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VII.

Wer an diesem Tage um halb zehn Uhr vormittags zufällig an der Kordaschen Konditorei vorbeikam, konnte Zeuge der folgenden kleinen Szene sein.

Erst öffnete sich die Tür und blieb eine Weile lang offen stehen. Dann kam ein gutgekleideter junger Mann heraus, ohne aber die Tür hinter sich zu schließen. Hierauf rief dieser junge Mann etwas in den Laden zurück, als ob er dort jemand zum Gehen veranlassen wollte. Da dieser Jemand aber nicht ging, trat der junge Mann neuerdings in den Laden. Dann kam er wieder auf die Straße, jetzt aber zog er einen schlechtgekleideten, langhaarigen Jüngling gewaltsam mit sich, der in höchster Erregung nach dem Laden zurückbrüllte. Als endlich beide auf der Straße standen, griff der schlechtgekleidete, erregte junge Mann in die Tasche, raffte alles Geld zusammen, das er dort vorfand, und schleuderte es durch die offene Tür in den Laden, wo es klirrend gegen die Glasschränke, die Gebäckpyramiden und die Bonbonschachteln flog. Nachdem er sich auf diese Weise seines gesamten Kleingeldes – großes besaß er nicht – entledigt hatte, atmete er tief auf, stülpte seinen Hut schief auf den Kopf unerklärte mit einer erschreckend wilden Heiterkeit:

»Aber wenigstens habe ich ihm meine Meinung gesagt!«

Damit wurde es in der kleinen, sonnigen Gasse plötzlich wieder still, und die beiden Gestalten schritten langsam in die Richtung der Kerepeserstraße.

Sebfi faßte Nikolaus am Arm:

»Erlauben Sie, daß ich mich einhänge,« sagte er, »mir schwindelt. Immer, wenn ich mich so aufrege, werde ich ganz schwach.«

Tatsächlich war er sehr blaß und zitterte am ganzen Körper. Schließlich mußte er stehen bleiben und sich an eine Hauswand lehnen. Lächelnd fragte er: »Ist das nicht lustig, Herr Doktor?«

Der Doktor schüttelte traurig den Kopf.

»Ist das nicht lustig,« sagte seufzend der Langhaarige, »daß ich jetzt zum erstenmal etwas davon profitiere, kein Geld zu haben?«

Dann erklärte er sich: »Denn sehen Sie: Wenn ich nur einen einzigen Silbergulden bei mir gehabt hätte – von einem Fünfkronenstück ganz zu schweigen – also wie gesagt, wenn nur ein einziger Silbergulden unter dem Geld gewesen wäre, das ich dort hineinschleuderte, so hätte ich ganz sicher etwas zerbrochen und Schaden angerichtet. Aber mit Zwanzighellerstücken und Kreuzern kann man nichts zerbrechen. Und so habe ich wenigstens nichts zu bezahlen. Ist das nicht lustig?«

Nikolaus sah ihn traurig an. »So darf man sich nicht benehmen, Sebfi,« sagte er kopfschüttelnd. »Das führt zu nichts. Sehen Sie, wenn noch die geringste Hoffnung vorhanden gewesen wäre, daß wir den alten Schurken klein kriegen, so hätten Sie sie jetzt gründlich zerstört.«

Sebfi hob trotzig den Kopf: »Daran liegt mir jetzt nichts mehr!«

»Nun, ich will Ihnen aufrichtig sagen,« gab Nikolaus in vorwurfsvollem Ton zurück, »daß mir ja daran liegt.«

»Nein, mir liegt nichts mehr daran,« wiederholte der andere. »Ich kenne die Menschen. Die Nüchternen, Vernünftigen, wie Sie einer sind, Herr Doktor, die ziehen Schlüsse, klügeln, grübeln, kombinieren, haben Erfahrungen und glauben, daß sie auf diese Weise Menschenkenntnis erwerben. Lächerlich! Ich aber … wissen Sie, was ich habe? Den Blick! Den raschen Blick. Ich weiß in einer Sekunde, ob es sich noch lohnt, so einem Kerl länger zuzusetzen oder nicht. Beim zweiten Satz wußte ich, daß der niemals nachgeben wird. Und wissen Sie warum? Weil er verliebt ist.«

Und mit großem Pathos setzte er hinzu: »Weil er mich haßt …«

Es gibt nichts Peinlicheres als einen Schauspieler im Unglück zu sehen. Ist das Unglück nicht allzu groß, dann geht es noch an, dann spricht er noch halbwegs natürlich. Katastrophal wird die Sache erst, wenn es ihm wirklich schlecht geht. Denn dann beginnt der Arme unfehlbar zu deklamieren. Es scheint, daß das Stadium höchster Erregung automatisch sein Vortragstalent auslöst. Er muß offenbar stets sehr erregt sein, um auf der Bühne mit voller Hingebung spielen zu können. Wurzelt aber diese Erregung in anderen Ursachen, wird sie nicht von der Rolle hervorgebracht, so ist ihr Resultat das gleiche: Auch jetzt deklamiert er. Er ist wie die Puppe, die »Mama« sagt. Wenn das Kind mit ihr spielt und sie auf den Rücken drückt, dann quäkt sie »Mama«. Aber wenn das Haus abbrennt, Feuerwehrleute über die Treppen stürmen, Möbel krachend in den Hof sausen, mit diesen Möbeln auch die Puppe hinabfällt, der dann irgendein verstörter, flüchtender Mensch zufällig auf den Rücken tritt, so wird sie auch dann mitten im Todesgebrüll und Verzweiflungsgeschrei im selben Ton »Mama« quäken. Es ist ihr ganz egal, aus welchem Grunde man sie auf den Rücken drückt.

