Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Verminderter Personenkultus

Zeitgenossen, denen der Gedanke an die Erschöpfbarkeit einer Kunst niemals durchs Gehirn geschossen ist, geben doch ohne weiteres zu, daß die Huldigungen, welche die Neuzeit den Kunsterscheinungen entgegenträgt, nicht mehr den allgemeinen, unbedingten, stürmischen Charakter aufweisen, wie die der vorigen und vorvorigen Generation. Zu den beliebtesten Gesprächsstoffen ästhetisch gebildeter Kreise zählt dieses Thema, das gemeiniglich unter dem Schlagwort Personenkultus abgewandelt wird. Nimmer müde werden die älteren und ganz alten Herrschaften den jüngeren gegenüber, und wenn so ein Gespräch zehn Minuten gedauert hat, so kann man sicher sein, daß die Namen Liszt, Rubinstein, Hans von Bülow, Paganini, Albert Niemann, Schröder-Devrient, Jenny Lind, Henriette Sontag, Pauline Lucca, Fanny Eisler, Marie Taglioni, Dawison, Devrient, Adelina Patti als unbesiegliche Trümpfe in der Debatte umherfliegen. Da können die jüngeren nicht mit, und sie merken gar bald, daß sie mit ihren Gegentrümpfen d'Albert, Careño, Rosenthal, Fritz Kreisler, Sorma, Kainz, Matkowsky, Durieux, Vecsey, Caruso nicht viel auszurichten vermögen. Sie geben auch gern zu, daß der ganze Erfolgsmaßstab der Persönlichkeit gegenüber ein anderer geworden ist. Jene Begeisterung, die ehedem vor den großen Darstellern wie ein Steppenbrand einherflog, um jedes anders geartete Interesse zu Asche zu verbrennen, kann heutzutage weder entfacht werden, noch Nahrung finden. Sie waren die Unvergleichlichen, sie allein. Nicht einmal der Komponist, dessen Werke sie interpretierten, wurde mit ihnen verglichen. Einen Primadonnenkultus – Primadonna weiblich und männlich genommen – gibt es nicht mehr, diese Religion ist völlig erloschen. Von dem ganzen Ritus ist nichts übrig geblieben als einige klischierte Rezensentenausdrücke, die sich noch an die frühere Terminologie des Unerhörten und Unvergleichlichen anlehnen, und die heute wie vererbte Gebetsfloskeln heruntergeschnurrt werden, ohne daß sich jemand etwas Besonderes dabei denkt. Die innere Überzeugung war nur dabei, als man sich noch nahe der Zeit befand, in der für Beethoven die öffentliche Mildtätigkeit angerufen wurde, während man eine Henriette Sontag mit klingenden Schätzen bewarf. Man kann vielleicht noch weiter gehen und die Existenz der Primadonna in gegenwärtigen Zeitläuften überhaupt leugnen. Es gibt nur noch Damen, die für erstes Fach engagiert werden und im besten Fall das mehrfache Gehalt eines gewöhnlichen Ministers beziehen. So eine Prima avanciert mit der Zeit zum Liebling des Publikums, wird von den Lokalblättern zur Nachtigall ernannt, erscheint porträtiert in den Illustrationszeitungen, wird auf Ansichtspostkarten fleißig von Backfischen gekauft und erhält schließlich das Verdienstkreuz der Kunst, oder eine Brosche mit des Staatsoberhaupts Namenszug in Diamanten, die zusammen einundeinhalb Karat wiegen. Singt sie in einem Konzert, so erregt es Aufsehen, wenn der Saal bei ordinären Preisen gut besucht ist; nach dem Geldwert von heute und sonst berechnet erzielte ihre Schwester im Apoll von ehedem das Zwanzigfache als Selbstverständlichkeit. Drei oder vier Hervorrufe genügen, um der Sängerin sechs oder sieben Wiederholungen und Zugaben abzunötigen, und wenn dann noch einige Damen im Parkett die Taschentücher schwenken, so ist der kolossale Erfolg fertig. Der Student von heute spannt keine Pferde mehr aus, und wenn man ihm erzählt, daß die Göttinger Kommilitonen den Postwagen der Sontag in den Fluß warfen, weil kein Sterblicher mehr würdig sei, das nämliche Gefährt zu benutzen, so wird er die Vorzeit nicht um ihre Begeisterung beneiden, sondern wegen ihrer Eselei bedauern. Gegen die Ausbrüche fanatischen Enthusiasmus der Catalani gegenüber mußte die Landesbehörde einschreiten, weil die Delirien einen revolutionären Charakter annahmen und die Ruhe der Ortschaft bedrohten. Heutzutage trinkt der Kritiker nach der Vorstellung erst gemütlich sein Glas Bier, dann stilisiert er, wenn ihm die Sache gefallen hat, einen lobenden Artikel, dessen wohldurchdachte Anlage dem Leser von der inneren Harmonie des Schreibers Kunde gibt. Das wurde früher etwas temperamentvoller besorgt. Der alte Fétis erzählt in seiner Biographie universelle, daß zu seiner Zeit die Berichterstatter nach dem Kunstereignis gewöhnlich erst mit kaltem Wasser abgegossen werden mußten, bevor sie imstande waren, den ersten Satz zu Papier zu bringen. Und dieser erste Satz begann häufig genug damit, daß der Autor sich als soeben vor Entzücken verrückt geworden vorstellte. Rubini konnte sich von den Erträgnissen seines hohen C ein Herzogtum kaufen; die männliche Primadonna Caruso wird mit einem Landgut zufrieden sein; und Caruso muß doch wenigstes dafür Rollen singen. Das hatte Rubini nicht nötig. Zu ihm kam man ins Theater, um den weltbewegenden Triller mit dem Sprung aufs B zu hören. Um diesen einen beseligenden Moment ertrug man es, daß er vorher zwei Stunden lang mit Viertelstimme andeutete, man hörte ihn gar nicht und versetzte ihn wegen einer Sekundenleistung unter die Götter.

Heute haben wir mit anderen Faktoren des Erfolges zu rechnen. Der Maßstab wird bestimmt durch das Verbot des Hervorrufs, durch das Verbot des Dakaposingens, durch die von Wagner aufgestellte Forderung, der Künstler solle sich durchaus und unbedingt in den Rahmen des Kunstwerks eingeschlossen fühlen; er wird bestimmt durch die Verkümmerung der emotionellen Fähigkeiten und durch den Generalbefehl der modernen Ästhetik: Laß dich nicht verblüffen! Die elektrische Spannung innerhalb einer Hörerschaft entlädt sich nicht mehr in Blitzschlägen, sondern wird durch beschauliche Überlegungen neutralisiert, die Eindrücke werden »verinnerlicht«. Wenn heute noch der Rezensent über das idiotische »tadellos« gelegentlich zu einem »beispiellos« oder »unerhört« emporgreift, so ist er selbst weit entfernt davon, diese Ausdrücke für ernst zu nehmen. Sie sind Resonanztöne aus entschwundener Zeit, fossile Sprachreste, erstarrte Superlative, deren Geltung darauf beruht, daß die jeweilige Saison mit der Zeitspanne eines Jahrhunderts und der Feuilletonstrich mit dem Horizont der darstellenden Kunst verwechselt wird.

 


 


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