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V.

Hier draußen war der Abend still und friedlich. Hier gab es kein Wagengeräusch, hier war auch jener gedämpfte Straßenlärm, der in der Stadt selbst die dicksten Vorhänge durchdringt und sich in die Wohnungen schleicht, nicht hörbar. Weite Ackerfelder schliefen ringsum unter der Schneedecke, und das große Haus schwieg gleich ihnen. Doch das große Haus schlief nicht, wie die Felder. Man fühlte, daß es wach sei und nur schweige. Man fühlte hinter jedem Fenster Menschen mit offenen Augen, und wer auf dem verschneiten Hofe stehen blieb, ahnte, daß in jeder Zelle Seufzer aufstiegen, und dieses Gefühl, diese Ahnung machten die scheinbare Ruhe hier zu einer erstickten, erzwungenen Stille. Es war eine Stimmung, in der man glauben konnte: Noch eine Minute, und es bricht helle Empörung aus, die eisernen Tore bersten krachend, eine brüllende Menge wälzt sich über die langen Korridore, wie ein Strom, der seine Dämme zerrissen … Wohl jeder, der an Winterabenden ein Gefängnis besuchte, kennt diese Stimmung. Sie ist seltsam und beunruhigend.

Der kleinen Gesellschaft aber, die in der Rimmerschen Wohnung wieder um den Speisetisch saß, lagen solche Gedanken fern. Dem alten Rimmer deswegen, weil ihn die Gewohnheit längst abgestumpft hatte, seiner Tochter, weil sie das Haus noch nicht kannte, nicht wußte, was rings um sie vorging; und so war Nikolaus der einzige, von dem sich voraussetzen ließe, daß er diese Stimmung empfunden hätte – wäre Nikolaus nicht verliebt gewesen.

Nur so war es möglich, daß die Drei jetzt gemütlich und behaglich zu Abend essen und vertraulich leise miteinander plaudern konnten, so wie man etwa an langen Winterabenden in der warmen Stube eines ländlichen Gutshofes miteinander plaudert. Die heiße Erregung, die hier in der Luft lag, war ihnen nicht fühlbar, und sie hörten auch die Seufzer nicht – jene Seufzer, die man freilich nicht mit dem Ohr, sondern nur mit dem Herzen hören kann … In ihrer geruhsamen Zufriedenheit fühlten sie nichts von den vielen unglücklichen Herzen, die in ihrer Nähe schlugen, nichts von den vielen zermarterten Seelen, die sich überall in Qualen wanden: ein Stockwerk unter ihnen, ein Stockwerk über ihnen, rechts und links, überall, wie in einer großen kalten Hölle voller Verdammter. Inmitten dieser kalten und doch fiebernden Welt saßen so drei glückliche Menschen, die es nicht nötig hatten, nachzudenken. Das freundliche Licht der Lampe fiel auf ihre Gesichter, auf denen Glück und Heiterkeit lag.

Nikolaus hatte seine Erzählung von neuem aufgenommen. Er sprach leise und lässig, wie einer, der keine Eile hatte und an seiner Erzählung nicht viel Anteil nahm.

