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VIII.

Unten im Korridor des Gefängniskellers fand er Sebfi nicht. Er eilte über die Treppe aufwärts und lief oben einen breiteren Korridor entlang. Dabei stieß er mit einem jungen Rechtspraktikanten zusammen, der ihn vergnügt anrief: »Wo eilen Sie denn hin?«

Nikolaus gab ihm keine Antwort. Er stürzte auf die Straße hinaus und atmete dort auf. Es war ein herrlicher Tag, der Schnee schmolz. In dem kalten Keller dort unten war noch die Härte des Winters zu fühlen. Hier oben aber strich ein lauer Wind über die Straße, und der armen Großstadtlunge war es, als schwebe irgendwo von Ofen her schon der Hauch der ersten Veilchen und jener Lenzduft von frischem Gras, der aus der Erde bricht, sowie sie vom Schnee befreit ist.

Sebfi sah er nirgend. Er fand sich damit ab, daß jenem die Zeit zu lang geworden sei, und wußte gleichzeitig, daß er ihm noch am selben Tag begegnen würde.

Er eilte zum nächsten Wagenhalteplatz. Er mußte zu Lenke hinaus. Und zwar so rasch wie möglich.

Sowie er aber den Fahrdamm überquerte, blieb er unwillkürlich stehen. Dort drüben stand, stumm und blaß an die Wand gelehnt, Sebfi. Es sah aus, als sei die ganze Häuserfront nur gebaut, damit der arme Sebfi sich irgendwo anlehnen könne. So sah wahrhaftig das Leben dieses Menschen aus: Tagtäglich passierte ihm etwas, was ihm Grund gab, sich auf offener Straße an die Häuserwand zu lehnen.

Nikolaus trat auf ihn zu.

»Ich habe Sie lange warten lassen, nicht wahr?«

Es kam keine Antwort.

»Und jetzt müssen Sie mich entschuldigen, lieber Sebfi – ich habe furchtbare Eile. Ich muß zu meiner Braut.«

Den letzten Satz betonte er absichtlich stärker. Denn der arme Mensch tat ihm wirklich leid. Und deshalb wollte er ihm mit diesen Worten deutlich unter die Nase halten: Fürchte dich nicht, du Dummkopf, ich habe doch eine Braut, und ich nehme dir das Mädel nicht weg.

Aber er kam nicht von der Stelle, denn Sebfi stand immer noch da, ohne zu antworten. Nikolaus wurde ungeduldig.

»Also warum stehen Sie so da? Was starren Sie mich an?«

Sebfi sprach immer noch kein Wort.

»Fehlt Ihnen etwas?«

Und da er sah, daß der andere hartnäckig, programmmäßig schweige, zuckte er die Achsel: »Ich werde Sie einfach hier stehen lassen.«

Und er setzte hinzu: »Sie scheinen ein bißchen verrückt zu sein, lieber Freund.«

Hierauf erfolgte ein bitteres Lachen. Jenes »bittere Lachen«, wie es als Regiebemerkung in den Theaterstücken steht …

»Haha!« lachte Sebfi. »Haha, ich bin also verrückt! Verrückt! Hahaha!«

Nikolaus sagte ärgerlich: »Hören Sie, ich habe große Eile, aber kommen Sie nachmittags um drei Uhr zu mir.«

»Also Sie fliehen vor mir?«

»Zum Teufel auch … wieso fliehe ich vor Ihnen, wenn ich Sie einlade, mich nachmittags zu besuchen?«

Sebfi hob den Zeigefinger: »Ja, aber jetzt fliehen Sie.«

»Sie sind ein Narr, lieber Freund,« gab Nikolaus zurück. »Und wenn Sie kein Narr wären, so würde ich Sie wahrhaftig hier stehen lassen. Aber so will ich mich lieber um zwei Minuten verspäten – also was wollen Sie eigentlich?«

»Sie gehen zu Ihrer Braut?«

»Ja.«

»Sie nehmen einen Wagen?«

»Ja.«

»Nehmen Sie mich mit. Ich begleite Sie bis hinaus – im Wagen können wir uns aussprechen.«