Solcherart waren Nikolaus' Gedanken, da er jetzt Sebfi ansah. Dieser ballte die Faust, verzog den Mund und knirschte mit den Zähnen. »Ich werde ihn zerschmettern!«

Dann fiel sein Kopf herab, er ließ den Arm sinken und sprach mit bebender Stimme: »Mag ich auch ärmer sein als der ärmste Bettler!«

Nikolaus führte ihn gewaltsam in die alltägliche Prosa zurück, indem er sagte: »Kommen Sie jetzt! Sie sehen, das mit den hundert Millionen Glas Wasser ist nicht gelungen. Sie haben gleich das erste Glas verschüttet. Kommen Sie!«

»Wohin?«

»Ins Gefängnis. Ins Untersuchungsgefängnis.«

Jetzt kam noch eine letzte pathetische Geste: Sebfi drehte seinen Handteller nach außen und streckte den Arm weit von sich, als wolle er etwas von sich weisen, wobei er rief: »Nein, ich gehe nicht in ihre Nähe! Ich will sie nicht sehen! Ich achte ihr Schweigen, ich beuge mich vor ihrer wortlosen Liebe. Ich will nicht, daß sie vor mir schamvoll erröte.«

So kamen sie überein, daß nur Nikolaus zu ihr gehen, Sebfi ihn aber auf der Straße erwarten werde.

An der kleinen Kellertreppe des Gefängnisses aber blieb Nikolaus stehen. Er hatte das Gefühl, sich mit diesem Gang eine Verantwortung aufzuladen. Nein … eigentlich durfte er sich nicht weiter mit dieser Affäre beschäftigen. Lenke fiel ihm ein. Er sah ihren ernsten Kinderblick, als er die Geschichte Risas beendete. Er wollte ihm keine Bedeutung beimessen – – aber jetzt mußte er plötzlich an jenes Beispiel Sebfis denken, mit dem dieser eben ein so großes Fiasko erlitten: an das Beispiel mit den hundert Millionen Glas Wasser. Und er mußte sich sagen: Aus millionenfachen Nichts entsteht dann doch ein Etwas.

Das Leben des Menschen wird auf die peinlichste Art von belanglosen Dingen regiert. Wenn Nikolaus jetzt treppaufwärts in die Gefängniskanzlei gegangen wäre, so wäre alles anders gekommen. Aber er mußte treppabwärts gehen, dorthin, wo die Zellen lagen. Es war, als ob sein eigenes Körpergewicht ihn hinabtrage, ihm den Weg erleichtere. Langsam stieg er hinab … Fünf Minuten später trat ihm im Anwaltszimmer Risa entgegen. Sie reichte ihm die Hand, und Nikolaus fühlte, daß sich ihre weiche und gepflegte kleine Hand warm in die seine schmiege. Und jetzt sagte ihm die kleine, vielerfahrene Abenteuerin mit trotziger, fast kindlicher Stimme:

»Entweder sind Sie Bräutigam oder Rechtsanwalt. Ich wollte Sie schon rufen lassen.«

Wobei sie ihn schmerzlich und ernst anblickte. Nikolaus nahm sich zusammen und murmelte, etwas davon, daß man ihn nicht an seine Pflichten mahnen müsse. Und jetzt machte Risa eine Handbewegung, mit der sie ihn, als wäre sie hier die Dame des Hauses, einlud, Platz zu nehmen. Auch sie setzte sich nieder, legte die Hände in den Schoß und sagte mit etwas erhobener Stimme:

»Ich habe Ihnen sehr wichtige Dinge mitzuteilen. Hören Sie aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen. Sagen Sie mir Ihre Meinung erst am Schlusse. Übrigens, nein … Sie brauchen mir Ihre Meinung überhaupt nicht zu sagen, ich frage auch nicht danach, ich will auch nichts haben … Ich möchte Ihnen, wie gesagt, einige wichtige Dinge mitteilen.«

Wobei sie ihm mit einem tiefen, sehr frauenhaften Blick in die Augen sah, mit jenem feindseligen Blick, mit dem Frauen jemand ansehen, den sie lieben müssen, auch wenn sie es nicht wollen.

Der Rechtsanwalt hielt diesem Blick nicht stand und ließ den Kopf sinken. Er dachte an Sebfi, der draußen auf der Straße wartete.

Das Mädchen begann zu sprechen. Sie begann so, wie Kinder ein Geständnis beginnen, wenn sie ein schlechtes Gewissen haben: Mutlos, fast stotternd. Sie sagte: »Sie wissen noch nicht alles, Herr Doktor. Ja, ich möchte fast sagen, Sie wissen noch gar nichts.«

Wieder blickte sie ihn an. Er fühlte, daß er jetzt etwas sagen müsse, was sie ermutige.

Leise sprach er: »Also erzählen Sie mir alles.«

»Ich kann nicht.« Das klang merkwürdig trotzig.

