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IV.

Im großen Korridor des Gefängnisses verbreitete sich Bratengeruch, und unter den alten Wölbungen schwebten angenehme, ganz und gar nicht hierhergehörige Düfte. Man bereitete das Mittagessen, nach langer Zeit das erste richtige Mittagessen mit Braten, Torte und Eis. Der alte Rimmer führte die einfachste Lebensweise und aß Tag für Tag Rindfleisch. Nur die Anwesenheit eines hohen Gastes, eines sehr großen Herrn, bedrohte hier das Leben der Hühner. Heute aber war der allergrößte Herr hier zu Gast: ein weißgekleidetes junges Mädchen, das im Gesicht noch die Spuren der ermüdenden Reise trug, im Herzen aber jenes wohlige, warme Gefühl, das uns erfüllt, wenn wir nach langen Jahren in der Fremde wieder zuhause sind.

Am Kopfe des Tisches saß der alte Rimmer, am Ende Marie. Das war der eine Durchmesser des Tisches. An den beiden Enden des anderen löffelten die beiden jungen Leute ihre Suppe. Und während in dieser Richtung lauter Wärme über den Tisch lief, überquerte ihn in der anderen ein einziger eiskalter Blick. Dieser Blick kam aus den Augen Maries, und er war ihr gelungen. Niemand hätte mit einem einzigen Blick all das besser ausdrücken können, was eine arme Verwandte in dieser Situation empfinden muß. In diesem Blick war Gekränktheit wegen des Vorfalles am Vormittag, es war Trotz, es war Stolz, und es war namentlich eine so gewaltige Portion Martyrium darin, daß die allerberühmtesten heilig gesprochenen Märtyrer des Mittelalters Marie um diesen herzzerreißenden Blick beneiden durften.

Beim Mittagessen kam nun hier der Fall Risa Nagy zur Sprache. Es war die erste nennenswerte Verteidigung, die Nikolaus übertragen worden war, und wenn der Prozeß ihm auch nichts einbrachte, so war es immerhin ein Kriminalfall, der vielleicht eine interessante Verhandlung und einen sensationellen, in Dialogform veröffentlichten Gerichtssaal-Bericht ergeben konnte. Nikolaus war dieses fragwürdige Glück zugefallen, weil er als Anwaltskandidat zu den treuesten Stammgästen der Kordaschen Konditorei zählte, deren sämtliche Besucher seinerzeit, am Tage seiner Anwaltsprüfung mehr Angst um ihn ausstanden als er selbst. Ja ein langaufgeschossener Theatereleve, der in der Kutscherstraße wohnte und die Hälfte seines Lebens bei Korda verbrachte, hielt es dort vor Angst nicht mehr aus, sondern eilte in das große Gerichtsgebäude, wo eben eine Anzahl sehr gelehrter Herren Nikolaus in ein Kreuzfeuer von Fragen genommen hatten, und wartete hier auf das Prüfungsresultat. In den Saal selbst wagte er sich zwar nicht hinein, aber sooft jemand auf den Korridor trat, hielt er ihn mit der Frage auf: »Verzeihung … hat ein gewisser Csathi schon bestanden?«

»Er ist gerade dabei.«

»Wie steht er?«

»Ganz gut.«

Das ging so lange, bis endlich Nikolaus selbst mit geröteten Wangen in der Tür erschien und Sebfi – so hieß der hagere Theatereleve – glückselig anlächelte.

Diese Episode fand in hohem Grade das Gefallen Lenkes. »Was für ein Mensch ist dieser Sebfi?« fragte sie.

Sie forderte seine genaue Personenbeschreibung, wollte charakteristische Züge aus seinem Leben erfahren und sprach sogar den Wunsch aus, ihn kennenzulernen. Dieser Sebfi, der mit so schöner und schamhafter Freundschaft an Nikolaus hing, war ihr plötzlich so lieb geworden, daß sie ihm dankbar sein wollte, weshalb sie sofort beschloß, daß Sebfi jeden Sonntag bei ihnen zu Mittag essen solle. Auch daß Sebfi zerlumpt war wie irgendein hergelaufener Bettler, gefiel ihr. Nicht minder, daß er – wie Nikolaus erzählte – kaum je ein Wort sprach, und daß man ihn trotzdem für den verkommensten Lumpen des Jahrhunderts hielt.

Dieser Sebfi nahm in der Erzählung Nikolaus' deswegen einen so großen Raum ein, weil er in Risa Nagy, die zurzeit in der Untersuchungshaft ihrem Schicksal entgegensah, verliebt war. Dieses wirklich ergreifende Detail machte auf Lenke tiefen Eindruck. Trotzdem diese traurige Liebe nicht im mindesten zu ihrem Herzen sprach, das nur dort mitzufühlen imstande war, wo es sich um die Gefühle hübscher, wohlerzogener, weißbeschürzter Mädchen und schwarzgekleideter, korrekter junger Herren handelte. Über ein weibliches Wesen, das gestohlen hatte, regte sich dieses Herz nicht weiter auf.

