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Es war zehn Uhr vormittags. Vor der Tür des Verhandlungsaales standen drei, vier Menschen. Der Mitarbeiter einer Gerichtssaal-Korrespondenz fragte einen von ihnen: »Was geht drinnen vor?«
Der Gefragte machte eine geringschätzige Geste: »Gar nichts. Nichts für Sie. Diebstahl von dreihundert Gulden.«
Der Journalist eilte weiter. Bei der Erwähnung von dreihundert Gulden war die Sache für ihn schon erledigt. Er stürmte die Treppe hinauf.
Im Saal selbst saßen ein paar schläfrige Leute umher. Die Richter waren eben mit dem vorhergehenden Fall fertig geworden. Langweilig klang es durch die Stille des Vormittags: »Im Namen Seiner Majestät des Königs …«
Irgendeiner hatte ein paar Monate bekommen. Ein armer, verkommen aussehender Mensch. Die Herren murmelten noch ein paar Worte, auch der Staatsanwalt sagte etwas, dann klappte der Verteidiger seine Schriften zusammen, und der Verurteilte wurde abgeführt. Das alles ging ohne jede Erregung vor sich. Die Rechtsprechung fand hier sichtlich gelangweilt, fabrikmäßig oder doch zum mindesten gewerbsmäßig statt. An einem Vormittag wurden im Durchschnitt acht bis zehn Urteile gefällt – wobei sich niemand aufregte, in den meisten Fällen nicht einmal der Verurteilte. Denn fast jeder, der hierher kam, stand nicht das erstemal in diesem Zimmer vor dem Richter. Diese armen Leute gleichen ein wenig den gewissen Hausbettlern, die pünktlich an jedem Ersten bei Geistlichen, Bankiers und anderen Wohlhabenden erscheinen und ihr Almosen in Empfang nehmen. Fast ebenso regelmäßig erscheinen hier die Armen der sittlichen Weltordnung vor dem Richter, wenn auch nicht an jedem Ersten. Sie kommen immer erst, wenn ihre anderen Protektoren, die Polizisten, sie herbegleiten.
Der in der Mitte der Estrade thronende Richter sagte jetzt etwas, was aber nur die Zunächstsitzenden verstanden. Er nannte irgendeine Zahl. Die beiden anderen Richter schoben die Akten weg und nahmen ein neues Bündel vor. Der Staatsanwalt zog seine Lade auf und griff bis zum Ellbogen hinein. Der Diener ging hinaus. In der Türöffnung aber erschien jetzt Doktor Nikolaus Csathi und stieg die drei Stufen zum Staatsanwalt hinauf. Er wechselte einige Worte mit ihm und begab sich dann an den Platz der Verteidiger.
Es trat Stille ein.
Das Auditorium blieb das frühere. In den letzten Bänken schliefen zwei. Weitere vier, fünf, saßen dort umher. Ein alter Mann, dann zwei stämmige Männer, denen man ansah, daß sie aus der Provinz kamen und plötzlich Lust gehabt hatten, in der Hauptstadt einer Gerichtsverhandlung beizuwohnen, endlich ein kleiner Rechtshörer, der sich hier auf seine Prüfung vorbereitete. Er hatte ein Heft vor sich, in dem er las.
Als der Gefängniswärter Risa Nagy über den Korridor führte, lachte diese. Sie wußte selbst nicht weshalb, aber sie hatte plötzlich das Bedürfnis zu lachen. Es war keineswegs gute Laune, die sie dazu trieb, sondern irgendein kurioses, undefinierbares Gefühl, das sie plötzlich ihr ganzes großes Elend empfinden ließ – und sie zum Lachen zwang. Auf dem Korridor sahen ihr deswegen ein paar Leute flüchtig nach. Aber auch diese kümmerten sich nicht weiter um sie.