»Weshalb denn nicht?«

»Weil Sie mich nicht ansehen.«

Nikolaus fühlte jene merkwürdig heiße Empfindung in seinem Gesicht, die in uns den Glauben zu wecken pflegt, daß wir errötet seien. Aber er war nicht errötet. Sondern er blickte nun Risa in die Augen, nahm alle Strenge zusammen, deren er fähig war, und fuhr sie fast an:

»Sprechen Sie nicht so zu mir, Fräulein. So unernste Dinge passen sehr schlecht zu ihrer ernsten Lage und zu dem ernsten Amt, das ich im Augenblick zu erfüllen habe …«

Er hätte diese schöne Tirade noch weiter ausgesponnen, wenn ihn Risa nicht durch ein Lächeln just dort aus dem Konzept gebracht hätte, wo ihr schroffster Teil eben beginnen sollte.

So kam er in Verlegenheit, stockte und hatte das Gefühl, daß er in diesem ganz kurzen Kampf, dessen sehr zarte Waffen aus Lächeln, Blicken und Betonungen bestanden, der Unterliegende sei.

Risa gewann die Oberhand. Sie war eine richtige Frau. Nur eine solche fühlt blitzschnell den Augenblick, der ihr den Sieg bringt. Der Mann pflegt dann immer noch zu grübeln, sich mit Skrupeln abzugeben. Der echten Frau aber flüstert ein besonderer Sinn zu: Dies ist der Augenblick, jener millionste Teil einer Sekunde, den du dir nicht entwischen lassen darfst, an den du dich mit dem ganzen Gewicht deines Lebens anklammern mußt!

Und näher zu Nikolaus hinrückend, begann sie rasch mit heißer Stimme zu sprechen: »Sie wissen gar nichts, Herr Doktor. Sie sind Rechtsanwalt und zerbrechen sich über juridische Dinge den Kopf, anstatt mich so anzusehen, wie ein Mensch den anderen ansehen müßte, der ihm in den Weg gerät. Nicht wahr, Sie halten mich für ein ganz gewöhnliches Geschöpf?«

»Das nicht …«

»Leugnen Sie nicht! Ich sehe das ja an der Art und Weise, mit der Sie mich behandeln wollen. Ich sehe ja, daß Sie vor mir den ernsten Rechtsanwalt posieren, weil Sie Angst haben, daß ich Dinge zur Sprache bringe, die Ihre Seele aufwühlen …«

Nikolaus erhob sich. Jetzt klang es ganz aufrichtig, als er sagte: »Diesen Ton dulde ich nicht.«

Risa aber war jetzt ihrer Sache schon sicher und wußte, daß er sie zu Ende anhören werde. Sie lachte auf.

»Lieber Herr Doktor,« sagte sie, »glauben Sie nicht, daß es wirklich keine Kunst ist, einem armen, verkommenen Mädel gegenüber, das Ihren Besuch im Gefängnis empfangen muß, solche Töne anzuschlagen? Setzen Sie sich schön zurück und schämen Sie sich ein bißchen.«

Das sagte sie mit so überlegener Ruhe, daß es unter allen anderen Umständen auch der nüchternste Beurteiler als Unverschämtheit empfunden hätte. Doch hier, im dämmerigen Kellerzimmer des großen Gefängnisses, mit dem Gefängniswärter im Hintergründe – hier klang es entweder lächerlich oder sehr ergreifend. Es klang fast so, als ob der unter dem Galgen stehende Delinquent mit dem Staatsanwalt, dem Richter, der sozialen Ordnung hadert … das ist keine Unverschämtheit mehr.

Das dachte jetzt auch Nikolaus. Eine merkwürdige Wärme schlich in sein Herz, jene Wärme, die alle glücklichen, sorglos dahinlebenden jungen Menschen empfinden, wenn sie plötzlich vor grauenvolle Lebenstiefen gestellt werden.

Deshalb setzte er sich gehorsam zurück und senkte vor den traurigen Grobheiten Risas demütig den Kopf.

»Sie halten mich für ein ganz gewöhnliches Geschöpf,« fuhr Risa fort, »aber ich bin es nicht. Noch in dieser Stunde, bevor Sie diesen Raum verlassen, werden Sie das fühlen und werden mein wahres Wesen sehen, so wie Sie bis jetzt nur mein Äußeres sahen. Noch bevor Sie diesen Raum verlassen, werden Sie alles erfahren. Wissen Sie, weshalb?«

Nikolaus sah sie fragend an.

»Weil ich Sie nicht früher weglasse. Verstehen Sie? Ich lasse Sie hier nicht hinaus, ehe ich mich nicht so in Ihre Seele eingenistet, so in Ihren Gedanken festgeklammert habe, daß mich von dort niemand und nicht so leicht wieder fortbringt. Und jetzt hören Sie mir zu. Als ich aus der Provinz nach Budapest kam, kam ich, um mein Leben neu in die Hand zu nehmen. Davon, daß ich mir dieses Leben schon ein paarmal verdorben habe, davon wollen wir jetzt nicht sprechen. Ich bin mir darüber ganz klar. Aber ich bin nicht geneigt, mich nun so zu benehmen, wie es die Menschen von mir erwarten. Denn sie erwarten von einem Mädel wie mir, das einmal gestohlen hat, daß es sich von nun an scheu verkrieche, sich niemals mehr hervortraue, sich endgültig unter die Verachtung beuge, die ihm ja nun sein Leben lang gebührt … mit einem Wort, daß es sich ein für allemal in jene Verbannung begebe, in die ihr bürgerliche Sittenmeister ein solches Geschöpf schickt. Warum? Just dann soll ich euch, all euern elenden Kleinkram, eure bösartigen Dummheiten ernst nehmen, wenn von meinem Leben die Rede ist? Warum denn? Damit, daß ich der bürgerlichen Moral einmal einen Fußtritt versetzte und so in euern Augen verächtlich wurde, damit findet ihr euch ab. Daß ich dieser Moral aber jetzt auch weiterhin Fußtritte versetze, das paßt euch nicht? Nur ihr wollt meine Feinde sein, ich aber soll nicht euer Feind sein, was?«

