Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI.

Am Mittag des folgenden Tages hörte man in den Speisehallen von Jaulus, wo ein aus vier Gängen bestehendes Menü ganz ohne Wein dreißig Kreuzer kostete, eine sehr erregte Stimme, die gellend: »Zahlen!« rief.

Es war Sebfi, der an einem Fenstertisch zwischen drei fremden Gästen saß und von den vier Gängen drei unberührt gelassen hatte. Trotzdem erklärte er dem Oberkellner, der eben in seinem sturmgeprüften Frack heranflog: »Das Essen war heute wieder ungenießbar.«

»Jawohl,« sagte der Oberkellner und holte einen Rechnungszettel hervor.

Sebfi winkte ab: »Lassen Sie nur! Schreiben Sie es auf.«

Das sagte er bereits bei der Tür. Der Oberkellner sah ihm eine Weile nach, dann steckte er sein Portefeuille wieder ein und ging an seine Arbeit. Diese vielen unbezahlten dreißig Kreuzer schienen ihm ganz sicheres Geld. Wenn er erst im Nationaltheater spielt, dachte er, wird er alles bezahlen. Diesen armen Oberkellnern, jenen in der Hauptstadt so gut wie jenen in der Provinz, erhält das Nationaltheater den Glauben an die Menschheit. Wenn alle jungen Herren und Damen, die in der Hoffnung, einst im Nationaltheater zu spielen, ihre Mahlzeiten schuldig blieben, tatsächlich an dieser Bühne beschäftigt würden, so müßte die Kopfzahl des Personals dort die Stärke einer Armee weit übertreffen.

Sebfi eilte durch kleine Straßen nach dem Stadtwäldchen. Der weite Radmantel umflatterte ihn nicht mehr, denn die Straßen erglänzten im hellen Sonnenschein. Aber wenn auch nicht die Sonne geschienen hätte, sondern etwa ein Feuerregen niedergegangen wäre – Sebfi hätte ihn ebensowenig bemerkt wie jetzt das freundliche Frühlingswetter.

Er überquerte den vornehmen, parkierten Teil des Stadtwäldchens und eilte geradewegs auf die Wellenbahn zu, hinter der mitten im Lärm des Rummelplatzes ein kleiner verlassener Platz lag. Dort blieb er stehen, sah sich um und wartete. Dann lehnte er sich an einen Baum, kramte eine zerknüllte Zigarette aus der Tasche, strich sie gerade und zündete sie an. Er hatte das Gefühl: Es gibt nichts Schöneres als eine feine Zigarette nach einem opulenten Mittagessen …

Dann fiel ihm ein, was Fräulein Bella gesagt hatte: »Glauben Sie wirklich, daß eine junge Dame aus feinem Hause Ihnen so mir nichts, dir nichts ein Rendezvous geben wird?« Jetzt lächelte er darüber und dachte: Nichts auf dieser Welt ist ganz ernst zu nehmen; weder der Umstand, daß ein Mädchen eine junge Dame ist, noch auch der, daß es jungen Damen im allgemeinen nicht ansteht, zu einem bestimmten Zwecke an einer bestimmten Stelle des Stadtwäldchens zu erscheinen. Aber war es nicht auch in den Theaterstücken so, daß jemand, der brieflich irgendwohin gebeten wird, unbedingt dort erscheint, wenn nicht im ersten Akte, so doch im zweiten oder schlimmstenfalls im dritten … Er war bereits völlig überzeugt, daß Lenke kommen werde, und er faßte jede weibliche Gestalt, die sich näherte, scharf ins Auge, was um so bemerkenswerter war, als er überhaupt nicht wußte, wie Lenke aussah. Trotzdem hatte er es sich in den Kopf gesetzt, sie auf den ersten Blick zu erkennen. Er spähte die ganze Gegend ab, sah geradeaus, sah nach rechts und nach links, nur nach rückwärts nicht. Und gerade hinter ihm erklang jetzt eine schüchterne Mädchenstimme: »Habe ich die Ehre mit Herrn Sebfi?«

Er wandte sich um: »Der bin ich …«

Lenke stand vor ihm. Sebfi machte ein ernstes Gesicht.