Herr Korda hatte mit feierlicher Miene auf der Bank Platz genommen, auf welcher der Privatkläger zu sitzen pflegt. Er trug einen Gehrock, hatte seine Brille aufgesetzt, und auf seinem Gesicht lag jene Ergriffenheit, die der einfache Mann immer zur Schau trägt, wenn er sich plötzlich unter so mächtigen Herren, wie es Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte sind, als wichtige Person vorkommt. Für Nikolaus hatte er keinen Blick. Er tat, als kenne er ihn überhaupt nicht, ja als sei er ihm ernsthaft böse. Denn Herr Korda faßte die Situation so auf, daß er hier das Oberhaupt der einen, der Risa feindlichen Partei sei, zu welcher er außer sich selbst den Staatsanwalt, die Richter und das Auditorium zählte. Die Gegenpartei aber bestand bloß aus dem Verteidiger und der Angeklagten. Wer vielen Gerichtsverhandlungen beigewohnt hat und weiß, in welchem Ton der Privatkläger oft mit dem Verteidiger des Angeklagten zu sprechen pflegt, der wird volles Verständnis dafür haben, daß sich Herr Korda nun als Oberdiktator vorkam, dem Herr Nikolaus Csathi in jeder Weise subordiniert war, besonders auch in sittlicher Hinsicht. Denn schließlich bestand die Korda-Partei aus Richtern und Anwälten, während die andere Partei doch sozusagen eine Diebespartei war. Und die Auffassung Kordas vom Verteidigerberuf erschöpfte sich in einem mißbilligenden Erstaunen darüber, daß sich ein gebildeter, gutgekleideter, diplomierter Mann nicht schäme, öffentlich die Partei eines zu ergreifen, von dem es sicher war, daß er gestohlen hatte, und den doch im Grunde jeder anständige, steuerzahlende Bürger verabscheuen müßte.
Das Beweisverfahren dauerte nicht lange. Daß Risa gestohlen hatte, war unbezweifelbar und wurde auch von keiner Seite in Abrede gestellt. Auch sonst sprach Risa sehr wenig. Sie tat, als interessiere sie das Ganze nicht, und warf Blicke auf die Richter, die deutlich besagten: Macht doch schnell, mich langweilt die Sache fürchterlich!
Dann sprach der Staatsanwalt. Es war keine Paraderede, die er vom Stapel ließ. Er holte einfach seine Gott weiß wievielte Schablone hervor, jene gewisse Wald- und Wiesenrede, wie sie eben so ein Dreihundert-Gulden-Prozeß verdient. Er betonte, daß Risa das Vertrauen eines einsamen alten Mannes mißbraucht, daß sie einen Mann betrogen und geschädigt habe, der sie fast an Kindes Statt ausgenommen, ihr die Leitung seines Geschäftes übertragen, ihr sein Vermögen anvertraut habe … Herrn Korda gefiel diese Rede ausgezeichnet. Dieser Staatsanwalt war ein kluger Mann. Der verstand es, Herrn Kordas Gefühle schön und wissenschaftlich auszudrücken. Es gefiel ihm außerordentlich, daß dieser Herr, den er nie im Leben gesehen hatte, so schön von ihm sprach, daß jemand, den er eigentlich gar nichts anging, dem er nie eine Gefälligkeit erwiesen hatte, sich jetzt so kraftvoll für seine Interessen einsetzte, mit so wunderbarer Beredsamkeit für Kordas Recht eintrat. Und Herr Korda dachte weiter, eine wie prachtvolle Einrichtung doch das Gericht sei, und wie gut es wäre, von nun an mit diesem liebenswürdigen Staatsanwalt gute Freundschaft zu halten, der doch offenbar ihm und seinem Geschäft lebhafte Sympathien entgegenbringe … Korda beschloß, ihn einzuladen, ihm den Laden zu zeigen, sich für die viele Güte irgendwie dankbar zu erweisen …
Der Staatsanwalt schmetterte noch ein paar kräftige Phrasen von der beleidigten Rechtsordnung, vom Schutze des bürgerlichen Erwerbes, von der Herzlosigkeit entgleister Individuen und von ähnlichen Dingen hervor, bei denen die Brust des Staatsanwalts schwillt. Dann verlangte er Risas strenge Bestrafung und setzte sich nieder.