Ihr Gesicht glühte. Man sah es ihr an, daß sie in ihrer Zelle lange nachgedacht und sich dort eine eigene Philosophie zu ihrer Rechtfertigung erklügelt hatte – man sah es ihr an, daß sie durch dicke Mauern vom Leben und von den Menschen abgesondert war, die alle Renitenten zu Boden ringen und nicht dulden, daß irgendeiner auch nur in Gedanken über sie triumphiere.

Nikolaus fragte kühl: »Was wollen Sie damit sagen? Was wollen Sie überhaupt?«

Sie fiel ihm heftig ins Wort: »Ich weiß nicht, was ich will. Aber das alles bedrückte meine Seele, und deshalb mußte ich's Ihnen sagen. Hauptsächlich aber mußte ich es Ihnen sagen, um mich selbst zu etwas zu ermutigen …«

Sie sah ihn mit einem finsteren Blick an. Draußen, im Leben, wäre dieser Blick vielleicht nicht ernst zu nehmen gewesen. Man hätte ihn theatralisch genannt oder zumindest doch den Verdacht gehabt, daß er gemacht und unaufrichtig sei. Hier aber verlieh schon der uniformierte Mann, der sich dort auf der Schwelle langweilte und wartete, bis sich die Gefangene mit ihrem Verteidiger ausgesprochen habe, allen Worten eine traurige Aufrichtigkeit.

»Ich bitte Sie um alles in der Welt,« sagte sie, »erlauben Sie mir eine Minute lang ganz offen zu sein. Ja?«

»Gewiß. Nur …«

»Ich weiß … nur davon soll ich nicht sprechen.«

»Das haben Sie richtig erraten.«

»Und doch dreht sich alles um diesen Punkt. Wenn ich davon nicht sprechen soll, so ist alles, was Sie jetzt von mir hören, Lüge. Denn alles, was ich tat, was ich tue und was ich noch tun werde, läuft darauf hinaus, daß ich Sie liebe.«

Dann wiederholte sie nachdrücklich und so laut, daß es der Wärter fast hörte: »Daß ich Sie liebe.«

Es trat Stille ein. Nikolaus starrte sehr ernst vor sich hin. Risas Worte liefen ihm in die tiefsten Tiefen der Seele.

»Sie sagen,« sprach er endlich, »daß alles darauf hinausläuft …«

»Alles.«

»Sie sagten: Was ich tue und was ich tun werde. Das kann ich, wenn ich will, glauben, oder auch nicht. Aber Sie sagten auch: Was ich tat. Was wollten Sie damit sagen?«

Ohne direkt zu antworten, wiederholte sie trotzig: »Auch alles, was ich tat.«

»Aber wieso denn … also was Sie taten, das, weswegen Sie nun hier sind …«

»Ja.«

»Also Ihr Vergehen … das, was Sie … weswegen man Sie …«

Er wartete. Sie aber war nicht bereit, seine Worte zu ergänzen. Sie ging auf diesen Dialog zwischen den Zeilen nicht ein. Sie drang auf Deutlichkeit. Deshalb sagte sie jetzt: »Kriechen wir nicht wie die Katze um den Brei? Jawohl: Was ich tat, habe ich getan, weil ich Sie liebe.«

»Sie haben …«

»Fürchten Sie sich doch nicht vor dem Wort! Ja: Ich habe gestohlen. Gestohlen, weil ich Sie liebe.«

Jetzt lächelte Nikolaus. Ein merkwürdiges Gefühl der Ruhe überkam ihn plötzlich. Ein Gefühl, wie wir es manchmal im Schlafe haben, wenn wir schlecht träumen und gegen das Ende des Traumes im halben Erwachen denken: Ich Narr, weshalb fürchte ich mich denn, es ist ja nur ein Traum. So war es auch jetzt: Ich Narr, dachte Nikolaus, weshalb erschrecke ich denn, sie lügt mir ja doch nur etwas vor!

Das gab ihm Ruhe, und er lächelte Risa überlegen an. Diese fragte heftig: »Sie lächeln?«

»Ja.«

»Sie glauben wohl, ich halte Sie zum Narren?«

Nikolaus zögerte mit der Antwort.

»Sagen Sie es nur,« drängte Risa, »ich bin nicht empfindlich. Sprechen Sie es ruhig aus. Ich werde nicht beleidigt sein. Kann man mich überhaupt noch beleidigen? Also Sie glauben, daß ich Sie anlüge?«

»Allerdings.«

Jetzt ging auf Risas Gesicht dieselbe Veränderung vor wie kurz vorher auf dem von Nikolaus. Sie wurde plötzlich ganz ruhig.