»Wir sind also dort stehen geblieben,« sagte er, »da wir uns nachts in einen Wagen warfen und ins Polizeipräsidium fuhren, wo Risa eben vernommen wurde. Nachdem ihr Geständnis zu Protokoll gebracht war, konnte ich mit ihr sprechen. Aber ich bemühte mich vergebens, sie zum Reden zu bringen. Sie starrte finster vor sich hin und bat mich, sie in Ruhe zu lassen, sie sei jetzt sehr ermüdet. Soviel ich ihr auch zu erklären versuchte, daß es in ihrem Interesse läge, wenn wir möglichst rasch alle Hebel in Bewegung setzten, um ihre Befreiung zu erreichen – sofern dies überhaupt möglich war –, sie gab keine Antwort. Ich stand da wie ein lästiger, abgewiesener Besucher, und alles, was ich erreichen konnte, war, daß sie mich zu ihrem Verteidiger nominierte und mir gnädig gestattete, sie am nächsten Tag neuerdings aufzusuchen. Nun vergingen einige Tage, in denen nichts Nennenswertes geschah. Dann brachte man sie nach dem Untersuchungsgefängnis der Staatsanwaltschaft, und dort konnte ich mit ihr sprechen. Sebfi rannte unterdessen wie ein Wahnsinniger in der Stadt umher. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, die dreihundert Gulden zusammenzubringen, mit denen Risa zu retten gewesen wäre. Aber alle seine Laufereien hatten kein anderes Resultat, als daß er unter völliger Erschöpfung seines Kredits und zu den höchsten Wucherzinsen ganze zwanzig Gulden aufbrachte. Zwanzig Gulden, die ihn, dank einigen wucherisch begabten Kellnern und unternehmend gesinnten Dienstmännern, im Augenblick, in dem er sie erhielt, bereits vierzig Gulden kosteten, ihn seinem Ziel aber nicht näher brachten. Diese zwanzig Gulden übergaben wir dem Gefängnisinspektor, damit er sie zur Aufbesserung von Risas Kost verwende, und neulich, Mittwoch, als ich Lenke vom Bahnhof abholte, suchte ich nachher Korda auf, um mit ihm über den Fall Risa zu sprechen. Der Alte aber wollte nichts hören. Alle meine Überredungskünste waren vergebens – er zog die Klage nicht zurück. Als ich Sebfi mitteilte, was der Alte gesagt hatte, brach der arme Kerl in bittere Tränen aus. Nun half gar nichts mehr, nun mußte man sich damit abfinden, daß Risa wegen lumpiger dreihundert Gulden, die in ganz Budapest nicht aufzutreiben waren, ins Gefängnis kam. Ich gestehe, ich selbst versuchte, das Geld herbeizuschaffen, nicht so sehr Risas halber, sondern weil mir der arme Sebfi leid tat, aber mir gelang es nicht. Vielleicht wäre es mir gelungen, wenn ich selbst die Summe so furchtbar dringend gebraucht hätte wie Sebfi – kurzum, auch ich versagte. Tags darauf sprach ich im Gefängnis mit Risa.«

Die Spannung der beiden Zuhörer steigerte sich an diesem Punkte merklich. Denn jetzt erst trat Fräulein Risa Nagy als handelnde Person auf. Bisher war immer nur von ihr die Rede gewesen, dies war der Augenblick der persönlichen Bekanntschaft.

»Hat sie dich empfangen?« fragte Lenke.

»Ja.«

»Und jetzt war sie nicht mehr so zornig?«

»Nein.«

»Was sagte sie?«

Nikolaus machte eine Pause. Es war, als nehme er einen kleinen Anlauf, als er fortfuhr:

»Sie erzählte fürchterliche Dinge.«

Dieser kurze Satz wehte wie ein eisiger Hauch durch die freundliche Stille des Zimmers, in dem die Geschichte Risas nachgerade den fast langweiligen Ton eines gleichgültigen Berichtes angenommen hatte.

»Sie begann damit, daß sie schon einmal einer ähnlichen Sache halber in Untersuchungshaft gesessen habe. Sie habe sich in Klausenburg ein ganz ähnliches Vergehen zuschulden kommen lassen. Dort aber hatte sie viele freigebige Freunde, und ein junger siebenbürgischer Magnat habe damals die ganze Summe erlegt und so sei sie mit einem blauen Auge davongekommen. Ich erinnere mich: Für ihren jetzigen Fall hatte sie eine ganz merkwürdige Bezeichnung. Sie sagte immer nur: ›Jetzt bin ich hängen geblieben.‹ Sie war überhaupt sehr merkwürdig und benahm sich ganz anders, als ich es bisher von ihr gewohnt war. Vielleicht lag das an mir, vielleicht auch nur an der schneeweißen Schürze und dem schneeweißen Spitzenkragen, in dem ich sie bisher immer gesehen hatte, einer Tracht, die sich vollkommen mit ihrem heiteren, freundlich lächelnden Wesen deckte. Und jetzt hatte sie plötzlich mit dieser Tracht auch jenes Wesen abgelegt.«