Er atmete schwer und schien erschöpft. Herr Korda wäre gern zu ihm hinaufgegangen, um dem braven Manne mit seinem großen, blauen Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn zu trocknen. Da dies aber der Strafprozeßordnung halber nicht gut anging, war er gezwungen, all seinen Dank und Entzücken in ein einziges Lächeln zu pressen. Dieses Lächeln aber – das muß man sagen – war so zuckersüß, wie es nur einem Konditor gelingen konnte. Seine kleinen Augen erstrahlten hinter der Brille, und über sein wohlgenährtes Gesicht floß Heiterkeit und Befriedigung. Herr Korda war mit dem Staatsanwalt, mit der Rechtsordnung, mit dem Gesetz, mit dem Leben und überhaupt mit der ganzen Welt so zufrieden wie noch nie. Er hatte das Gefühl, daß es sich immerhin lohne, zu leben und einem Staat anzugehören, der in so väterlicher Weise auf die kleine Geldlade eines Konditors achte. Nein, nein – dachte Herr Korda – die Wilden tun unrecht daran, keinen Staat zu gründen …
Jetzt erhob sich Nikolaus.
Auf die Rede des Staatsanwalts hatte Risa kaum geachtet. Bald hatte sie zum Fenster hinausgesehen, bald hatte sie sich dem spärlichen Auditorium zugewandt. Als sie den kleinen Rechtshörer erblickte, der hinten in der letzten Bank Kirchenrecht büffelte, war ihr ein Lächeln auf die Lippen gekommen. Dann wieder musterte sie die Uniform der Saaldiener und nahm den Präsidenten in genauen Augenschein. Überall sah sie hin, selbst der lebhaft gestikulierende Staatsanwalt erhielt gelegentlich einen Blick, aber Nikolaus anzusehen, vermied sie peinlich.
Jetzt aber, da Nikolaus sich erhoben hatte und mit leiser, bescheidener Stimme begann: »Hochgeehrter königlicher Gerichtshof! …«, … jetzt blickte ihm Risa scharf in die Augen. Es war ein Blick, der deutlich besagte: Ich bleibe jetzt an dir haften, bis du dich wieder niedersetzt.
Nikolaus fühlte das, und dieses Gefühl verwirrte ihn bei den ersten Sätzen, die er sprach. Dann aber, als er erkannte, daß es vergebens sei, irgendwo anders hinzublicken, daß er sich weder an den Präsidenten wenden könne, der unausgesetzt in den Akten blätterte, noch an den Staatsanwalt, der vor sich hinstarrte und dessen Gesicht deutlich verriet, daß er an alles andere eher dachte, als an die dreihundert Gulden … da erkannte er auch, daß es für seine Augen jetzt keinen anderen Ruhepunkt gäbe als das flehende, vertrauende, verliebte Augenpaar, das ihm unter Risas schwarzen Augenbrauen entgegenleuchtete. Und so sah er von nun an tapfer, warm, ja begeistert in Risas Augen.
Nun entwickelte sich ein Kampf der Augen, in dem, wie immer, das weibliche Paar Sieger blieb. Und ob Nikolaus nun wollte oder nicht – er mußte das aussprechen, was Risa ihm diktierte. Man nehme das nicht wörtlich! Aber in der Seele von Nikolaus schlummerten Gefühle, für die er keinen Ausdruck gewußt hätte, wäre Risas Blick nicht so in ihn eingedrungen. Er hatte Gedanken, die er verschwiegen hätte, und die allein Risas Blick hervorzog. Dieser Blick bat, jammerte, forderte, trieb ihn an, ermutigte ihn, machte Versprechungen, peitschte seine Gedanken, verfolgte sein Gewissen und seine innerste Überzeugung – – er fühlte, daß er jetzt alles, aber auch alles sagen mußte, was ihn bewegte, ohne Rücksicht auf seine Braut, ohne Rücksicht auf die Richter, den Staatsanwalt, das Auditorium, ja ohne Rücksicht auf Risa selbst.