»Sehen Sie,« sagte sie, »eigentlich ist es gut, daß Sie mir das so ohne weiteres sagen. Auf diese Weise kommt wenigstens keinerlei Mißverständnis zwischen uns auf. Jetzt ist alles ganz leicht zu klären. Denn ich werde Ihnen beweisen, daß ich die Wahrheit sprach.«

»Da bin ich aber neugierig …«

Sie beugte sich näher zu ihm: »Kennen Sie Fräulein Bella?«

»Die Choristin?«

»Ja, sie pflegt in die Konditorei zu kommen.«

»Ja, die kenne ich.«

»Sie wissen, daß wir beide ziemlich befreundet waren?«

»Ich sah, daß Sie öfter miteinander sprachen.«

»Und nicht wahr, Sie wissen auch, daß man damals … als die Kriminalbeamten mich abholten, das Geld nicht mehr bei mir fand.«

»Auch das weiß ich.«

»Sie dürften auch erfahren haben, daß ich mir kurz vorher ein kostbares, sehr kostbares Abendkleid kaufte. Ein wunderschönes Kleid, aus hellblauer Seide mit Silberstickerei.«

»Ich weiß.«

»Sie wissen ferner, daß ich einen Teil des Geldes Fräulein Bella gegeben habe.«

»Jawohl.«

»Nun will ich Ihnen zuerst sagen, weshalb ich mir jenes Kleid kaufte. Interessiert es Sie?«

»Ja.«

»Um Ihnen darin zu gefallen. Denn in der Konditorei, in meinem weißen Kittel sahen Sie mich nicht an. Sie waren der einzige, der sich nicht um mich kümmerte wie die übrigen, obzwar ich nichts anderes tat, als die ganze Wärme meiner Seele in meinen Blick zu legen, und wenn dann dieser Blick zufällig den Ihren traf, goß sich mein ganzes heißes Verlangen hinein.«

»Bitte, bitte …«

»Lassen Sie mich … ich muß Ihnen alles sagen. Viele Nächte hindurch quälte ich mich schlaflos. Und am Morgen, wenn der Laden noch leer und außer mir nur der alte Korda da war, mußte ich mir seine überdeutlichen Anspielungen darauf gefallen lassen, daß er mich liebe, und daß es nur von mir abhänge, seine Frau zu werden.«

Nikolaus lächelte.

»Das wußte ich,« sagte er leise.

»Wieso? Sie haben es erraten?«

»Ungefähr.«

»Nun sehen Sie. Ich konnte kaum die Nachmittagsstunde erwarten, zu der Sie zu kommen pflegten. Und dann kamen Sie und sahen mich wieder nicht an. Und ich quälte mich weiter. Immer leidenschaftlicher bohrte ich mich in dieses unglückliche Gefühl hinein … aber ich will nichts weiter davon sagen, sonst glauben Sie wieder, daß ich Sie anlüge. Denn ich sehe ja: Mein Blick, mein Gesicht, der Ton, in dem ich Ihnen das alles erzähle, reicht nicht aus, um Sie davon zu überzeugen, daß ich die Wahrheit spreche. Sie sind auch jetzt noch Rechtsanwalt. Sie brauchen greifbare Beweise. Gut, Herr Rechtsanwalt, auch die sollen Sie haben. Ich habe damals über meine Gefühle ein Tagebuch geführt. Abend für Abend habe ich dort meine Gedanken aufgeschrieben. In diesem Tagebuch finden Sie auch die Geschichte jenes Kleides. Eines Tages sagte ich mir: Ich halte es nicht länger aus. Ich fühlte, wie mir der Boden unter den Füßen fortglitt, und ich fühlte plötzlich, daß ich nicht zu den Frauen gehöre, die einen Mann mit den üblichen Mitteln erobern können. Was war ich schließlich auch? Wie könnte es mir gelingen, Ihre brave bürgerliche Seele in Aufruhr zu bringen? Da hatte ich einen verrückten Einfall. Als ich einmal in der Stadt spazieren ging, sah ich in einem Schaufenster jenes Kleid. Das Blut stieg mir zu Kopfe. Ein einziger Gedanke erfüllte mein Hirn. Ich werde mir dieses Kleid kaufen, dachte ich, mich wundervoll frisieren, mein Haar parfümieren, ein paar Rosen an die Brust stecken und dann, eines Abends, wenn Sie in den Laden treten, werde ich so vor Ihnen dastehen, strahlend schön, mit roten Wangen, glühenden Augen, und noch ehe Sie vor Überraschung ein Wort hervorbringen, werde ich Ihren Kopf zwischen die Hände nehmen, Ihren Mund küssen und Sie nicht loslassen, als bis Sie wissen, bis Sie fühlen, daß ich Sie wahnsinnig liebe, daß ich Sie anbete, daß ich für Sie sterben könnte …«

Für eine Lüge, dachte Nikolaus, ist dies allerdings reichlich kompliziert.