Nikolaus zögerte einen Augenblick. Dann willigte er ein: »Meinetwegen.«

Sie setzten sich in einen Einspänner, der über das Straßenpflaster zu humpeln begann. Lange Zeit sprach Sebfi kein Wort, sondern starrte vor sich hin und nickte manchmal traurig mit dem Kopfe. Endlich brach Nikolaus das Schweigen: »Nun also, was haben Sie auf dem Herzen? Heraus damit!«

»Wissen Sie,« begann Sebfi, »als wir zum Gefängnis gingen, vertraute ich Ihnen, als ob Sie mein Bruder wären. Jetzt aber … jetzt weiß ich nicht, was ich von Ihnen denken soll.«

»Warum denn?«

»Haben Sie nicht bemerkt, daß ich in das Anwaltszimmer hineinsah?«

»Doch.«

»Nun? Und da fragen Sie noch?«

Nikolaus dachte jetzt einen Augenblick daran, ob es nicht klüger wäre, überhaupt nicht zu antworten. Er hatte das Gefühl, daß dieser Mensch kein Recht dazu habe, ihn zu verhören, ihn mit verwickelten Fragen zu bedrängen. Doch diese Bequemlichkeitsregung wurde rasch von seinem guterzogenen Gewissen unterdrückt. Denn wer sein Gewissen lange Jahre hindurch damit verwöhnt hat, daß er ihm stets Gehör schenkte, der wird zum Sklaven dieses Gewissens. Solche Leute nennt man dann anständige Menschen. Jetzt aber fühlte Nikolaus doch eine Art Aufruhr in seiner Seele. Etwas revoltierte in ihm gegen diese übermächtig gewordene Gewalt.

Sebfi wiederholte ungeduldig: »Und Sie fragen noch?«

Nikolaus erwiderte ein wenig gereizt: »Allerdings, ich frage.«

»Das wundert mich.«

»Weshalb wundert Sie das?«

»Weil es flüchtige Augenblicke gibt, in denen man Dinge erkennt, die …«

Er lächelte gezwungen. Es sollte ein höhnisches Lächeln werden, aber dieses gelang ihm nicht.

»… die?«

»Die vielerlei erklären. Die blitzartig einen Menschen, den wir bisher nur oberflächlich kennen, von innen beleuchten.«

Er lachte auf und fuhr fort:

»Wissen Sie, Herr Doktor, ich habe einmal in einem französischen Schwank gespielt … natürlich nur eine Dienerrolle … in dem kam ein Betrunkener vor. Dieser Betrunkene kehrte spät nachts in seine Wohnung und hielt dabei eine kleine elektrische Taschenlampe verkehrt vor sich hin. Dabei fluchte er wie toll, weil er nicht sehe, obwohl doch die Lampe leuchte. Natürlich – sie beleuchtete seinen Bauch. Also wissen Sie, Herr Doktor … mir ist jetzt, als wären auch Sie vorhin von irgend etwas betrunken gewesen und hätten die Lampe so gehalten, daß sie Ihren Bauch beleuchtete. Und nicht nur Ihren Bauch – Ihr ganzes Inneres …«

Das klang wieder bitter und trotzig.

Der Rechtsanwalt fuhr ihn an: »Sie sind nicht nur undankbar, Sie sind auch grob« – und während er dies sagte, freute er sich förmlich darüber, jetzt endlich Grund zu haben, Sebfi böse zu sein. Aber diese Freude währte nicht lange. Sebfi machte gleich alles wieder gut. Eine Weile lang sah er Nikolaus wortlos an, dann sagte er gerührt:

»Habe ich Sie vielleicht gekränkt?«

Der andere zuckte die Achseln,

»Habe ich Sie gekränkt?«

»Nein.«

»Doch … ich weiß es, daß ich Sie gekränkt habe. Ich war ein Esel. Verzeihen Sie mir … aber kann ich dafür, daß ich dieses Mädchen so furchtbar, so unaussprechlich furchtbar liebe?«

Und schon rannen ihm wieder die Tränen über das Gesicht. Ihm wurde das Weinen so leicht wie einem anderen Menschen das Husten. Trotzdem – Tränen sind nun einmal Tränen, und ein anderer weiß niemals, wie echt und wieviel wert sie sind. Wir wissen nicht, ob sie leicht, wie zufällig von der Oberfläche herabperlen, oder ob der Schmerz sie aus den tiefsten Tiefen heraufpumpt. Und der weinende Mann bleibt das Traurigste und Erschütterndste auf der Welt; und wenn jemand leicht in Tränen ausbricht, so ist das sein privater Vorteil. Denn auf der Wage des menschlichen Herzens haben Tränen Goldwert, und die Wage wiegt gestohlenes Gold genau so wie gefundenes oder mühsam ausgegrabenes.