Der kleine Student in der letzten Bank sah zuweilen von seinem Heft auf, dann ließ er das Kirchenrecht Kirchenrecht sein und starrte unverwandt auf Nikolaus. Diese Rede gefiel ihm. Auch der Präsident schob jetzt die Akten zur Seite, stützte den Kopf in die Hand und begann aufzumerken. Herr Korda, der bisher den Gleichgültigen gespielt und die leeren Bänke angesehen hatte, blinzelte jetzt mit einem Auge nach dem Führer der Gegenpartei, der Diebspartei, wie er sie nannte. Einzig das Gesicht des Staatsanwalts blieb kalt und höhnisch. Er saß da wie einer, dem dieses jugendliche Feuer junger Verteidiger nicht neu war, und dem nichts auf der Welt imponieren konnte, was von der Verteidigerbank kam. Ihm konnte kein Verteidiger etwas Neues, etwas Aufregendes, ja nicht einmal etwas Interessantes sagen.
Nikolaus aber sprach mit immer noch wachsender Lebhaftigkeit weiter. Er schilderte das Leben, das Risa in der Provinz gelebt hatte, und erzählte, unter welchen Umständen sie dann in den Laden Kordas gekommen war. Und dann beschrieb er Korda. Er schälte ihn aus seinem ehrbaren Gehrock heraus, disputierte ihm die Brille von der Nase und zeigte ihn den Anwesenden als das, was er war: als den armen, gealterten Zuckerwerk-Hausierer, der sich in seine Verkäuferin verliebt hatte.
Dann sprach er wieder von Risa. Er teilte mit, daß sie in jemand verliebt sei. In jemand, dem sie nie angehören könne, und er malte die furchtbaren Qualen aus, die dieses von solchem Temperament, solchem Selbstbewußtsein und solcher Willenskraft erfüllte Mädchen um dieses Mannes willen erlitten hatte.
Bei diesen Worten sah er Risa am tiefsten in die Augen. Diese Augen schienen unaufhörlich zu wachsen. Sie leuchteten wie zwei schwarze, feurige Sonnen, die alles rings um sich verfinsterten. Nikolaus sah überhaupt nichts mehr als diese beiden glühenden, dunklen Punkte. Dann erzählte er die Geschichte des Kleides, doch nicht so, wie er sie von Risa gehört hatte, sondern so, wie diese Geschichte in seiner Seele lebte, als die unbändig wilde Tollheit einer wahnsinnigen Liebe, eines blinden Begehrens …
Er bewies, daß Risa in jenem Augenblick, da sie in die Geldlade griff, meilenweit von aller kalten Berechnung, aller Habgier und – wie das Gesetz es nennt – Gewinnsucht entfernt war. Er bewies, daß Risa in jenem Augenblick nichts sah, nichts hörte, nichts dachte, sondern unter unwiderstehlichem Zwang handelte. Er bewies dies alles von Anfang bis zu Ende mit überzeugender Kraft; nicht mit der herkömmlichen Routine der juristischen Phraseologie, sondern mit der bezwingenden Aufrichtigkeit des Menschen, der zum Menschen spricht. Und er konnte das alles beweisen, weil er daran glaubte.
Dann setzte auch er sich nieder. Im ersten Augenblick hörte er nicht, was rings um ihn geschah. Er hörte auch nicht, wie der Präsident in einfachem, ruhigem Tone die Frage stellte:
»Angeklagte, haben Sie zu Ihrer Entlastung noch etwas vorzubringen?«
Diese Frage vermengte sich mit dem leisen Rauschen, zu dem in seinem Ohr alle Töne verschmolzen. Ebenso wie aus weiter Ferne vernahm er jetzt die Antwort Risas:
»Ich habe nichts zu sagen.«
Aus dieser starrkrampfartigen Ermattung kam er erst zu sich, als er sah, daß die drei Richter sich erhoben und den Saal verließen. Der Staatsanwalt verzichtete auf eine Replik. Ihm schien zur Abschwächung der Wirkung dieser Verteidigungsrede ein halb mitleidiges, halb höhnisches Lächeln ausreichend, ein Lächeln, das deutlich besagte, wie sehr er es unter seiner Würde halte, auf diesen jugendlichen und unreifen Ausbruch auch nur ein Wort zu verschwenden. All dies ereignete sich während eines Augenblicks – dann verschwanden die Richter hinter der Tür des Beratungszimmers.