Sie holte ein paarmal schwer Atem und sprach dann stoßweise mit erstickter Stimme weiter:

»Wie besessen rannte ich in die Konditorei zurück. Noch am selben Abend stahl ich das Geld. Und tags darauf kaufte ich mir das Kleid. Aber ich kam nicht dazu, es anzuziehen, denn sie erwischten mich. Und vorhin habe ich Fräulein Bella nur deswegen erwähnt, weil sie das alles weiß. Und was sich von diesen Ereignissen bis zum Abend vor meiner Verhaftung zutrug, steht Wort für Wort in meinem Tagebuch. Dieses Tagebuch ist bei Fräulein Bella. Wenn Sie wollen, gehen Sie hin und verlangen Sie es.«

Sie schwieg. Nikolaus hatte die Empfindung, als drücke ihm jemand die Kehle zu. Er wußte nichts anderes zu erwidern als: »Fräulein Risa … um Gottes willen … ich habe doch eine Braut … und ich werde ihr das alles Wort für Wort mitteilen …«

Jetzt erhob sich Risa triumphierend. Stolz und höhnisch sagte sie: »Das dürfte bereits überflüssig sein.«

Nikolaus starrte sie verständnislos an.

»Überflüssig,« wiederholte Risa, »weil ich all das, was ich Ihnen eben erzählte, Ihrer Braut ganz ausführlich geschrieben habe.«

»Wann?«

»Gestern. Knapp bevor Sie kamen, verließ mich Bella, der ich diesen Brief zuschieben konnte. In diesem Augenblick hat ihn Ihre Braut wohl schon gelesen.«

Nikolaus sprang auf. Mit weitgeöffneten Augen rief er: »Das ist nicht wahr!«

Jetzt aber saß Risa ganz unbeweglich, fast gleichgültig auf ihrem Stuhl und antwortete nicht. Doch in dem Blick, den sie jetzt auf Nikolaus warf, las dieser die schlimmste Antwort.

»Es ist nicht wahr!« rief er noch einmal. »Auch wenn Sie jetzt schweigen – es ist doch nicht wahr.«

Er wartete, daß sie etwas erwidere, aber sie blieb stumm. Sie sah ihn nur an. Ein seltsames, bitteres Lächeln zuckte um ihren Mund, ein Lächeln, das sagen wollte: Es scheint, daß du noch immer nicht weißt, wer ich bin.

Nikolaus sagte zum drittenmal: »Es ist nicht wahr!«

Dann schien es ihm, als ob der Wächter an der Tür zuhöre. Er zog also seinen Stuhl dicht an Risas Füße heran und begann jetzt hastig und überstürzt zu sprechen, um dieser ganzen fürchterlichen Situation möglichst rasch ein Ende zu bereiten. Denn es war ja doch alles gelogen, und diese Lüge sollte ihn nicht eine Sekunde länger quälen.

Er sagte: »Alles, was Sie da erzählen, ist erlogen. Ebenso erlogen wie die Schauergeschichte von dem Kleid. Ich weiß das ganz genau. Sie wollen mich erschrecken, wollen mich fangen … Sie fürchten offenbar, daß ich Ihre Sache nicht mit der nötigen Ambition betreibe, und so tischen Sie mir allerhand Märchen auf und sind geschmacklos genug, selbst meine Braut in diese unsauberen Dinge hineinzumengen. Sie sollten sich schämen, mein Fräulein – nicht weil Sie taktlos und geschmacklos, sondern weil Sie so ungeschickt sind! Also geben Sie es doch selbst zu, daß das alles nur ein Scherz war.«

»Keineswegs.«

»Sie sind eigensinnig.«

»O nein. Aber ich habe nicht gelogen. Was ich Ihnen sagte, ist Wort für Wort wahr.«

»Sie haben meiner Braut wirklich geschrieben?«

»Jawohl.«

Das klang jetzt so ernst, daß man es glauben mußte. Ihm stockte der Atem. Dann klammerte er sich an eine letzte Hoffnung und fragte: »Aber Sie haben den Brief nicht abgeschickt?«

»Doch, ich habe ihn abgeschickt.«

»Wohin?«

»Ins alte Gefängnis. Wo der Vater Ihrer Braut Direktor ist. Fräulein Bella hat sich einen Fiaker genommen – sofern sie die fünf Gulden, die ich ihr zu diesem Zwecke gab, nicht anderweitig verwendete.«

Nikolaus sprang auf und nahm Stock und Hut. Das Mädchen trat ganz sanft vor ihn hin: »Gehen Sie jetzt nicht fort, Herr Rechtsanwalt.«

»Natürlich gehe ich.«

Erregt und blaß wandte er sich dem Ausgang zu.

»Gehen Sie jetzt nicht fort, Herr Rechtsanwalt,« sagte Risa sanft lächelnd nochmals. »Ich rate Ihnen, gehen Sie jetzt nicht fort. Ich rate Ihnen gut.«

Nikolaus blieb stehen. Er fühlte, daß sie wieder jenen Ton anschlage, dem man nicht widerstehen konnte.

»Weshalb soll ich jetzt nicht gehen?«

»Wenn Sie jetzt gehen und ich sehe, daß Sie mich sitzen lassen, mich abschütteln wollen, dann wird die ruhige Untersuchungsgefangene, die jetzt vor Ihnen steht, Ihnen plötzlich um den Hals fallen, wird mit Ihnen ringen, wird schreien und brüllen, daß das ganze Haus zusammenläuft, und wird Sie, Herr Rechtsanwalt, mit Gewalt, mit aller Kraft der letzten Verzweiflung hier festhalten, auch wenn dabei Ihr schöner Anzug in Fetzen geht, Ihr Hut zerquetscht wird und auch wenn Sie sich schließlich nur mit Hilfe zweier Gefängniswärter von mir befreien können.«

Die letzten Worte hatte sie bereits laut, mit weinerlicher, zitternder Stimme gesprochen. Nikolaus sah sich ängstlich um. Aus dem benachbarten Amtszimmer steckte jemand den Kopf zur Tür herein. Auch der Wärter an der Tür stand nicht mehr so bewegungslos da wie früher.

