreiten. Aber wenn sich auch die für das Auge bestimmten Botschaften in das Ohr schmuggeln lassen, so müßte doch die Natur bis zum Übermaß gnädig gesinnt sein, wollte sie unter dem Zwange einer neuen Vorrichtung dem Gehörsinn besondere Annehmlichkeiten zuführen. Solche Gnade haben wir vorerst nicht zu erwarten. Was wir heute Musik nennen – ich lege den Akzent auf das »heute« und schließe das »übermorgen« aus – was wir als Musik empfinden – ich betone das wir im Sinne einer noch immer stattlichen Majorität – das ist auf der Basis der diatonischen und chromatischen Tonfolge aufgebaut; und für diesen Verfassungsartikels unseres Musiksinnes besitzt die elementare Natur weder Verständnis noch Neigung. Die Laute, die sie aus eigenem Antrieb erregt, mögen uns als Begleitmomente sichtbarer Erscheinungen erfreuen, rühren, berauschen, erschüttern, sie mögen uns lieber sein als manches Konzert, aber sie wirken rein emotionell, nicht tonkünstlerisch, da sie nicht in das System passen, auf das unser musikalisches Ohr eingeschworen ist. Auf dieses System kann die Natur auch dann keine Rücksicht nehmen, wenn sie, durch die elektrischen Ströme des Optophons überrumpelt, sich zu den verlangten Klangäußerungen verstehen sollte. Die in das Feld der Akustik verschleppte und dort vergewaltigte Optik wird wahrscheinlich schreien, aber nicht singen. Denn dem stetig bewegten Sehbilde muß folgerichtig ein kontinuierlich verschobenes Klangbild entsprechen; wir haben mithin von diesem Prozeß im besten Falle ein tönendes Portament ohne abgestufte Intervalle, wahrscheinlich aber nur ein Sausen gestaltloser Klangmassen zu erwarten.

Aber vielleicht könnte man aus dem Instrument in umgekehrter Wirkung einen Kontrollapparat entwickeln. Die Chladnische Tafel gewährt uns schon heute ein Mittel, den einfachen Ton in eine Figur zu verwandeln. Die Photooptik könnte weiterhin dazu führen, eine melodische oder unmelodische Fortschreitung in Form einer farbig bewegten Figurveränderung darzustellen. Zu der Frage: Wie klingt eine Erscheinung? träte dann die weitere: Wie sieht eine Tonentwicklung aus? Wie urteilt das Auge als Instanz über das Abbild eines Tonwerkes? Der Analogieschluß müßte lauten: Auch für die Schönheitsempfindung des Auges wird dabei vermutlich nichts herauskommen; schon deshalb nicht, weil im Auge das Kunstorgan für transitorische Farbenwerte nur minimal entwickelt ist. Diese Prognosen, zumal die akustische, nehmen sich freilich ziemlich melancholisch aus im Verhältnis zu der ungeheuren Perspektive, die wir zuvor aufgemacht hatten. Sie wird indes dadurch nur eingeengt, keineswegs verschlossen. Der Naturalist mag darüber trauern, daß die Allmeisterin Natur bei der Aufnahmeprüfung durch das Zukunftsinstrument als dauernd untauglich für die Komposition zurückgestellt werden soll; dem Programmkomponisten mag es wiederum zum erfreulichen Troste gereichen, daß seine Tätigkeit durch keinen optophonischen Apparat ersetzt oder überflügelt werden kann. Aber beiden Kategorien, den verwegenen Naturalisten wie den idealisierenden Tonmalern, wird anzuraten sein, auf diese Empfindungen des Momentes keine Ewigkeitsrechnung zu gründen. Ich hoffe, Ihnen zu zeigen, daß wir uns auf ein Wunderbares einzurichten haben, das gar nicht mit den Attributen der Wunderschönheit aufzutreten braucht, um grundstürzend zu wirken.

Denn bisher waren wir selbst noch im phantastischen Ausblick an eine Zwangsvorstellung gebunden. Uns gilt unveränderlich das Ohr als ein Gehörapparat und als weiter nichts. Künstlerisch genommen bewegt es sich zwischen den Polen Lust und Unlust beim Empfang guter oder schlechter Musik. Aber wenn jemand dem Ohr zumuten wollte, Dinge zu erfassen, die außerhalb der Klangwelt liegen, so erschiene das auf den ersten Anhieb so absurd, als wollte einer die Fähigkeit der Nase diskutieren, im Dreivierteltakt zu riechen, oder die der Fingerspitzen, den Reiz einer Gesangskoloratur zu fühlen.

 


 


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