Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Wille und Emotion

Wenn auch die Musik nicht das Abbild des Weltwillens ist, wie Schopenhauer meint, so bietet sie doch erkenntnisfördernde Vergleichspunkte mit dem Willen. Ich habe bereits darauf hingewiesen und möchte nunmehr die Parallele um ein Stück verlängern. Mit den Verlängerungsstrichen werden wir schließlich auf das arrogante Gegenstück zur Komposition stoßen, auf die Emotionsfähigkeit. Und ich glaube, Ihnen beweisen zu können, dass es auch bei dieser nicht viel trostreicher aussieht; dass, um beim Bilde zu bleiben, die Kündigung jenes Guthabens mit der Verarmung der Gläubigerin, der Emotion, zusammenhängt.

Die Überzeugung von der Unfreiheit des Willens braucht im Individuum gar nicht lebendig zu sein; in einem größeren Kreise weiß sich diese Überzeugung schon durchzusetzen. Der Determinismus ist der stärkste politische und soziale Faktor aller Zeiten. Der Einzelne fühlt ihn nicht, aber die Masse gehorcht ihm. Während das Individuum in dem unbesieglichen Wahne lebt, seinen Willen frei zu betätigen, zwingt die Masse allen Willen immer entschiedener in die Klammern des Gesetzes. Immer geringer wird die Willensgenialität, immer seltener der Willensmensch und die große Aktion des Willens. Das »Sic volo, sic jubeo« ist eine papierene Formel ohne sichtbare Begleiterscheinung geworden, eine Vogelscheuche, auf deren Hut die Krähe hockt. Jede wachsende Kultur ist willensfeindlich, jede starke Handlung stört sie im Leben wie in der Kunst, besonders auch im Schauspiel. Man will Stimmung, Milieumalerei und empfindet mit verfeinerten Sinnen eine kräftige Bewegung als Brutalität. In der Parallele stehen die Tonerzeuger mit ihrem künstlerischen Determinismus, der sich hier als das formale Prinzip kundgibt. Dem starken Willen im Leben entspricht die eruptive, überrumpelnde Erfindung in der Musik; jene Erfindung, wie sie in der Fünften Sinfonie von Beethoven den Gardisten zu dem Triumphruf: »c'est l'empereur!« aufstachelte; wie sie im Freischütz allem Singen und Klingen des Volkes eine neue Orientierung gab; wie sie in der Marseillaise ein Schlachtruf wurde, dessen strategische Bedeutung eine Armee aufwog. Wenn solche Erfindungen seltener werden, selten bis zum Fastverschwinden, so ist der Trost, das könne sich wohl einmal ändern, auf das Diminuendo könne ein Crescendo folgen, ein recht kümmerlicher. Gewiß geht es in der Kunst niemals geradlinig zu, aufwärts bis zum Zenit und abwärts bis zum ewigen Nullpunkt; überall gibt es Zickzack und Spiralen. Aber gelegentliche Rückfälle können das Gesamtbild der Entwicklung ebensowenig ändern, wie gelegentliche Vorstöße. Die Abweichungen von der großen Linie sind eine Frage des Zufalls in den einzelnen Talenten. Die große Linie selbst aber wird von übergeordneten Prinzipien bestimmt. Trotz aller Seitenexkursionen geht die Reise nach Nirwana; dorthin, wo der Wille erlischt und die tonkünstlerische Erfindung stillsteht, was ja nach buddhistischem Glauben identisch sein mag mit dem absoluten Gefühl der Glückseligkeit.