Lenke unterbrach hier: »War sie traurig?«

»… nein.«

»Zornig?«

»Auch das könnte ich nicht sagen.«

»Also worin bestand eigentlich ihr merkwürdiges Benehmen?«

»Gott weiß … das läßt sich sehr schwer schildern. Sie sah mich ernst, fast streng an. In ihrem Blick war feste Entschlossenheit, ihre Augen, diese großen, schönen, schwarzen Augen, blitzten wild, und vielleicht hatte ihr Gesicht auch deshalb einen so wilden Ausdruck, weil ihr schwarzes Haar, das früher in kleinen Löckchen ihre Stirn umgeben hatte, jetzt in großen Wellen ungepflegt über ihre Augen hing. Ich machte damals die erschreckende Entdeckung, daß ich mich in diesem Mädchen getäuscht hatte. Nicht das sanfte, stets lächelnde Geschöpf, das so anmutig mit dem Zuckergebäck hantierte, war die echte Risa, sondern dieses wilde, schwarze kleine Frauenzimmer, aus deren Blicken Trotz und Energie sprach, und deren Bewegungen einen Menschen verrieten, der zu allem entschlossen, zu allem fähig war. Ich muß gestehen, daß ich ein wenig vor ihr erschrak. Dann aber dachte ich daran, daß ich ihr schließlich als Amtsperson gegenüberstehe, daß ich ihr Verteidiger sei und deshalb keine Zeit habe, psychologische Beobachtungen zu machen und mich bei ihrem so plötzlich veränderten Betragen aufzuhalten. Ich ging also auf den juridischen Teil meines Besuches über und teilte ihr mit, daß ich in ihrem Interesse mit dem alten Korda gesprochen hätte. Sie sah mir scharf in die Augen und fragte nur:

›Weshalb haben Sie das getan?‹

Ich mußte mich noch förmlich entschuldigen. ›Es war das einzige, was ich in Ihrem Interesse versuchen konnte.‹

›Und was sagte der Alte?‹

Ich zuckte die Achsel. ›Er will nichts hören.‹

›Na, sehen Sie!‹ sagte sie triumphierend, als freue sie sich darüber, den alten Korda besser zu kennen als ich.

Um sie irgendwie zu trösten, erzählte ich ihr, wie sehr sich Sebfi angestrengt hätte, um das Geld zu beschaffen, und wie es ihm doch nicht gelungen sei, worauf sie zu meiner größten Überraschung meinte: ›Ich ekle mich vor diesem Sebfi!‹

›Was?‹ fragte ich, ›aber er betet Sie doch an, er will Sie doch heiraten, er schwor mir noch gestern, daß er kein anderes Ziel habe als Sie zu befreien, Sie zu seiner Frau zu machen, Sie zu retten …!‹

›Ich ekle mich vor ihm,‹ sagte sie noch einmal, ›gerade deswegen ekle ich mich vor ihm! Daß er mir nicht herkommt!‹

Ich stand starr da. Dann schien sie sich zu besänftigen und sagte in entschuldigendem Ton:

›Sie müssen mich deshalb nicht verurteilen. Aber sehen Sie … er geht mich nun einmal nichts an, ich habe nichts für ihn übrig, es fällt mir nicht ein, ihn zu lieben … er aber hängt sich an mich, läuft mir nach, will mich retten, drängt sich mir auf – und er weiß doch, daß ich ihn nicht mag. Ich brauche ihn nicht, weder ihn noch sein Leben, ich brauche so einen armen Narren nicht, bloß deshalb, weil er mich heiraten will. Lieber Herr Rechtsanwalt – verstehen Sie doch: mich kann man nicht heiraten. Nicht weil ich bisher schlecht und leichtsinnig gelebt habe, sondern weil ich nicht aus dem Holz geschnitzt bin, aus dem man die braven Ehefrauen schnitzt. Ich wollte aus eigener Kraft etwas werden. Sie müssen aber nicht etwa glauben, daß ich künstlerische Ambitionen hatte. Nein, davon ist keine Rede. Ich wollte nur leben, wie immer, mit wem auch immer, aber leben, leben … und Gewalt über das Leben haben … eine Frau werden, von deren Gnade große Männer abhängen, eine Frau, die diktieren, befehlen kann.‹«

Lenke hörte atemlos zu. In ihren Augen war jetzt jener erregte, fassungslose Blick, der stets in den Augen unschuldiger, wohlgehüteter, junger Mädchen aufblinkt, wenn von einem interessanten Weibe die Rede ist, das nicht so leben will wie sie: sanft eingebettet in friedsames Herdglück; sondern das in die Welt hinauswollte, um zu kämpfen, zu trotzen, zu erobern, zu herrschen.