»Armes Mädel,« sagte sie. »Ich hätte gern, daß man sie nicht einsperrt. Aber nur, weil du sie verteidigst … Herr Rechtsanwalt.«

Durch das große Fenster – wohl das einzige unvergitterte dieses traurigen Hauses – brach der freundliche Sonnenstrahl des Januartages herein. Reine, weiße Strahlen, von der blendenden Schneedecke zur Höhe geworfen und mit einer so erfrischenden Kälte getränkt, daß sie das Auge fast frieren ließen. Essend und trinkend saß man so glücklich und zufrieden in diesem hellen Winterlicht um den großen Tisch und sprach mit Interesse vom Diebstahl der Risa Nagy. Und jeder sprach von dieser Diebstahlsaffäre bereits so, als sei es seine eigene Angelegenheit, und als sei Risa gar keine Fremde, sondern ein auf Abwege geratenes Mitglied dieser ehrenwerten Familie. Und da sie die Schutzbefohlene von Nikolaus war, sorgte jeder für eine Menge von mildernden Umständen, und selbst die strenge Marie, die doch sonst wahrhaftig mit ihrem Urteil rasch zur Hand war, ließ das sündige Mädchen nicht völlig fallen.

»Vielleicht müßte man zu dem Mann hingehen, der die Anzeige erstattet hat,« meinte sie weise.

Nikolaus gab höflich zurück: »Ich war schon bei ihm.«

»Nun? Und?«

Dies fragte Lenke. Es muß hier festgestellt werden, daß Lenke jetzt von einem recht grausamen Gedanken erfüllt war. Sie wünschte keineswegs, daß die Klage zurückgezogen werde. Damit hätte das arme Mädel freilich wieder die Freiheit, aber damit bliebe auch die herrliche Verteidigungsrede ungesprochen, die den künftigen Ruhm von Nikolaus begründen sollte. Doch diese kindliche Grausamkeit des verliebten Mädchens äußerte sich nicht anders als mit diesem halb ängstlich hervorgestoßenen: »Nun? Und?«

»Ich war bei ihm,« erzählte Nikolaus, »aber der Mann will nichts mehr von ihr wissen.«

Beim alten Rimmer meldete sich der Jurist: »Wie alt ist denn die Angeklagte?«

»Neunzehn.«

»Was?« fragte Lenke sehr überrascht, »so jung noch? Ich glaubte, es sei ein häßliches, altes Ding …«

»O nein. Häßlich ist sie nicht – im Gegenteil. Vielleicht war das an ihrem Unglück schuld.«

»Wieso?«

Jetzt erst wurde die Sache interessant. Rings um Risa tauchte eine Menge sehr beachtenswerter Umstände auf. Nun interessierte sie nicht bloß als Klientin von Nikolaus, sondern auch als Weib.

»Das mußt du mir alles erzählen,« sagte Lenke und machte ein Gesicht wie Kinder, die den Anfang eines Märchens erwarten. Sie zog den Stuhl näher heran und setzte sich, beide Arme auf den Tisch gestützt, richtig in Positur, um besser zuhören zu können.

»Wie meinst du das?« fragte der alte Rimmer, dem Bedenken aufstiegen, ob die Geschichte für Mädchenohren geeignet sei. »Ihre Schönheit soll Schuld an ihrem Unglück tragen? Das wäre ja der reinste Roman!«

Dabei warf er einen verstohlenen Blick auf Nikolaus, der ihn fragte, ob Lenke diesen Roman auch hören dürfe. Nikolaus aber lächelte nur.

»Dieses Mädchen,« begann er zu erzählen, »war der strahlende Mittelpunkt der Korda'schen Konditorei. Sie war aus Miskolcz gekommen, wo sie früher in einem Nachtcafé Kassiererin war. Der alte Korda hatte immer gesagt, er nehme nur ein Mädchen, das aus einer Garnisonstadt komme, denn nur ein solches verstünde es, mit den Gästen umzugehen. Ich erinnere mich noch, wie er Wochen vorher den Brief herumzeigte, in welchem das neue Fräulein ihre Ankunft meldete. Unter den Stammgästen der Konditorei stieg die Erwartung nachgerade zu einer Art von Fieber. Man brannte vor Ungeduld, das neue Mädchen zu sehen. Ihr Kommen bildete auch deswegen eine Sensation, weil bisher der alte Korda allein bedient hatte und wir die Crêmeschnitten, die Schaumrollen und jene wundervollen Krapfen, die als Spezialität des Ladens galten, aus seiner schwieligen Hand entgegennehmen mußten. Ihr könnt euch denken, wie all die vielen armen Theatereleven das neue Fräulein herbeisehnten, von dem der Alte auch schon verraten hatte, daß sie schön sei – er kannte sie von der Zeit der Ausstellung her, wo Risa Nagy in einem Champagnerpavillon angestellt gewesen war, wobei er freilich verschwieg, daß er sie nicht als Gast jenes Champagnerpavillons kennengelernt hatte, sondern als ambulanter Backwerkhändler, der er damals während der Ausstellung war. Ein Umstand, der aber streng genommen nicht zur Sache gehört. Mit einem Wort, wir wußten uns vor Ungeduld nach der schönen Risa nicht mehr zu fassen, und zwar nicht nur wir jungen Leute, sondern auch die Mädchen, die dorthin kamen. Auch diese waren lauter Theaterelevinnen, aber nicht etwa Zöglinge der Schauspielakademie, sondern Schülerinnen irgendwelcher kleinen Winkel-Schauspielschulen, die zum Beispiel alle sehr andachtsvoll zu Fräulein Bella emporsehen, die Chordame, um nicht zu sagen, Choristin im Volkstheater ist. Auch diese Mädchen sehnten sich nach einem weiblichen Wesen in der Konditorei, nach jemandem, der kleine Streitigkeiten ausgleichen, allerhand Tratsch anhören würde, bei dem man Briefe hinterlassen, dem man sein Liebesleid klagen könne. Also, wie ich schon sagte, die Erwartung war nachgerade auf den Siedepunkt gestiegen. Eines Tages schwenkte dann Meister Korda einen sensationellen Brief in der Hand. In diesem stand bereits, daß er Risa Geld schicken möge, da sie sich übermorgen auf die Reise machen wolle, worauf ihr Meister Korda auch wirklich Geld schickte – allerdings nur halb so viel, wie sie gebeten hatte – und Risa, drei Tage später richtig eintraf.«