Nun erst trat für Nikolaus' Augen Risas Gesicht aus dem Dämmer. Es war nicht mehr das glühende Antlitz, das ihm vorhin entgegengestrahlt hatte. Auch ihr Auge flackerte nicht mehr wie bisher. Sie sah jetzt heiter, ruhig und ein wenig ermüdet aus. Ihr Blick war halb zu Boden gerichtet. Leute, die gerade dem Meere entsteigen, wo die mächtigen, salzigen Wogen ihren Rücken peitschten, haben solch einen Blick, in dem neben der Erfrischung auch angenehme Ermattung beschlossen ist. Nun konnte man sich ruhig in diesen Blick versenken. Nun belohnte dieser Blick. Über ihren Zügen lag ein feines, anmutiges Lächeln, in dem neben vieler Traurigkeit auch etwas war, was man unter anderen Umständen vielleicht als Glückseligkeit bezeichnet hätte.
Nikolaus ließ seine erregten, weitgeöffneten Augen lange auf diesem Antlitz ruhen. Er dachte nicht im entferntesten daran, daß er jetzt als Anwalt auf diesem Platze sitze, und daß er alles, was er gesprochen, als Anwalt gesprochen hatte. Seine allerpersönlichste, innerste Krise hatte nun, da er sich alles vom Herzen geredet, ihre Lösung gefunden. Der Gerichtssaal, die Richter, der Staatsanwalt, der Kläger, das Auditorium – das alles war jetzt bloß die Staffage der privaten Angelegenheit, die sich zwischen ihnen beiden abspielte, nichts weiter als ein Anlaß, um das geschehen zu lassen, was geschehen war.
Doch wozu die Umschreibungen? Kurz und gut: Nikolaus hatte Risa seine Liebe gestanden.
Es währte nicht lange, und die Richter traten wieder in den Saal, in dem es sofort totenstill wurde. Die Richter nahmen wieder ihre Plätze ein, und der Präsident blätterte, um eine kleine Pause zu überbrücken, in den Akten. Dann begann er leise zu sprechen, so leise, wie jemand, der weiß, daß jetzt er die wichtigste Person in diesem Raume ist, und daß man auf jedes seiner Worte lausche, wie leise auch immer er spreche. Trotzdem war er nicht gut zu verstehen. Deutlich hörte man eigentlich nur:
»Im Namen Seiner Majestät des Königs …«
Und dann am Schlusse:
»… sieben Monate.«
Was so viel besagen wollte, daß, während Seine Majestät der König an diesem sonnigen Frühlingsvormittag im Park von Schönbrunn zwischen zierlich beschnittenen Hecken seinen Spaziergang machte, unterdessen Risa Nagy in seinem Namen zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt worden war.
Der Staatsanwalt gab sich mit dem Urteil zufrieden. Risa stand auf und sprach laut, damit jeder sie gut verstehe, so als ob sie eine Lektion aussage:
»Ich nehme das Urteil an. Ich werde die sieben Monate absitzen.«
Nikolaus sah ihr wieder scharf in die Augen. Er hatte diese seltsame Erklärung nicht erwartet, dennoch war er der einzige hier, der ihren Sinn begriff. Der einzige, der wußte, daß dies Risas ritterliche Genugtuung für seine Verteidigungsrede war, in welcher er ihr seine Liebe gestanden und ihr gesagt hatte, daß er sie verstehe, so sehr verstehe, daß ihm zu verzeihen nichts übrig blieb.
Mit dieser Rede hatte er sich von seiner Braut losgesagt und einen stärkeren Bund mit diesem armen Mädchen geschlossen, das von der Gesellschaft an den Rand des Lebensweges zum übrigen Kehricht gefegt worden war. Mit dieser Rede hatte er sich über alles, über die Richter und über die Menschen hinweggesetzt.