»Um Gotteswillen, sprechen Sie leiser!«

Risa wandte den Kopf und sah das neugierige Gesicht des Beamten. Jetzt war auch der Wärter um einen Schritt nähergekommen. Sie schwieg, setzte sich auf ihren Stuhl zurück und begrub ihr Gesicht in den Händen. Eine lange Weile saß sie so da.

Ratlos stand Nikolaus vor ihr. Seltsame, ungewohnte Gedanken und Gefühle stürmten auf ihn ein. Er erkannte, daß ihn nicht bloß der Zufall in diese Lage versetzt hatte. Er wußte, daß er, wäre er weniger aufrichtig zu sich selbst gewesen, gefragt hätte: »Was habe ich mit all dem zu tun?« Doch er war aufrichtig zu sich selbst, und er hatte die seltene, gute Gabe, deren Mangel unser armes Herz so oft schmerzlich empfindet – die Gabe, sich selbst klar zu sehen. Und so sah er auch, daß er nicht schuldlos daran war, wenn er jetzt hier im Amtszimmer des Gefängnisses diesem weinenden Mädchen hilflos gegenüberstand. Diesem Mädchen, das – jetzt glaubte er es schon – in ihn verliebt war. Schuldbewußt empfand er: Auch er hatte sich für Risa interessiert. Hatte sich mehr mit ihr beschäftigt, als angängig war. Ja mehr, als schicklich war. Er dachte an Lenke, an ihr weißes Mädchenzimmer und an den stillen, alten Herrn, der so geschickt zu verschwinden wußte, wenn die Jungen allein bleiben sollten.

Er sah Risa an. Sie weinte leise vor sich hin. Nun erkannte er, daß sie recht gehabt hatte, als sie von ihrer letzten Kraft sprach. Eben noch, als sie ihm glühenden Auges mit stolz erhobenem Haupte ins Gesicht schleuderte, daß sie ihn mit Gewalt hier festhalten werde, da war sie noch von kriegerischem Lebensdrang, von Überlegenheit und Kraft erfüllt. Da war es ihm noch, als ginge unwiderstehliche Macht von ihr aus. Vor ihren Worten verschwand das Gefängnis, verschwanden alle Symbole ihres Gefangenseins. Der Wärter dort schrumpfte zu einem gleichgültigen, umherlungernden Bedienten zusammen, und das Amtszimmer wurde zur Behausung Risas, in der sie Herrin war.

Jetzt aber saß sie gebrochen da, das Antlitz in die Hände vergraben, leise weinend. Ein erbarmungswürdiges, elendes Geschöpf, das allen Trotz, alle Kampflust aufgegeben hatte. Der Mann an der Tür wurde wieder zum Gefängniswärter, die Wände des Zimmers schlossen sich wieder fester um sie, und die Eisenstäbe des Fenstergitters zeichneten sich bedeutungsvoll vom blauen Himmel ab. Sie war wieder Risa, die Untersuchungsgefangene.

Nikolaus erschrak vor sich selbst. Er fühlte, daß sie ihn jetzt fester in ihrer Gewalt habe als vorhin, da sie mit ihm ringen, ihn nicht fortlassen wollte. Er hätte gern gewußt, ob auch ihr dies ins Bewußtsein trat, und er dachte: Wenn auch sie es fühlt – dann weint sie deshalb. Allmählich empfand er die Notwendigkeit, etwas zu sagen. Er bohrte mit seinem Stock in den zerschlissenen Teppich, der unter dem Tisch lag, und brachte nichts hervor als: »Nun ja, aber …«

Weiter kam er nicht. Er wartete auf eine Antwort. Doch die Antwort Risas erschöpfte sich in einem leisen Erzittern ihrer Schulter. Sie weinte immer noch.

Er begann aufs neue: »Nun ja, aber sehen Sie …«

Alle wirklichen Dramen begnügen sich mit solch einfachen Worten. Die großen Aufschreie voller Tod und Leidenschaft kommen nur auf der Bühne vor. Die allertraurigsten und allerernstesten Szenen unseres Lebens bestehen alle aus solchen: »Nun ja« und solchen: »… aber sehen Sie …«

»Ach was,« sagte Risa plötzlich und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, als ob sie nicht nur ihre Tränen, sondern ihr Weinen überhaupt mit einer einzigen Bewegung fortwischen wolle. In dieser trotzigen Bewegung lag Scham, aber auch Ärger darüber, so weich geworden zu sein. Langsam versuchte sie zu lächeln.