»Hier – du rauchst ja nicht,« sagte Rimmer und schob die Zigarrenkiste Nikolaus zu.

»Nein,« sagte Lenke und schob die Zigarren wieder zurück. »Erst erzähl' zu Ende …«

Sie wollte ihm nicht so viel Zeit lassen, um die Zigarre anzustecken. Sie brannte vor Ungeduld und vor kindlicher Neugier, diese Geschichte zu hören, die in einer Welt spielte, von der sie keine Ahnung hatte. Deshalb wollte sie jede Einzelheit, alles ganz genau und wörtlich erfahren, so wie es sich begeben hatte.

»Gut, gut,« lächelte der junge Mann, »ich erzähle alles der Reihe nach. Nur Geduld.«

»Also sie kam an,« nahm das junge Mädchen mit weitgeöffneten Augen den Faden wieder auf. »Und was geschah dann? Übrigens – nein, du mußt dort beginnen zu erzählen, als sich die Tür öffnete und sie erschien …«

Nikolaus war es gelungen, zwischendurch rasch seine Zigarre in Brand zu setzen.

»Sie kam also an,« fuhr er fort, »und an jenem Nachmittag gab es in der Konditorei einen Andrang wie er noch nicht dagewesen war. Die Hälfte der Gäste trank ihren Kaffee stehend neben dem Ladentisch. Hinter dem Pult aber strahlte in blütenweißer Schürze und mit einem süßen Lächeln das neue Fräulein und stellte mit Befriedigung fest, daß sie bei den Stammgästen genügendes Aufsehen hervorrief. Die wenigen Fremden, die sich an diesem Nachmittag in das Lokal verirrt hatten, fanden die Stimmung sicherlich merkwürdig. Und man konnte ihnen auch gar nicht erklären, weshalb es so feierlich zuging, und weshalb plötzlich hier tiefe Stille herrschte, wo man sonst stets heftige Dispute, ja auch laute Zänkereien vernehmen konnte, und wo Sebfi einmal in etwas animierter Laune den ›Wahnsinnigen‹ von Petöfi mit so frenetischer Wirkung deklamiert hatte, daß ein fremder Gast ihn durchprügeln wollte und eine Dame, die ein braunes Kleid trug, vor Schreck in Tränen ausbrach und ohne zu bezahlen das Weite suchte. Damals mußten wir den alten Korda stundenlang flehentlich bitten, Sebfi nicht für ewig aus seinem Lokal zu verbannen. Doch, wie gesagt, von solchen Dingen gab es an jenem Nachmittag keine Spur. Es herrschte geradezu andächtige Stille, man sprach nur flüsternd miteinander, nicht so sehr aus Hochachtung für Fräulein Risa, sondern mehr deswegen, weil jeder nur von Fräulein Risa sprach.«

»Nun, und wie war sie?« Dies fragte Lenke.