Auf diese Rede hatte ihm Risa nun geantwortet. So geantwortet, wie sie es hier tun konnte. Denn hier konnte sie nicht sagen:
»Ich liebe dich, weil du tapfer warst, ich liebe dich, weil du mir Dinge ins Gesicht sagtest, die nur tapfere und starke Männer einer Frau ins Gesicht sagen, wenn die Frau so ist wie ich. Und weil ich dich liebe, zeige ich dir jetzt, daß ich mit dir nicht spekulierte, daß ich dich nicht ausnützen, nicht durch dich die Freiheit erlangen wollte, daß du mir nicht ein Mittel zu kleinen Zwecken warst, sondern daß ich dich liebe, so liebe, als ob von uns beiden ich der reichere, stärkere, freiere und reinere Teil wäre. Ich zeige dir dies damit, daß ich die Gefängnisstrafe abbüße und nicht will, daß du meinethalben noch irgendwelche Schritte tust, damit von nun an keine andere Beziehung zwischen uns herrsche als Liebe. Du hast aufgehört, mein Verteidiger, ich habe aufgehört, deine Klientin zu sein. Ich nehme dich, wie du bist, aber auch du mußt mich nun nehmen, wie ich bin. Du bist bereit zu heiraten, denn du warst ja der Bräutigam eines unschuldigen jungen Mädchens. Daß auch ich bereit bin, eine Ehe zu schließen, habe ich nie verheimlicht. Nach einem wirren Leben voller Schmutz ersehne ich Ruhe und Reinheit. Meine Mitgift sind sieben Monate Gefängnis. Wenn du mich so haben willst, hier bin ich!«
Dies alles konnte sie nicht sagen. Deshalb sagte sie nur:
»Ich nehme das Urteil an.«
Aber es gab in diesem Augenblick nichts auf der Welt, was so klar, so einleuchtend, so verständlich war, als daß dieser kurze Satz jene lange Rede enthalte.
Nikolaus legte Berufung ein. Es folgten ein paar Formalitäten; dann war die Verhandlung zu Ende. Risa wurde nach rechts abgeführt, Nikolaus ging nach links.
Doch sie entfernten sich beide mit dem gleichen Gefühl im Herzen. Beide wußten, fühlten, daß dies gar keine Gerichtsverhandlung, sondern nur eine Gelegenheit dazu war, sich endlich gegenseitig ihre Herzen auszuschütten. Und die ganze Menschheit mit ihren ernsthaften Richtern, ihren Gerichtsdienern, Gefängnissen, ihrer Strafprozeßordnung erschien ihnen beiden so unendlich klein und belanglos, daß sie fast darüber lächelten, wie es möglich war, daß es so unbeträchtliche, bedeutungslose Dinge überhaupt gäbe.
Es bleibt ein tiefes und heiliges Geheimnis, welcher Teil dabei im Recht war: die Menschheit, die solche Überhebung verachtet und verfolgt, oder sie, die der Menschheit verachtungsvoll den Rücken kehrten. Dies bleibt für ewige Zeiten ein großes, blutiges Geheimnis, das im Dunkeln schwebt. Nach Jahrhunderten, vielleicht erst nach Jahrtausenden wird es einmal erwachen. Manchmal will es freilich auch jetzt scheinen, als erwache es, doch das ist nichts anderes als die träge Regung eines Schlafenden, der sich auf die andere Seite wälzt, um seinen tiefen Schlaf fortzusetzen.
Auf der Straße draußen warteten zwei Menschen auf den Ausgang der Verhandlung. Keiner von ihnen hatte es gewagt, den Saal zu betreten. Auf dem einen Gehsteig stand bleich und mit Herzklopfen Sebfi, auf dem anderen ohne äußeres Zeichen der Erregung Marie.
Als Nikolaus aus dem Tore trat und mit gesenktem Blick sein Gesicht dem wärmenden Sonnenstrahl zuwandte, machten beide die gleiche Bewegung. Beide traten einen Schritt auf Nikolaus zu. Dieser sah zuerst Sebfi. Doch sein Blick glitt über ihn hinweg, als ob er ihn nicht gesehen hätte. Es war keineswegs jener Blick des Nichtsehenwollens, mit dem sich bösartige Menschen zu kränken pflegen. Nein, es war der verächtliche Blick eines tapferen, zum Handeln entschlossenen Mannes, einem Menschen gegenüber, der zu den übrigen, den kleinen, belanglosen zählte und einer von jenen war, die das nie und nimmer begreifen würden.