Etwas mutiger sagte sie: »Ich heiße Lenke Rimmer und …«

Sie stockte. Dann setzte sie mit einiger Anstrengung hinzu: »… und bin gekommen.«

Damit waren sie über die Peinlichkeit der gegenseitigen Vorstellung hinweg, und Sebfi gewann seine Geistesgegenwart wieder.

»Kommen Sie, mein Fräulein,« sagte er, »gehen wir hier ein wenig auf und ab – die ganze Sache wird nicht lange dauern. Ich danke Ihnen sehr, daß Sie gekommen sind, obzwar …«

»Obzwar?«

»Obzwar ich weiß, daß Sie nicht so sehr meinethalben als vielmehr Ihrethalben, gekommen sind, wobei auch ich gern zugebe, daß ich mehr in meinem als in Ihrem Interesse hier bin …«

Ein merkwürdiger Mensch, dachte Lenke und nahm ihn ein wenig in Augenschein. Im großen ganzen hatte sie sich Sebfi nach der Beschreibung von Nikolaus so vorgestellt. Aber es blieb ihr keine Zeit, Sebfi als interessante Erscheinung zu betrachten, denn dieser ging sofort auf den Gegenstand ein.

»Ich bin im Besitze wichtiger Daten,« sagte er mit geheimnisvollem Ausdruck.

Er hätte natürlich auch sagen können: »Ich weiß interessante Dinge« – oder: »Ich will Ihnen etwas Wichtiges mitteilen« – aber Sebfi wäre nicht Sebfi gewesen, wenn er sich die Gelegenheit hätte entgehen lassen, eine romantische und theatralische Phrase anzubringen. Er sagte also: »Ich bin im Besitze wichtiger Daten.«

Das Mädchen sah ihn an: »Was für Daten?«

»Über Nikolaus.«

»Das dachte ich mir. Nun, und …?«

»Es ist so, wie wir es befürchten … eine große Liebe …«

»Wie meinen Sie das? Ich weiß, Nikolaus wird von Ihrer …«

Sie wollte sagen: »von Ihrer Braut geliebt« – aber sie brachte es nicht heraus.

»O nein!« sagte Sebfi, »die Sache liegt umgekehrt …«

»Umgekehrt? Wollen Sie etwa damit sagen, daß Nikolaus …«

»Gerade das möchte ich sagen.«

»Was? Daß Nikolaus Ihre … Ihre …«

Sebfi nickte nur: »So ist es.«

Lenke blieb stehen. Ein Schauer lief ihr über den ganzen Körper. Jenes erkältende und atemberaubende Gefühl, das in solchen Augenblicken von der Kehle hinabsteigt und gleich einem elektrischen Strom in den Füßen nicht zu enden scheint, sondern irgendwie weiter in die Erde hinabfließt … So entstand die Redensart vom »angewurzelt stehen bleiben …« Lenke blieb so angewurzelt stehen.

Leise fragte sie: »Er liebt sie?«

»Ja.«

»Und … woher wissen Sie das?«

»Ich habe es gesehen.«

Sie sah ihn verständnislos an. Beklommen wartete sie darauf, daß ihr jetzt gleich die Tränen über das Gesicht strömen würden.

»Sie haben es gesehen?«

»Jawohl. Gestern vormittag im Gefängnis.«

»Und was haben Sie da gesehen?«

»Er streichelte ihr Haar. Jawohl. Ich wartete draußen, das heißt, ich wartete nicht. Oder besser gesagt, ich wartete doch. Aber schließlich wurde es mir zu lange, ich steckte den Kopf zur Tür hinein, um zu sehen, warum er noch nicht komme, was mit ihm los sei, und da … und da, da sah ich, wie er ihr mit der Hand über das Haar strich. Und sie … sie neigte sich so zu ihm hin … sie stand so zu ihm hingeneigt und …«

»Und?«

»Und … das ist alles.«

Er atmete tief auf, als sei er ganz erschöpft. Und er machte ein Gesicht, als habe er nach langem, mühseligem Steigen endlich den Gipfel erklommen.

Die arme kleine Lenke empfand just das Gegenteil. Ihr war, als wäre sie nach langem, betäubendem Fall endlich auf dem Boden des Abgrundes angelangt.

»Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.«

Dann schwiegen beide. Lenke sah sich in dieser ihr fremden Gegend um. Aus der Ferne kamen die Töne eines Leierkastens. Soldaten schlenderten zufrieden, vergnügt, ihre Mädchen am Arme, vorbei … Dann kamen zwei Dienstmädchen in knatternden, steifen Röcken lachend einher. Die Welt begann sich mit Fräulein Lenke Rimmer erheblich zu drehen, was um so peinlicher war, als Fräulein Lenke Rimmer diese Welt bisher als sehr ruhig und unbewegt gekannt hatte.

Sie suchte nach einem Halt. Dabei sah sie auf Sebfi und hatte das Gefühl, als ob ihr Blick, der sich in dem seinen festhakte, ein dünner, aber fester Faden sei, der sie davor bewahre, umzusinken … Deshalb wandte sie den Blick nicht von ihm ab.

Endlich fragte sie: »Was sollen wir jetzt tun?«

Er antwortete nicht. Sie wiederholte: »Was sollen wir jetzt tun? Sagen Sie, was sollen wir tun?«

Sebfi lächelte.

»Warum lächeln Sie?«

»Weil Sie, mein Fräulein, fragen: Was sollen wir tun? Dieses Wir tut mir wohl. Denn aus diesem Wir erkenne ich, daß Sie bereits fühlen, wie sehr identisch unsere Interessen sind. Daß wir gemeinsam etwas unternehmen müssen, und daß wir zwei, obzwar wir uns vor fünf Minuten noch nicht kannten, in diesem Augenblick die denkbar besten und vertrautesten Freunde sind …«

Das Mädchen beharrte bei ihrer Frage: »Also was sollen wir tun?«

Sebfi nahm jetzt den ratgeberischen Ton des Weisen an. »Es läßt sich vielerlei tun, aber es wird sich empfehlen, nicht voreilig zu handeln und das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten.«

»Sondern?«

»Seien Sie nicht ungeduldig, mein Fräulein. Ich habe folgendes in Erfahrung gebracht: Zu Anfang der nächsten Woche findet die Verhandlung statt. In dieser wird es sich entscheiden, ob Risa Nagy verurteilt wird oder nicht …«

Lenke unterbrach ihn ärgerlich: »Das ist derjenige Teil der Angelegenheit, der nur Sie angeht. Ich aber will nicht solange warten. Ich will alles wissen, ich …«

»Nur ruhig, liebes Fräulein! Auch Sie werden solange warten müssen. Ich will Ihnen gleich sagen, weshalb. Denn wenn Risa verurteilt wird – und das ist nun wieder der Teil jener Sache, der nur Sie angeht –, dann haben Sie mit der ganzen Angelegenheit nichts weiter zu tun. Dann war es eben von seiten Ihres Herrn Bräutigams ein flüchtig aufflammendes Gefühl, dem in der kalten Luft des Kerkers keinerlei weitere Entwicklung blüht …«

Das hatte er wirklich schön gesagt. Er war so zufrieden mit sich, daß ihm eine Träne hervorsickerte.

Lenke fragte erstaunt: »Sie weinen?«

»Ich weine viel, mein Fräulein, sehr viel!«

Er trocknete die Träne ab und stellte das Weinen ein.

»Wie ich also sagte – damit ist die Sache für Sie erledigt. Wird sie aber freigesprochen, oder gelingt es im letzten Augenblick, den alten Korda so klein zu kriegen, daß er die Anklage zurückzieht – – dann ist freilich das Unglück da.«

Lenke fragte auch jetzt nur: »Also was sollen wir jetzt tun?«

»Wir müssen warten. Aber – wir müssen zusammen warten, mein Fräulein. Wir müssen uns öfter treffen, um unsere Eindrücke auszutauschen.«

In diesem Augenblick wurde seine rechte Hand, mit der er gestikulierte, von hinten angefaßt und festgehalten.

Es war Marie. Die strenge Marie.

Sie faßte seine Hand und schob ihn dann beiseite wie ein im Wege stehendes Möbelstück. Worauf sie sich an Lenke wandte und einfach sagte: »Komm nach Hause!«

Lenke fand keine Worte. Marie nahm sie bei der Hand und führte sie fort. Schwach und willenlos ließ sie sich führen.

»Komm nach Hause,« sagte Marie ganz ruhig, »und laß ein andermal Briefe, die du von solchen Narren bekommst, nicht herumliegen.«


 << zurück weiter >>