Dieses Weinen Sebfis stimmte Nikolaus wieder weich.

»Na, na …,« sagte er verlegen, »so weinen Sie doch nicht. Es ist ja schrecklich, wenn ein erwachsener Mensch weint.«

Mehr brauchte Sebfi nicht. Jetzt stürzten ihm die Tränen erst recht hervor, er schluchzte ohne Unterlaß und weinte sich so recht nach Herzenslust aus. Doch so rasch sich der Himmel seiner Stimmung umwölkt hatte, eben so rasch klärte er sich wieder auf.

»Habe ich es Ihnen nicht gesagt,« sagte er mit einem halben Lächeln, »daß ich ein Esel bin? Wenn Sie es nie geglaubt haben, jetzt glauben Sie es.«

»Ja aber, was dachten Sie eigentlich?«

»Soll ich es wirklich sagen? Ich schäme mich …«

»Nur heraus damit.«

»Sie haben recht. Es ist besser, wenn es einmal gesagt wird. Also ich glaubte, daß Sie … daß Sie sich für Risa interessieren … und dann glaubte ich etwas, was noch viel schrecklicher ist … ich glaubte, daß Risa Sie liebe …«

Jetzt sah er Nikolaus wieder mit umflortem Blick an. Offenbar nagte der Verdacht noch immer an seinem Herzen.

Nikolaus machte eine abwehrende Geste: »Aber ich bitte Sie!«

Sie hielten an der Wegbiegung. Das große, stille, traurige Haus tauchte auf. Sebfi hätte gesagt: Auf das Stichwort.

Nikolaus zeigte in diese Richtung: »Sie wissen doch, daß ich …«

»Ja, ja, freilich weiß ich …«

»Nun also, was wollen Sie dann?«

Sebfi sagte nur: »Gar nichts.« Aber es klang so tonlos, als hätte er gesagt: »Und dennoch!«

Der Wagen hielt vor dem Gitter. Nikolaus sah, daß schon ein anderer Wagen beim Eingang stand, und augenblicklich fiel ihm ein: Das ist Fräulein Bella mit dem Brief. Aber es war kein Fiaker, sondern ein Einspänner. Und Risa hatte Fräulein Bella mit dem Fiaker hergeschickt. Allerdings … aber sie hatte auch hinzugefügt, daß Fräulein Bella mit jenen fünf Gulden wahrscheinlich sehr ökonomisch umgehen werde … All das zuckte in einem einzigen Augenblick durch Nikolaus' Gehirn. Im nächsten tauchte bereits seidenrauschend Fräulein Bella auf, nickte vornehm gegen Szabo, der mit aufgepflanztem Bajonett am Eingang stand und ihr die Wagentür öffnete. Erst als sie Nikolaus erblickte, wurde aus der eleganten Dame ein erschrockenes kleines Frauenzimmer.

»Wie … Sie sind hier?«

Sebfi saß noch im Wagen. Aber er war womöglich noch erschrockener als Fräulein Bella. Und zwischen diesen beiden Verblüfften stand jetzt Nikolaus, dem ein eisiger Hauch über das Herz lief, da er erkannte, daß Fräulein Bella eben von seiner Braut komme. Und hinter ihm im Wagen saß Sebfi … Ein furchtbares Bild trat ihm vor die Augen: Hier diese beiden Mädchen, seine Braut und Bella zusammen … dort rückwärts der arme, fast betrogene, zur Seite geschobene, unglückliche Mensch, der starren Auges bald Nikolaus, bald Fräulein Bella, bald wieder den bewaffneten Torwächter anglotzte …

»Sie sind hier?« fragte Fräulein Bella wieder. Es klang wie das Zitat aus einer Rolle.

»Jawohl,« sagte Nikolaus.

»Ich … ich habe eine Nachricht überbracht,« stotterte Bella.