»Ein interessantes Mädchen,« flüsterte sie leise.

Nikolaus nicke zustimmend: »O ja …«

»Und dann?«

Nikolaus erzählte weiter.

»Und dann? Also ich war äußerst überrascht. Und ich verspürte eine seltsame, schmerzliche Regung, als ich feststellte, daß ich dies alles erst jetzt im Gefängnis erfahren durfte, jetzt, da es nahezu unmöglich schien, sie zu befreien. Ich muß sagen, es war ein starker Eindruck, als sie mir so auseinandersetzte, was sie werden wollte. Sie stand hochaufgerichtet da, und man sah es ihr an, sie hätte ihr Ziel erreicht, wäre sicher das geworden, was sie werden wollte, wenn sie jetzt nicht ›hängen geblieben‹ wäre, wie sie sagte. Ja, ich hatte irgendwie den Eindruck, daß sie sich noch immer herausarbeiten könne, obzwar ich freilich nicht wußte, wie ihr zu helfen wäre … aber ihr Blick sagte mir: Dieses Mädel wird den Weg finden, der aus dem Gefängnis hinaus und mitten ins Leben hineinführt.«

Jetzt ließ sich der alte Rimmer vernehmen: »Warum hat sie eigentlich gestohlen?«

»Auch das erzählte sie mir.«

»Nun?«

»Sie hatte die Absicht, mit diesen dreihundert Gulden nach Wien zu fahren. Sie rechnete dabei auf zwei Wiener Bekannte, und zwar auf eine junge Ungarin, die vor Jahren nach Wien gegangen war und dort in einem großen Theaterballett tanzte, und dann auf einen Offizier, mit dem Risa in Arad bekanntgeworden war. Mit dem Gelde hoffte sie so lange leben zu können, bis sie jenen Offizier gefunden hätte, den sie dann, wie sie sagte, gebeten hätte, die Summe an Korda zurückzuschicken. Mit Hilfe jenes Mädchens aber wollte sie bei irgendeinem Theater ankommen, nicht um Künstlerin zu werden, sondern um Bekanntschaften zu machen und aus diese Weise jenen Eroberungsfeldzug zu beginnen, von dem sie so viel träumte.«

»Na,« meinte der Alte, »eine recht faule Ausrede.«

»Ich weiß nicht, ob es eine Ausrede war. Die Arme hatte einfach Pech. Die längste Zeit hindurch hatte sie das Geld verwaltet und das Kassabuch geführt, sie hätte zehnmal mit größeren Summen durchgehen können, ohne daß der Zuckerbäcker darauf gekommen wäre. Und nur der Umstand, daß Korda die dreihundert Gulden am nächsten Tag zur Bank bringen wollte, brach ihr das Genick. Innerhalb fünf Minuten war der Diebstahl offenkundig, und schon war auch die Kriminalpolizei da.«

»Das Geld war damals nicht mehr vorhanden?«

»Nein.«

»Was hatte sie damit getan?«

»Auch darüber gab sie mir genaue Auskunft. Zwanzig Gulden lieh sie Fräulein Bella, für zweihundertdreißig Gulden kaufte sie sich ein wunderschönes Kleid, das sie im Schaufenster eines Modehauses gesehen hatte, für ein paar Gulden war sie Fiaker gefahren, den Rest hatte sie noch. Er betrug etwa fünfunddreißig Gulden. Damit wollte sie reisen.«

»Aber das Kleid hätte man doch zurückgeben können und so wenigstens einen Teil des Geldes wiedererhalten.«

Nikolaus lächelte: »Das ist auch nicht mehr möglich, dafür sorgte sie rechtzeitig. Als die Kriminalbeamten bei ihr erschienen, bat sie um die Erlaubnis, ihre Sachen in Ordnung bringen zu dürfen, und einen Augenblick später hatte sie das teure Kleid in tausend Fetzen zerrissen. Dann gab sie dem Dienstmädchen zehn Gulden Trinkgeld, schickte weitere zehn Gulden dem Hausmeister hinunter, den Rest warf sie zum Fenster hinaus, und dann sagte sie: ›So, meine Herren, jetzt können wir gehen.‹«

»Ein interessantes Mädchen,« flüsterte Lenke.