»Sie war hübsch. Ja, ich muß sagen: Sie war weit hübscher, als wir erwartet hatten, sie hatte üppiges, gewelltes, schwarzes Haar, und an ihrer Gestalt war irgend etwas gemütlich Anheimelndes … Sie war ein nettes Geschöpf, von einer gewissen anspruchslosen Anmut … nicht groß, aber auch nicht klein, so daß sie durch ihre Erscheinung zwar nicht imponierte, aber man doch auch nicht auf sie herabsehen konnte. Und sie paßte ausgezeichnet auf ihren Platz hinter das Pult. Und sowie sie zwischen den Torten und Kuchen umherwirtschaftete, hatte plötzlich das ganze Lokal sein Aussehen verändert. Bisher hatte man – Gott, weiß warum – jedes Stück nicht ohne ein gewisses Mißtrauen aus den Händen des Herrn Korda entgegengenommen. Eine Männerhand eignet sich schlecht für solch süße und duftige Dinge. In der kleinen weißen Hand Fräulein Risas aber schienen die zuckerbestreuten Crêmeschnitten und die herrlichen kleinen Krapfen geradezu veredelt. Alles war appetitlicher. Und man kann sich kein schöneres Schauspiel denken, als wenn Risa an einen der kleinen Blechtische trat und auf blinkender Tasse die Schokolade servierte, die eine mächtige Kuppe von Schlagsahne trug. In der Phantasie all der armen Jungen und romantisch veranlagten Mädchen waren auch die Fältchen und Bändchen, die billigen Spitzen und Rüschen an Risas Kleid wie aus Zucker und Schlagsahne gewoben. Das fühlten alle, doch nur ein einziger vermochte es auszudrücken, und das war Sebfi, der unser aller Gefühle verdolmetschte, als er erklärte, daß Fräulein Risa die Idee des Ladens sichtbar verkörpere. Als stilistische Leistung mochte dieser Ausspruch nicht erstklassig sein, aber als Gefühl und Beobachtung muß man ihn den besten Produkten seiner Art zuzählen. Diese andächtige Stimmung dauerte freilich nicht lange. Bei dem Völkchen, das hier hauste, ist keinerlei Andacht von Dauer. Nach zwei, drei Tagen hatte die Konditorei ihr früheres Aussehen wiedergewonnen, an den kleinen marmorierten Blechtischen saßen dieselben Leute wie sonst und erklangen dieselben Dispute darüber, ob Zacconi größer sei als Novelli, oder ob alle beide nur ein schwacher Abklatsch des alten Salvini seien, von dem die frühere Generation Wunder berichtete. Langsam gewöhnte sich auch Fräulein Risa an diese Gesellschaft. Noch war keine Woche vergangen, und sie kannte bereits alle Stammgäste beim Namen, wußte, wo jeden der Schuh drückt, kannte jedermanns geheime Wünsche und Hoffnungen, was so viel bedeutete, daß sie diese Leutchen selbst kannte, die ja alle nichts waren als die irdische Fassung von Wünschen und Hoffnungen. Was übrigens nicht mein, sondern Sebfis Ausspruch ist, der einmal sagte: ›Unser Mittagessen besteht aus Wünschen, unser Abendbrot aus Hoffnungen – dennoch leben wir!‹«

»Das ist schön,« sagte Lenke. »So etwas sagen sonst nur Dichter und in Versen. Am Ende ist auch dieser Sebfi ein Dichter.«

»Mit einem Wort,« fuhr Nikolaus fort, »Fräulein Risa wuchs allmählich in diese Umgebung hinein. In diese Zeit fällt es, daß einmal nach dem Abendessen Sebfi aufgeregt in meine Wohnung stürzte, wo ich gerade mit meinem Freund Zivilrecht ochste, und mich dringend bat, einen Spaziergang mit ihm zu machen, da er mir etwas sehr Wichtiges mitzuteilen habe. Ich ahnte gleich, wovon die Rede sein würde. Er schleppte mich ans Donau-Ufer, und dort gestand er mir, daß er sterblich in Fräulein Risa verliebt sei, und zwar so verliebt, daß er sich nicht getraue, es ihr zu sagen. Er schmiedete hunderterlei Pläne, von denen einer immer verrückter war als der andere, und die ich alle anhören mußte. Alle aber gipfelten in der Erklärung, daß er Fräulein Risa heiraten werde, die ja ein so große Achtung und Verehrung gebietendes Geschöpf sei, daß man sich ihr mit anderen als solchen Vorsätzen nicht nähern dürfe. Trotz alledem war Sebfi nicht ganz so leichtsinnig, wie es scheinen mag, denn gleichzeitig erzählte er, daß er einem Freunde geschrieben habe, der am Miskolczer Theater Chorist sei, und der nun Erkundigungen über Fräulein Risa einziehen solle. Der Brief war schon abgegangen, und Sebfi erwartete für den nächsten Tag die Antwort. Als Sebfi nun immer weiter sprach, überkam mich ein sehr seltsames Gefühl. Ein Gefühl, das mich leicht verblüffte. Sebfi redete immerfort aufgeregt einher, und nicht alles, was er sagte, hatte einen Sinn. Im Hintergrunde all der verworrenen Reden aber erkannte man doch die feste Absicht, seinen Entschluß vom Inhalt dieses Briefes unabhängig zu machen. Stundenlang schritten wir so über den gesprungenen Asphalt des menschenleeren Donaukorsos, ohne recht zu bemerken, ob wir just an dem einen Ende, bei der Kettenbrücke oder am anderen, beim Petöfidenkmal waren, und Sebfi sprach unausgesetzt auf mich ein. Alles, was er sagte, war aber bereits eine Erwiderung auf den noch gar nicht eingetroffenen Brief aus Miskolcz, dessen Wert und Glaubwürdigkeit er von vornherein herabzusetzen bemüht war, als ahne er, daß er nicht allzu günstige Nachrichten über Fräulein Risa enthalten werde.«

Der alle Rimmer machte einen tiefen Zug aus seiner Zigarre und räusperte sich dann sehr hörbar. Die Geschichte begann jetzt interessant zu werden, aber der Alte fürchtete, sie könne so interessant werden, daß es besser sei, wenn Lenke sie nicht hörte.