Wissenschaft und Technik, Bildung und Kultur, Besitz und materielles Wohlbehagen, – diese Faktoren sind in Rechnung zu stellen und können gar nicht hoch genug eingestellt werden, wenn man den Abschwung des Tatwillens und der mit ihm unlöslich verknüpften Kunstemotion ermessen will. Die Zeit der Heroen ist unwiederbringlich dahin. Zu ihrer Hervorbringung gehört ein Weltganzes, das mit Göttern und Fabelwesen bevölkert ist, gehört eine Tiefe der Menschenmasse, die noch nicht an die Erhebung ihres Niveaus denkt, gehört Unterwürfigkeit, frommer Glaube und eine schrankenlose Phantasie, die in jedem Moment bereit ist, mit dem Unglaublichen zu spielen, Offenbarungen zu erwarten und sich von göttlichen Menschenwundern überwältigen zu lassen. In ihrer Voraussetzung finden wir die Wildnis, den Krieg aller gegen alle, die ungezähmte Natur, die Grausamkeit, die Herrschaft der Dämonen und den Schrecken in jeder Gestalt. Sie konnten sich entwickeln in Urzeiten, beim Beginn der Staatenbildungen, die jenseits enger Grenzen das Chaos, das große Unbekannte vermuteten, in den Weltreichen des Altertums, die auf Herden blindgläubiger Knechte gegründet waren, in der Renaissance, in der Zeit des Konquistadoren- und Rittertums, der Glaubens- und Städtekriege, zuletzt vielleicht als Folge der Eroberung der Menschenrechte in der erwachenden Selbstbestimmung der Völker. Aber selbst der Cäsar der Neuzeit verhält sich zu dem des Altertums wie das Bataillon zur Phalanx, wie der Degen zum Schwert, wie militärische Technik zu kriegerischer Legende. Nur noch in Bildern der Farbe und des Gleichnisses ist er ein Heros, ein Gott; weit entfernt bleibt er vom Urtypus, der zu den schmeichlerischen Bildern erst das lebende Modell geliefert hat. Wenn wir heute mit dem Gedanken an den Übermenschen liebäugeln, so meinen wir den, der gewesen ist, dessen Erscheinung wir sehnsüchtig und vergeblich auf die Gegenwart und Zukunft projizieren wollen. Er wird nicht wiederkehren, er kann es nicht. Der Held stürmt nicht mehr voraus, er wirkt hinter der Front, als strategischer Schachmeister, der seine Züge telegraphisch bekannt gibt. Die Schlacht wird nicht mehr im Felde gewonnen, sondern in den vorbereitenden Papieren und Kalkülen des Generalstabs. Nicht der Wille entscheidet, sondern der Intellekt, an die Stelle der heroischen Geste ist das Schweigen getreten. Vor der Standarte flattert das rote Kreuz, neben der Fanfare tönt die Flöte des Mitleids, hinter den Entschlüssen lauert das internationale Schiedsgericht. Die Feuerlinie wird nicht mehr gesehen, nicht mehr gehört, keiner weiß, gegen wen er kämpft, das Schlachtfeld stellt eine große Leere dar, auf der nicht Tatwille und Kraft, sondern die technischen Ergebnisse der Laboratorien die Entscheidung treffen. Das ist die Basis unseres Heldentums, unserer Achilles, Leonidas, Scipio und Hannibal!

Heute gehört keine große Prophetie mehr dazu, um zu erkennen, daß der Krieg überwunden wird vom Kriege. Technik und Wissenschaft, internationales Bewußtsein und weiteste Interessengemeinschaft vereinigen sich und finden den unbesiegbaren Bundesgenossen in der Unmöglichkeit, Millionen bei völlig ausgeschaltetem Heroismus kriegerisch zu bewegen. Und vor diesen Kräften verschwindet mit aller Sicherheit die Plattform, auf der die Menschheit überhaupt die Größen des Gewaltwillens spielen sehen kann.