Nikolaus fragte nervös: »Haben Sie sie übergeben?«

»Ja.«

»Nun, das … das war gemein und schamlos von Ihnen, Fräulein Bella.«

Über diese Worte freute sich Fräulein Bella mehr, als wenn sie plötzlich auf der Straße einen goldenen Ring gefunden hätte. Endlich hatte man sie beleidigt, endlich war die Situation gelöst. Endlich konnte sie Nikolaus mit einem hochmütigen Blick messen und etwas murmeln wie: »über solche Beleidigungen bin ich erhaben!«

Endlich konnte sie ihren Wagen besteigen und dem Kutscher befehlen: »Zum Volkstheater!«

All das geschah. Der eine Räderkasten war schon fortgehumpelt. Der andere stand noch da.

Nikolaus wandte sich um und wollte, an die offene Wagentür gelehnt, Sebfi etwas sagen. Er wußte selbst nicht, was, sondern überließ es der zwingenden Gewalt des Augenblicks, ihm irgendeine annehmbare Äußerung einzugeben. Doch es kam nicht dazu, denn im selben Augenblick faßte Sebfi von innen die Tür und zog sie langsam, fast sanft vor Nikolaus zu.

»Lassen Sie, bitte,« sagte er mit zitternder Stimme, »bemühen Sie sich nicht …«

»Aber …«

Sebfi sprach aus dem Wagen: »Lassen wir das. Kutscher, fahren Sie dem anderen Wagen nach, zum Volkstheater. Lassen wir das, Herr Doktor.« Und er zog die Tür vollends zu.

Nikolaus gab nach. Die Tür schnappte ins Schloß, der Wagen machte langsam kehrt. Nikolaus blieb beim Eingang stehen und sah ihm nach. Er erblickte auch den ersten Wagen, der fast schon an der Straßenbiegung hielt. Er sah noch, wie sich Sebfi aus dem Fenster beugte und dem Kutscher etwas zurief, worauf dieser auf das Pferd einschlug und an der Straßenbiegung den ersten Einspänner erreichte. Nikolaus beobachtete, wie Sebfi jetzt ausstieg, die Tür des anderen Wagens öffnete, etwas sagte, wie dann Fräulein Bella erschien, ihren Kutscher bezahlte und zu Sebfi in den Wagen stieg. Dann fuhr dieser wieder los und der Stadt zu, von der Sonne bestrahlt, zwischen weiten Feldern hindurch, auf denen der Schnee schmolz.

»Guten Tag, Herr Rechtsanwalt!« sagte Szabo und warf sich in militärische Haltung.

Nikolaus hatte jetzt noch eine einzige Hoffnung. Hastig fragte er: »Ist Fräulein Lenke zu Hause?«

Wenn Bella sie nicht zu Hause getroffen hätte! Dann läge der Brief noch uneröffnet da …

»Fräulein Lenke ist zu Hause, Herr Rechtsanwalt,« sagte Szabo, vertraulich lächelnd, mit dem Gefühl, dem Bräutigam damit Freude zu bereiten.

Dieser aber ließ den Kopf hängen und fragte leise: »War jene Dame lange oben?«

»Der Wagen hat ungefähr zwanzig Minuten gewartet.«

»Also sie übergab nicht nur den Brief, sie sprach auch mit Lenke …«

Jetzt war ihm bereits alles egal. Er ließ den verdutzten Szabo stehen und rannte wie besessen auf das große Haus zu. Im Tor stieß er mit Frau Vogel, der Aufseherin der weiblichen Sträflinge, zusammen, auf der Treppe nahm er drei Stufen auf einmal, und bevor er oben auf die Klingel drückte, riß er fast die Klinke von der Wohnungstür des Direktors.

Marie, die strenge Marie, öffnete. Nikolaus keuchte, ohne zu grüßen: »Wo ist Lenke?«

Er grüßt nicht einmal, sagte sich Marie, natürlich, eine arme Verwandte …

Sie gab keine Antwort, zuckte nur mit der Achsel und wies mit dem Kopf nach der Richtung von Lenkes Zimmer.

Einen Augenblick später stand Nikolaus in dem weißen Zimmer, an dessen Tisch, just unter dem Bilde Friedrich Schillers, ein schmalschultriges, schmächtiges Mädchen saß, das Gesicht in die Hände vergraben. Vor ihr lag ein offener, eng beschriebener Brief.


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