Nikolaus fuhr fort:

»Als ich sie fragte, warum sie das alles getan habe, zuckte sie nur die Achsel: ›Ich weiß es nicht, ich war verrückt.‹ Ich erklärte ihr, daß, hätte sie das alles nicht getan, jetzt ein beträchtlicher Teil der Summe dem alten Korda zurückgegeben werden könnte – den Rest hätte man vielleicht auch noch aufgetrieben und sie wäre vielleicht aus der Haft entlassen worden. Darauf lachte sie nur und sagte:

›Damals war mir eben alles egal. Es ist eben wieder nicht gelungen – da läßt sich nichts tun. Es gelingt mir nie … ich habe schon oft versucht, mich aus diesem Leben herauszureißen, ein paarmal auf schlimme Art, viel öfter durch Fleiß und Arbeit … es gelang nie. Ich war schon furchtbar verbittert. Ich sagte mir: Das Leben gibt es nicht zu, daß du hinaufkommst und den Kopf an die Oberfläche hebst. So oft ich es auch versuchte, immer wieder drückt mich das Leben hinunter. Es scheint, daß es mein Schicksal ist, unten zu krepieren!‹

So sprach sie. Dabei sah sie mich trotzig, ja feindselig an, als sei auch ich ein Teil, ein Atom jenes Lebens, das sie immer wieder in die Tiefe zurückstößt. In diesem Augenblick tat sie mir sehr leid.«

Nikolaus machte eine Pause. Seine Miene war nicht mehr gleichgültig wie am Mittag, als nur die berufsmäßige Anteilnahme als Rechtsanwalt seiner Geschichte Farbe und Wärme gab. Jetzt schien er plötzlich selbst zur handelnden Person geworden.

Er schwieg, und es schien, als habe dieses Schweigen eine geheime Bedeutung. Als lauere hinter diesem Schweigen ein unterdrücktes Detail der Geschichte. Er spielte ein paar Sekunden lang nervös mit der Kaffeetasse, als ob er zögere, das weitere zu erzählen. Dann traf sein Blick den Lenkes.

Wäre dieser Blick jetzt heiter, ruhig und ahnungslos gewesen, Nikolaus hätte die Fortsetzung der Geschichte wahrscheinlich für immer verschwiegen. Aber in Lenkes Blick saß jetzt ein merkwürdiger Ausdruck von gesteigerter Neugier, in die sich eine leise Angst mengte, als ob ihre Augen sagen wollten: Du willst mir jetzt etwas verschweigen! Deshalb sagte der junge Mann jetzt still, fast ärgerlich murmelnd: »Dann sagte Risa noch etwas … aber es ist wirklich eine Kinderei und gar nicht der Mühe wert, erwähnt zu werden … nämlich …«

Lenke sprach kein Wort. Sie starrte ihn an, und in ihren Kinderaugen saß sichtbar bebende Angst.

Der Alte begriff nichts von dieser Stimmung und fragte ruhig: »Nun, was sagte sie noch?«

»Es war sehr verblüffend … und eigentlich ein Wahnsinn …«

Jetzt ließ sich Lenke vernehmen. Mit ruhiger, fast kühler Stimme fragte sie: »Was sagte Risa noch?«

»Sie sagte … daß sie mich liebe.«

Lenke schloß die Augen. Sie hatte es vom ersten Augenblick an gefühlt, sie hatte es gewußt.