Es trat eine kleine Pause ein, und Nikolaus lächelte den alten Herrn wieder an. Dann sagte er leise: »Die Geschichte ist sehr einfach. Du hast nichts zu fürchten.«

Lenke machte große Augen. »Was denn,« fragte sie, »was sollte ich denn zu fürchten haben?«

»Na ja,« sagte der Vater und steckte die Zigarre wieder in den Mund. Er zuckte die Achseln. Lenke wartete mit glänzenden Augen auf die Fortsetzung. Sie trommelte mit ihrer kleinen Faust auf den Tisch.

»Weiter, weiter, Nikolaus!«

Und Nikolaus erzählte weiter.

»Es war eine wundervolle Nacht. Manchmal blieben wir stehen und blickten nach dem Ofener Ufer hinüber. Sebfi aber schien, obwohl er eine dichterische Seele ist, diesmal die Schönheit der Nacht nicht zu bemerken. Er starrte finster und mit so tiefen stechenden Blicken nach dem Blocksberg, als ob er mit diesen Blicken einen Tunnel in die Bergwand bohren wolle. Er war sehr erregt und sagte immer wieder: ›Ich kann jetzt nicht schlafen gehen, Herr Doktor … ich kann nicht.‹ Und in abgerissenen Sätzen erzählte er mir, wie er sich in Fräulein Risa verliebt hatte. Einmal hatte er kein Geld, um Mittag zu essen. Und ein anderes Mal hatte er auch kein Geld, um Mittag zu essen. Wie denn Sebfi überhaupt nur selten Geld hatte, um Mittag zu essen, trotzdem aber recht oft zu Mittag aß. An den Tagen aber, an denen er das nicht tat, weil er es nicht tun konnte, kam er schon sehr früh am Nachmittag in die Konditorei, wo er Kredit hatte, und trank schon um halb drei seine große Tasse Kaffee, zu der er eine nicht minder große Wassersemmel verzehrte. Es ging ihm damals überhaupt schlecht, und einer der Stammgäste bei Korda brachte von ihm auf, er nähre sich von Wurzeln, wie die Einsiedler in den Märchen. An einem solchen Nachmittag, als er wieder schon um halb drei an einem der Blechtische saß und natürlich der einzige Gast war, kam er mit dem Fräulein ins Gespräch. Das Fräulein war so gütig zu ihm, erkundigte sich mit so herzlicher Teilnahme nach allen seinen Lebensverhältnissen und brachte namentlich seinem künstlerischen Streben so warmes Interesse entgegen, daß dem armen Sebfi, der verlassener war als ein herrenloser Hund, fast die Tränen in die Augen traten, womit aber die Güte Fräulein Risas noch gar nicht erschöpft war. Am Ende ihres Gespräches ließ Fräulein Risa ihre Stimme zum Flüstern herabsinken und machte eine Anspielung, daß sie, falls es ihm wieder einmal besonders schlecht gehen sollte, ihm gern ein paar Gulden leihen würde, denn sie habe etwas erspartes Geld. Da aber war Sebfi, wie er mir erzählte, aufgesprungen, hinausgerannt und eine Viertelstunde lang ziellos in den Straßen umhergestrichen – so fürchterlich hatte er sich geschämt. Und von diesem Tage an wußte er, daß er dieses schöne, schlichte und saubere Mädchen liebe. Er entdeckte ein seltsames Blinken in ihren Augen, von dem er gern erklärte, es sei das geheime Feuer verhaltener Leidenschaft. Und dann war Sebfi plötzlich ohne jeden Übergang verrückt geworden, ganz einfach und so aufrichtig verrückt, wie es nur Schwärmerseelen seiner Art werden können. Er begann sich zu kämmen und seine Krawatte ordentlich zu binden, denn sein Haar und seine Krawatte waren stets in künstlerischer Unordnung. Ja, er rasierte sich jetzt häufiger, was man entschieden schon als Beginn eines neuen Lebens deuten durfte. Er machte viele einsame Spaziergänge, hielt sein Gefühl lange in sich verschlossen, dann aber ertrug er, wie er mir erzählte, die Einsamkeit nicht länger und wählte mich zu seinem Vertrauten. Daß seine Wahl just auf mich gefallen war, erklärte er damit, daß ich einer ganz anderen Welt angehöre. Ich sei kein Künstler, sondern, wie er sich ausdrückte, ein nüchterner Bürger, dessen Gehirn ruhig und kühl genug funktioniere, um sein kühnes Unternehmen weise und mit Rücksicht auf die Gesetze des Lebens zu beurteilen. Denn seine Freunde, das wußte er, hätten ihm ohne alles Zögern gesagt: ›Heirate sie, Sebfi, heirate sie gleich!‹ So wie auch sie ohne alles Zögern das erste Mädchen heirateten, das tiefere Wirkung auf sie ausübte. Sebfis Seele aber war von Zweifeln durchwühlt, und außerdem hielt er sich für besser als seine Freunde, für wertvolleres Material, für einen der Überlegung fähigen Menschen.«

An diesem Punkte seiner Erzählung wurde Nikolaus gleichzeitig von Lenke und ihrem Vater unterbrochen.