Nikolaus fragte: »Also sagen Sie mir – was wollen Sie eigentlich?«

»Gar nichts.«

»Ich möchte Sie nicht kränken. Ich sehe, daß Sie unruhig sind. Aber ich glaube, Sie wissen selbst nicht recht, was Sie wollen.«

Das Mädchen sah ihn an. »Da mögen Sie recht haben.«

Sie ließ ihren Blick eine Weile auf ihm ruhen und flüsterte dann: »Wenn Sie wollen, können Sie auch gehen.«

Sie setzte hinzu: »Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt … aber meine Kraft verließ mich zu früh. Diese Schlacht habe ich verloren. Gehen Sie also und tun Sie, was Sie wollen … gehen Sie zu Ihrer Braut … ich bin unterlegen, ich bleibe verwundet auf dem Kampfplatz liegen …«

Nikolaus versuchte sie zu trösten: »Na, na … Sie müssen nicht so traurig sein.«

Gleich darauf fühlte er aber, wie dumm dieser Satz klang. Deshalb schien es ihm gebotener, in den Ton des Rechtsanwalts zu verfallen: »Nehmen Sie sich zusammen, denken Sie an Ihre Lage. Ich will alles tun, was in meinen Kräften steht, um Ihr Leben wieder in Ordnung zu bringen.«

Sie erhob sich.

»Gehen Sie,« sagte sie, »jetzt bitte ich Sie zu gehen. Ich muß jetzt einen Tag lang mit mir allein sein, um nachdenken zu können. Aber haben Sie keine Angst um mich … wenn ich ausgeschlafen habe, bin ich morgen früh wieder ganz frisch und mutig. Ich darf mich nicht so gehen lassen wie vorhin, sonst ist alles aus. Aber …«

Sie brach ab. Nikolaus wartete vergebens auf die Fortsetzung. Endlich fragte er: »Aber?«

»Aber ich möchte Sie noch um etwas bitten.«

»Und zwar?«

»Ach – es ist ganz kindisch von mir. Und Sie dürfen es mir wirklich nicht übelnehmen.«

»Also was ist es denn?«

»Sehen Sie … es ist wirklich lächerlich und kindisch … aber es täte mir jetzt so wohl …«

Sie getraute sich nicht mit der Sprache heraus.

»Nun so sagen Sie doch, was es ist!«

Sie schlug die Augen nieder wie die Naive im Lustspiel. Es war eine Pose, die ihr gar nicht stand. Vielleicht war sie aber eben deswegen durchaus aufrichtig. Leise sagte sie: »Geben Sie mir die Hand … und …«

»Und?«

»Und … streichen Sie mir einmal über das Haar.«

Nikolaus erschrak. Aber sein Herz war voller Mitleid und Menschlichkeit. Langsam streckte er ihr seine Hand entgegen. Risas Hand war heiß und zitterte, als sie sich in die seine schmiegte. In diesem Augenblick überkam ihn ein tiefes und echtes Erbarmen. Ein Hauch von Güte strich warm über seine Seele, und er fühlte, daß er dieses arme, verlorene Kind nun streicheln müsse. Und während er mit der Rechten ihre Hand festhielt, strich er ihr mit der Linken sanft das Haar aus der Stirn. Eine Sekunde lang ließ er die Hand auf ihrem weichen, schwarzen Haar ruhen …

Die auf den Korridor führende Tür öffnete sich lautlos. Ein bewaffneter Mann öffnete sie. Und ein zweiter steckte den Kopf herein.

Es war Sebfi, der ungeduldige Sebfi. Einen Augenblick lang ergab sich nun folgendes Bild: In der einen Tür der eine Wärter, in der anderen der zweite. Im Zimmer Risa und Nikolaus, dessen Hand auf ihrem Haar ruht, und in der einen Türöffnung ein überraschter, glotzender Kopf mit zwei verlegenen Augen in einem verstörten Gesicht.

Risa erblickte Sebfi zuerst. Sie lächelte. Es war ein triumphierendes Lächeln. Erst dieses Lächeln veranlaßte Nikolaus hinzusehen. Sebfi starrte noch eine Weile lang hin, dann zog er den Kopf zurück. Hinter ihm schloß sich die Tür. Das Bild war vorbei.

»Was war das?« fragte Nikolaus erstaunt.

Sie lächelte noch immer: »Das war Sebfi.«

»Und …?«

»Und er sah, daß Sie meine Hand festhielten und mich streichelten. Aber er konnte es nicht ansehen. Er verschwand bald.«

»Und darüber freuen Sie sich?«

»Sehr!«

»Warum denn?«

»Ich weiß es selbst nicht. Aber ich empfinde es geradezu als Glück. Weiß Gott weshalb – vielleicht, weil jetzt doch jemand da sein wird, der Ihnen keine Ruhe läßt, sich meiner Sache gehörig anzunehmen … denn dieser Mensch wird Ihnen jetzt heftig zusetzen …«

Sie freute sich wirklich. Man sah es an ihrem Gesicht. Sie war plötzlich ganz heiter geworden.

»Heute habe ich doch einen guten Tag!« sagte sie fröhlich. »Und jetzt gehen Sie, Herr Rechtsanwalt!«

Nikolaus schritt auf die Tür zu. Er empfand es peinlich, daß ihn Sebfi nun draußen erwartete. Aber schließlich war das jetzt egal.

»Gehen Sie jetzt, Herr Rechtsanwalt!« sagte Risa. »Fürchten Sie sich nicht!«

Er wandte sich zurück.

»Ich fürchte mich nicht,« sagte er fast beleidigt. Dann verließ er das Zimmer. Er hatte vergessen zu grüßen.


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