Der alte Rimmer lachte: »Dich?«

»Ja, mich.«

»Aber wieso? Sie war in dich verliebt?«

»Es schien so.«

»Und was hast du ihr geantwortet?«

»Ich war einigermaßen in Verlegenheit. Ich erklärte ihr, das sei lächerlich … davon könne keine Rede sein … das habe auch gar nichts mit der Sache selbst zu tun … ich nähme diese Erklärung einfach nicht zur Kenntnis … Dann sagte ich ihr auch, daß ich lieber einen Kollegen ersuchen werde, die Verteidigung zu übernehmen, da ja unter diesen Umständen …«

»Und sie?«

»Sie brach hierauf in Tränen aus und schwor mir bei allen Heiligen, niemals wieder davon zu sprechen, weder mir noch einem anderen je ein Wort davon zu erwähnen, aber ich möchte doch um Gotteswillen ihre Verteidigung übernehmen … nur ich könne sie befreien …«

»Und du?«

»Ich … Gott, mir tat sie furchtbar leid … und da sie so jammerte und mir immer wieder versprach, daß dieser Punkt auf ewig vergessen bleibe … so übernahm ich eben ihre Verteidigung.«

Dann, wie um seine sichtbare Verlegenheit zu verwischen, setzte Nikolaus noch hinzu: »Schließlich und endlich gehen mich doch ihre Gefühle nichts an.«

Rimmer stimmte zu: »Ganz richtig.«

»Und überhaupt,« meinte jetzt Nikolaus neu ermutigt, »ich kenne ja diese Methode. So etwas erleben die meisten Rechtsanwälte in Strafsachen. Das ist eine ganz durchtriebene Person. Sie glaubte einfach mich damit mehr für ihren Fall zu gewinnen. Gott, es mag ja junge Kollegen geben, die auf so etwas hereinfallen … aber ich!«

Jetzt war er wieder ganz ruhig. Er machte eine scherzhafte Geste und sagte: »Mir redet sie lang gut!«

Es war spät geworden. Nikolaus erhob sich und nahm Abschied. Der alte Rimmer räusperte sich.

»Wart' einen Augenblick,« sagte er, »ich will jemand hinunterschicken, um nachzusehen, ob dein Wagen hier ist.«

Damit verließ er das Zimmer. Er entwickelte die größte Findigkeit darin, die beiden jungen Leute im Augenblick des Abschieds allein zu lassen.

Nikolaus trat auf Lenke zu und umarmte sie. Sie sprach kein Wort. Auch während der Umarmung sah sie ihn stumm und traurig an.

»Nun?« fragte Nikolaus ganz heiter, »was ist denn los?«

Lenke antwortete nicht.

»Bist du mir böse?«

»Nein.«

»Also was denn?«

Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter, dann seufzte sie, und mit diesem Seufzer entfuhren ihr drei Worte, in denen sie alles verriet, was jetzt in ihrer reinen Kinderseele vorging:

»Ich habe Angst,« sagte sie.

Vor der Tür war jetzt das Räuspern des Alten vernehmbar. Er signalisierte: Ich komme, Kinder.

Dann humpelte der Einspänner mit Nikolaus durch die kalte Winternacht der Stadt zu. Er rauchte und schloß manchmal die Augen. Etwas sagte ihm, daß er dort, in dem großen gelben Hause eine kränkende Stimmung zurückgelassen habe, und das machte ihn nun selbst unruhig. Leise sprach er vor sich hin:

»Ich werde die Verteidigung niederlegen.«

Rüttelnd fuhr der Wagen immer weiter. Vor der Brauerei lag strahlendes Licht. Zwei Bogenlampen warfen dort Tageshelle über die beschneite Straße. Da kam ihm mit einemmal der Mut zurück. Er fühlte die Stadt, die Menschen, das Leben um sich herum.

»Ach was,« sagte er jetzt, »ich werde die Verteidigung doch nicht niederlegen. Was geht es mich schließlich an? Ich bin Rechtsanwalt, und damit basta.«

Vor seiner Wohnung stieg er aus, bezahlte den Wagen und blieb dann stehen. Er konnte sich nicht entschließen, dem Hausmeister zu klingeln.

»Ich kann jetzt sicher nicht einschlafen,« sagte er.

Jenseits des Fahrdammes glänzte ein Café. Er ging hinüber und stand dann eine Weile vor den bereiften Spiegelscheiben.

»Soll ich nicht doch lieber nach Hause gehen?« fragte er sich.

Dann gab er sich zur Antwort: »Nein. Ich trinke lieber noch einen Kognak.«

Er trat in das warme, rauchige Lokal.

Er war nervös.


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