Lenke fragte: »Und was hast du ihm geraten?«

Der Vater: »Und was stand in dem Brief aus Miskolcz?«

Nikolaus antwortete der Reihe nach:

»Ich«, sagte er, »muß aufrichtig gestehen, daß ich ihm nicht dasselbe riet, was ich an seiner Stelle getan hätte.«

»Warum?«

»Weil ich mir nicht vorstellen kann, daß ich jemals unter irgendwelchen Umständen, auch wenn ich in ein derartiges Geschöpf verliebt gewesen wäre … mit einem Wort … ich hätte mir vor allem gesagt: Wie schade, daß man so ein Mädchen nicht heiraten kann. Denn bei mir wäre die bloße Möglichkeit eines solchen Schrittes ausgeschlossen gewesen. Als ich aber Sebfi ansah und mir sein Leben vorstellte, wurde ich plötzlich viel toleranter. Ich sagte ihm, er möge sich davon überzeugen, ob das Mädchen der Liebe eines anständigen, braven Menschen würdig sei, und wenn er finde, daß sie es sei, und immer noch so verliebt bliebe, dann möge er Risa in Gottes Namen heiraten. Denn schließlich und endlich sind wir doch nicht deshalb auf der Welt, um die anderen Leute daran zu verhindern, über uns zu tratschen, sondern deshalb, um glücklich zu werden. Die Welt zerreißt sich überall das Maul, und der große Mühlstein, der den guten Ruf des lieben Nächsten zermalmt, bleibt niemals stehen … warum also sollte so ein armer Teufel, der ohnehin nicht viel vom Leben hat, sein Glück bloß der Rücksicht auf Dinge opfern, die schließlich doch nur für Grafen, Barone und wohlhabende Bürger erfunden wurden.«

»Und was kam aus Miskolcz?« drängte der alte Herr.

»Ja richtig … Miskolcz …«

»Was stand in dem Brief?«

»Tags darauf kam der Brief. Und hier beginnt die Tragödie.«

»Die Tragödie?«

»Jawohl.«

»Also war die Auskunft über Risa ungünstig?«

»Mehr als das – sie war fürchterlich! Sie war niederschmetternd! Der Brief teilte mit, daß Fräulein Risa in Miskolcz sozusagen der Mittelpunkt des Nachtlebens war. Daß das kleine Café, in dem sie angestellt war, ihr allein sein Renommee und seine Anziehungskraft verdankte. Daß die Offiziere nur ihrethalben hingekommen wären und das Fräulein mit ihnen bis zum Morgengrauen champagnisiert hätte. Daß tugendhafte Väter, deren Söhne sich Risas halber in Schulden stürzten, das Fräulein einsperren lassen wollten. Daß alle Lebemänner weinten und alle Väter, Mütter und Gattinnen jubelten, als man vernahm, daß Fräulein Risa nach Budapest übersiedele. Der Besitzer des Kaffeehauses habe sich die Augen rotgeweint und Risa eine ungewöhnlich hohe Summe angeboten, wenn sie bleibe. Risa aber wies jedes Angebot zurück: sie wolle nach Budapest, um dort ein neues Leben zu beginnen. Sebfis Freund, der Chorist, schrieb ferner, daß der Oberleutnant, jener gewisse Oberleutnant, den das Fräulein besonders ausgezeichnet hatte, Risa noch vom Bahnhof mit Gewalt zurückbringen wollte. Er versprach ihr, für sie zu sorgen, sie aus dem Café, in das sie ohnehin nicht passe, herauszunehmen – aber auch diese Aussichten lockten Risa nicht. Sie betonte immer wieder, daß sie in der Hauptstadt ein neues Leben beginnen, daß sie heiraten wolle, und wenn es auch nur ein armer Gewerbetreibender wäre – aber von diesem Leben habe sie genug.«

Der alte Herr schien versöhnlich gestimmt. Er zuckte wieder die Achsel und meinte: »Das klingt ja gar nicht so übel.«

Und Lenke sagte herzlich: »Das ist doch alles schön und gut.«

Nikolaus fuhr fort: »Für uns mag das alles schön und gut sein, der arme Sebfi sah es anders. Er sah nicht bloß das Ende des Briefes, den schönen, klugen und anständigen Entschluß, mit dem Risa sich ernsthaft anschickte, ein neues Leben zu beginnen, sondern er sah mehr ihr altes, bisheriges Leben – und das war niederschmetternd für ihn. Am übernächsten und auch am vierten Tag kam er wieder zu mir, jetzt aber bat er nicht mehr um meinen Rat. Jetzt kam er nur noch, um sein Herz zu erleichtern. Jetzt stand es bereits so, daß er Risa ganz bestimmt um ihre Hand bitten würde. Denn Erkundigungen dieser Art sind ja niemals dazu da, um einen Verliebten in seinen Absichten wankend zu machen, sondern nur dazu, um ihn zu quälen. Er will alles wissen, um desto schmerzlicher zu leiden und zu lieben …«

Auf der Schwelle erschien das Dienstmädchen. Sie wollte den Tisch abräumen. Man erhob sich deshalb und begab sich in Lenkes Zimmer, in das schöne weiße »Zimmer meiner Tochter«, und nahm dort Platz. Hier wurde der Faden der Erzählung wieder aufgenommen, an der angesichts des allgemeinen Interesses Nikolaus selbst Freude hatte. Im Erzählen wuchs sein Anteil am Schicksal Risas.