Wer war früher unter den Trägern der Macht impulsiv und wer ist es heute? Früher war es der Mann, der über den Rubikon ging, der Rom anzündete, der das Meer peitschte, der das Blut des Feindes trank. In der erlebten Neuzeit zeigte sich das Muster der Impulsivität in der unvermuteten Ernennung oder Absetzung eines Ministers, in der Entgleisung des Wortes, in einer rasch hingeworfenen Depesche, in der Verranntheit auf den Augenblickseffekt, ohne die Kontrolle einer die Fernwirkung ermessenden Überlegung. Nehmen wir zum weltlich Gekrönten das Gegenstück eines Kirchenfürsten: dessen starker Wille manifestierte sich früher in einer Feuerlinie von Scheiterhaufen, in Bullen, die alle Himmels- und Höllenmächte ins Treffen führten, wohl auch in fröhlichen Schlachten, bei denen er selbst mit bewaffneter Faust voranritt. Heute dokumentiert sich sein Wille bureaukratisch und redaktionell, er sucht in feinstilisierten Reskripten eine mittlere Linie, äußerstenfalls entzieht er einem Widerspenstigen die venia legendi. Der Jesuit von ehedem kämpfte für seine Weltmacht; heut ist er mit dem Willen in die Klasse des Intellekts abgewandert, er treibt Differentialrechnung, mikroskopiert und bestimmt Kometenbahnen. In absehbarer Zeit wird er einen Lehrstuhl für modernistische Philosophie, für Darwinismus bekleiden, dem er nach Maßgabe seiner wissenschaftlichen Neigung schon heute gewachsen ist.

 

Den großen Willensmenschen entsprechen wörtlich und bildlich genommen die großen Distanzen. In ihnen ruht eine Quelle der Emotion, die durch Jahrtausende ausgereicht hat, um die Werke der Phantasie mit unendlichen lebendigen Kräften zu treiben. Halten wir das Sonst wiederum gegen das Jetzt. Die Erde wird als Unendlichkeit vorgestellt. Nur der Weitblick auserlesener Geister wagt sich bis an die Säulen des Herkules; darüber hinaus liegt ein unvorstellbares Vakuum, und selbst diesseits eine Unendlichkeit, die mit Dämonen, Schrecknissen, Abenteuern, zahllosen außerhalb des Begriffshorizontes liegenden Erscheinungen erfüllt ist. Jede Ortsveränderung ist ein Wagnis, in allen Organen der Natur nistet das Entsetzen. Nichts ist geordnet, klassifiziert, katalogisiert, dem Menschengeist unterworfen, an Regel, Gesetz, Wiederholung und Vergleich gebunden. Aus dieser räumlich und sinnlich gemessen ungeheuerlichen Distanz zu allen Dingen entwickelt die Phantasie Götter und Helden, Ober- und Unterwelt, Gespenster und Fabeltiere, Zentauren, Harpyien, Sirenen, Zyklopen, und als komplementäres Gegenspiel alle apollinischen Herrlichkeiten des Mythus. Und mit diesem Mythus entwickelt sich jene Vereinigung von Vorstellungen, von denen alle Klassiker und Romantiker der Welt bis auf unsere Zeit gelebt und gezehrt haben. Noch ist dieses immense Kapital nicht ganz aufgebraucht, und bis auf Jahrhunderte hinaus wird es Dichtkunst und Skulptur, Malerei und Musik versorgen. Aber wir merken doch schon, daß der Buchwert des Ganzen außerordentlich vermindert ist, sozusagen durch Abschreibungen im Doppelsinn des Wortes, und daß wir bereits den Reservefonds angegriffen haben. Für viele denkende Künstler zählen die Figuren des Mythus bereits zu den toten Symbolen; und die materialistische, hellasfeindliche Tendenz moderner Erziehung ist scharf am Werke, um die noch halbwegs Lebendigen sicher zu ertöten. Wenn erst die Frage aufkommen kann, wie sie wirklich gestellt wird, was für die Erziehung wichtiger ist, Griechisch oder Rudern, dann ist die Götterdämmerung nicht mehr fern. Und bricht sie herein, so wird damit wiederum eine Quelle der Emotionen verschüttet, für die wir einen Ersatz mit allen Wünschelruten der Kunstwelt nicht entdecken werden.

 


 


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