Sowie er den Kopf abwandte, erblickte er Marie. Sie sah ihm forschend in die Augen. Der Blick, den Nikolaus ihr zurückgab, war voller Mitleid, als sage er: Arme, strenge, herrische Frau, die du dich für klug, tapfer und stark hältst – wie feig, wie elend, wie gedemütigt erscheinst du mir in diesem Augenblick!
Noch auf der Treppe hatte er die Absicht, einen Wagen zu nehmen. Nun, da er diese beiden erblickte, ließ er diese Absicht fallen. Sie sollten nicht glauben, daß er vor ihnen fliehe. So ging er also auf den Fahrdamm hinaus, wo ihn Sebfi von der einen und Marie von der anderen Seite verlegen anstarrte. Er aber schritt ruhig und würdig zwischen ihnen dahin. Früher hätte man gesagt: Zwischen Scylla und Charybdis. An der nächsten Ecke verschwand er.
Scylla und Charybdis sahen sich an. Dann kam in beide Bewegung. Im selben Augenblick rannten sie beide nach der Mitte der Straße, wo nun eine heftige Konversation ausbrach.
»Was war das?«
»Hat man sie verurteilt?«
»Auch Sie hat er nicht gegrüßt?«
Plötzlich stand ein glücklich lächelnder alter Herr neben ihnen, Herr Korda. Beide stürzten sich auf ihn.
»Was ist los?«
»Nun …,« begann er sehr behäbig.
»Hat man sie freigesprochen?«
»Was noch!« sagte Herr Korda. »Es gibt noch Gerechtigkeit auf der Welt. Sie wird sitzen.«
»Oh …«
Dieses Oh hatte Sebfi ausgestoßen. Korda fuhr triumphierend fort: »Sieben Monate hat sie bekommen! Ich habe eben mit dem Staatsanwalt gesprochen – ein prachtvoller, hochanständiger, gerechter Herr … Er hat mir gesagt, daß der Verteidiger ganz vergebens Berufung eingelegt hat, die Sache sei doch klar, die sieben Monate wird sie absitzen …«
»Fürchterlich!« sagte Sebfi.
»Sehr unangenehm,« sagte Marie.
Beiden war die Nachricht peinlich, doch jedem aus anderen Gründen. Herr Korda aber sah beide hochmütig an. Herr Korda ärgerte sich über alle Leute, die anderer Meinung waren als der Staatsanwalt. – –
Risa wurde noch am selben Tage nach dem Alten Gefängnis gebracht. Lenke Rimmer sah sie nicht, denn Lenke Rimmer war just damit beschäftigt, zu packen, um für mehrere Monate zu ihren Verwandten nach Kecskemet zu fahren. Bei Risas Ankunft war niemand anwesend als der Wächter Szabo, der Kanzleibeamte Jermak und die dicke Frau Vogel, die Aufseherin der weiblichen Sträflinge.
Hinter dem Gefangen-Transportwagen blieb ein Einspänner am Tore stehen. Diesem entstieg Nikolaus. Er saß dann im Amtszimmer, als die Formalitäten der Übernahme Risas vor sich gingen. Als man sie eben durch die eine Tür wegführen wollte, erschien in der anderen der alte Rimmer. Sein ehrliches, ernstes Gesicht verriet mit keinem Zucken, was in ihm vorging. Er war jetzt nur der Direktor des Gefängnisses und Nikolaus der Rechtsanwalt, der die Interessen eines unter Berufung stehenden Sträflings zu vertreten hatte.
Nikolaus blickte ihn an. Dann aber gab er sich einen Ruck, trat auf Risa zu, der er ohne jede Pose mit herzlicher Ehrerbietung die Hand küßte.
Er begleitete sie bis zu ihrer Zelle und blickte eine Weile in den kleinen Raum, in dem sie nun wohnen würde. Und ihm war, als ob alle Freiheit des Gedankens und alle Freiheit des Gefühls, als ob die ganze revolutionäre Befreiung der wahren menschlichen Sitte innerhalb dieser vier engen Wände läge, und als ob die ganze Welt jenseits dieser Wände ein einziges Gefängnis sei und die Menschen dort draußen, die zufriedenen, heiteren, geschäftig umherzappelnden Menschen, die der Meister vergebens zu Liebe und Erbarmen gemahnt hatte, alle Sträflinge …