Er lehnte sich in eine Sofaecke und fuhr fort:

»Endlich kam der große Tag heran. Sebfi legte seinen besten Rock an und erschien vormittags mit frisch rasierten Wangen, an denen ein paar Puderstäubchen hafteten, im Laden Kordas. Er trat geradewegs auf Risa zu, die damit beschäftigt war, frisches Backwerk auf die Glasständer des schmalen Schaufensters zu placieren, und sprach mit ernster Miene: ›Mein Fräulein, ich hätte wichtige Angelegenheiten mit Ihnen zu besprechen.‹ Alle diese Einzelheiten waren natürlich später wörtlich sämtlichen Stammgästen bekannt, denn wochenlang gab es ja in dem Lokal kein anderes Gespräch, wochenlang debattierten wir über den Fall sowohl mit Risa, auch mit Sebfi, ja selbst mit dem alten Korda, der dauernd eine gewisse Gleichgültigkeit zur Schau trug. Aber weiter: Das Fräulein also lächelte Sebfi an, säuberte sich von etwas Staubzucker und nahm dann mit ihm in einer Ecke Platz. Der alte Korda war nicht zu Hause. Nun erklärte Sebfi, daß er Risa liebe, und daß er sie zur Frau nehmen wolle. Das Fräulein hörte – wie später festgestellt wurde – auch jetzt nicht auf zu lächeln und ließ Sebfi reden. Sie gab keinerlei Antwort. Sie antwortete auch dann nicht, als Sebfi endlich mit den Worten schloß: ›Und jetzt bitte ich um Ihre Antwort, mein Fräulein.‹ Wie gesagt, sie antwortete auch jetzt nicht, und Sebfi erkannte, daß sein Leben auch weiterhin mit Unglück und Leid beladen sein werde. Es gibt solche Augenblicke, die blitzartig ein ganzes Leben beleuchten, so wie der kreisende Reflektor eines Leuchtturmes weite Strecken des Meeres erhellt. Und Sebfi war damals der abweisenden Antwort schon so sicher, daß er sie gar nicht zu hören begehrte. Deshalb sagte er rasch: ›Gut, gut, Fräulein, antworten Sie jetzt gar nichts. Lassen Sie sich die Sache ein paar Tage durch den Kopf gehen, schlafen Sie darüber und geben Sie mir dann Bescheid.‹ Aber der Arme sagte das gar nicht so, wie es vielleicht andere gesagt hätten. Er sah längst deutlich, daß Risa nicht im Traum daran denke, ihn zu lieben oder – was zwar weniger, für Sebfi aber reichlich genug gewesen wäre – seine Frau zu werden. Allein solange er dies aus ihrem Munde nicht gehört hatte, blieb ihm doch irgendeine winzig kleine Hoffnung. Jetzt aber antwortete Risa. Sie sagte einfach: ›Lassen wir das, Herr Sebfi!‹ Sebfi aber war nicht geneigt, dieser Aufforderung nachzukommen, und so begann Risa ihm mit sanften und klugen Worten auseinanderzusetzen, daß die Sache völlig unmöglich sei, weil doch Sebfi viel zu jung, ja fast noch ein Kind wäre, daß dies alles eigentlich nur komisch sei und sie nur deshalb nicht lache, weil sie Sebfis Gefühle achte und weil sie überhaupt ein braves Mädel sei, die noch niemanden ausgelacht hätte, der ihr seine Liebe gestand. Das mögen – wie sie sagte – reiche und wohlerzogene junge Damen tun, arme und einfache Mädchen täten es nie. Immerhin schien sie ein wenig gerührt, was jeder verstehen wird, der Sebfi über seine Liebe sprechen hörte. Doch in wie sanfte Formen sie ihre Weigerung auch kleidete – es blieb schließlich doch ein Korb, ein sehr ernster, endgültiger Korb, einer von jener Sorte, nach der ein Mensch von nur einigem Selbstbewußtsein zumindest ein paar Monate lang nicht wieder den Mund auftut. Sebfi aber war, wie er oft genug erklärte, ein Mensch von höchstem Selbstbewußtsein. Deshalb nahm er seinen Hut, grüßte höflich und entfernte sich mit jener Geste, mit der er bei den Prüfungsvorstellungen der Schauspielschule die abgewiesenen Liebhaber zu charakterisieren pflegte. Er wollte nicht posieren, er wollte nur vor dem Mädchen, das er liebte, seine elegante Haltung bewahren. Und eben in dieser Geste lag das Höchstmaß jener Eleganz, die Sebfi, sei es im Leben, sei es auf der Bühne, aufzubringen imstande war.«

Lenke saß zusammengekauert auf einem niederen Polstersessel und drängte nach der Lösung des Konflikts: »Nun, und was geschah schließlich?«

»Nichts weiter.«

»Wieso …? Unternahm Sebfi gar nichts mehr?«

»Nein, gar nichts.«

»Er kam nicht mehr zurück.«

»O doch.«

»Und bat neuerdings um ihre Hand?«

»Das nicht. Er hatte, wie gesagt, viel zu viel Selbstbewußtsein, um je wieder von dieser Liebe zu sprechen. Andererseits war er nach wie vor so sehr von dieser Liebe erfüllt, daß er auch weiter täglich in der Konditorei erschien, wo er nun freilich mehr Seufzer als Kaffee konsumierte. Die gewohnte Gesellschaft wußte alles bis ins kleinste Detail, doch von nun an zog er nicht mehr mich in sein Vertrauen, sondern jenes Fräulein Bella, die ich schon einmal erwähnte, und die Choristin im Volkstheater war. Das hatte seinen guten Grund: Jetzt brauchte sein armes Herz keinen ›nüchternen Bürger‹ mehr, sondern einen Menschen, der so dachte wie er. Man holt sich ja am liebsten dort Rat, wo man hofft, daß dieser Rat angenehm sein werde. Und nun stand die Sache so, daß ihm mit nüchternen bürgerlichen Anschauungen nicht mehr gedient war. Deshalb promenierte er nun fleißig mit Fräulein Bella über die Kerepeserstraße und klagte ihr sein Leid. Die goldhaarige Bella aber referierte dann alles getreulich an Risa, die Sebfis Gefühle immer noch achtete, doch beim besten Willen nicht imstande war, darüber hinauszugehen. Und nun geschah es, daß man mich eines Nachts aus dem tiefsten Schlaf weckte. Jemand begann um zwei Uhr wütend zu klingeln – meine Hausfrau starb fast vor Schreck und getraute sich nicht zu öffnen. Sie lugte nur durch den Ausguck hinaus: Dort stand Sebfi, und da ihn die Hausfrau an der Stimme nicht erkannte, hielt er sich ein Streichholz vor das Gesicht, um sich so zu legitimieren. Meine Hausfrau denkt heute noch voll Entsetzen an jenen Augenblick zurück. Sebfi sah aus wie ein Wahnsinniger. Selbst beim schwachen Licht des einen Streichholzes konnte man sehen, daß er leichenblaß war. Die Hausfrau stürzte in mein Zimmer, rüttelte mich auf und meldete keuchend, mein Freund, der Künstler, sei draußen, aber er sei sicher verrückt geworden, denn er hätte keinen Hut auf und sei so weiß wie die Wand. Wir ließen Sebfi ein, der nun vor meinem Bett auf die Knie fiel und bitterlich zu weinen begann. Plötzlich aber hob er den Kopf – der Schauspieler in ihm erwachte – und mit furchtbar tragischem Ton rief er: ›Herr Doktor … die Polizei hat Risa fortgeschleppt … man hat sie verhaftet …‹ Nun erschrak ich selbst. ›Bitte kommen Sie sofort mit mir,‹ sprach Sebfi weiter, ›sie hat in meine Wohnung geschickt und mich bitten lassen, sofort zu Ihnen zu laufen, damit Sie ihre Verteidigung übernehmen …‹ Ich kleidete mich rasch an, wir eilten hinunter und sprangen in einen Wagen. Zuerst fuhren wir nach der Wohnung Sebfis und holten dort seinen Hut, dann nach dem Polizeipräsidium. Während der Fahrt stotterte Sebfi etwas von dreihundert Gulden, die Risa aus der Kasse entwendet hätte. Sie hatte fliehen wollen, hatte auch schon das Eisenbahnbillett bis Wien … das Geld hatte man nicht bei ihr gefunden. Zwei Detektivs seien abends in ihrer Wohnung erschienen und hätten sie mit sich genommen …«

Nikolaus erhob sich. Die winterliche Mittagssonne lächelte bereits matter. Es schien ihm, als hätte er für heute genug erzählt, überdies mußte er fort.

»Komm doch zum Abendessen her,« sagte Lenke und sah ihren Vater an.

Der alte Herr nickte zustimmend: »Ja, komm abends wieder, Nikolaus. Du kannst dir ja für elf Uhr einen Einspänner herbestellen … denn von hier zu Fuß nach Hause zu wandern, ist nachts immerhin beschwerlich …«

Nikolaus verbeugte sich: »Danke sehr – ich komme also.«

»Und du erzählst dann weiter?« fragte Lenke.

»Natürlich.«

»Aber dann komm auch zeitig.«

»Ich werde mich beeilen. Ich glaube, ich kann um sieben Uhr da sein.«

Der alte Rimmer ging jetzt diskret aus dem Zimmer. Das tat er stets, wenn Nikolaus kam und wenn er Abschied nahm. Mögen sich die Kinder ungestört küssen. So blieben die beiden nun allein in dem weißen Zimmer. Nikolaus legte sanft den Arm um Lenke und sah ihr in die Augen. Lenke fragte ernst: »Sag', aber aufrichtig … Du hast doch nie etwas … mit jenem Fräulein Risa …«

Nikolaus machte große Augen: »Ich?«

»Nun ja … weißt du … wie du erzähltest, daß dich dieser Sebfi abholte und gerade dir sein Herz ausschüttete, lief es mir plötzlich ganz kalt über den Rücken. Ich war überzeugt, daß er dich verdächtigte … daß er glaubte, du seist in jenes Mädchen verliebt … und siehst du, wenn er das geglaubt hätte, so müßte ich es jetzt auch glauben …«

Sie errötete, wurde wieder ganz ernst, und es tat ihr bereits leid, das alles gesagt zu haben.

»Geh, geh jetzt,« sagte sie, »ich schäme mich.«


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