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I.

Auf der Ankunftseite des Bahnhofes hoben zwei Dienstmänner einen großen Koffer auf den Kutschbock eines Fiakers. Es schneite in dichten, großen Flocken, weshalb der Kutscher sorgfältig eine Pferdedecke über das Gepäckstück breitete, neben dem er dann selbst mit jener Akrobatengeschicklichkeit Platz nahm, die für alle Kutscher von Bahnhoffiakern so bezeichnend ist. Nur diese verstehen es, sich mit einem herabbaumelnden Bein so neben einem großen Koffer zu verziehen, als sei der Kutschbock nur für diesen gemacht und nicht für sie.

Aus der großen Halle lief eine dicke alte Dame eilig auf den Wagen zu und setzte sich hinein. Dann erschienen ein schmächtiges junges Mädchen und ein jünger Mann. Der junge Mann half dem Mädchen in den Wagen, grüßte höflich und sagte dem Kutscher:

»Fahren Sie … zum alten Gefängnis.«

Der Kutscher sah ihn an, als habe er nicht recht verstanden, dann aber fand er sich mit dieser seltsamen Adresse ab und fuhr los.

In der Stadt, in allen Straßen rings um den Bahnhof war man auf übliche, städtische Art mit dem Schnee umgegangen; hatte ihn zu vielen kleinen Hügeln geschichtet, die nun weithin den Fahrweg säumten, der so sauber gefegt war, daß der Schnee, der jetzt noch niederfiel, nur einem zarten, weißen Tuch glich, das man eben über die grauen Pflastersteine gebreitet hatte. Das war keineswegs die richtige Schneedecke, die weich und dick auf der Erde liegt, alles Wagengeräusch verschluckt und auch den menschlichen Stimmen freundlichen, angenehmen Klang gibt, selbst laute Schreie so dämpft, als wäre die Straße ein einziges, weichtapeziertes Zimmer, und als plauderten alle in diesem Zimmer Anwesenden in sanftem, freundlichem Tone. Dies hier war noch städtischer Schnee, dem das rechte gemütliche Element, die richtige Winterstimmung völlig abging.

Das junge Mädchen zog sich tief in eine Wagenecke zurück, kratzte mit der weißbehandschuhten Hand einen kleinen Fleck an dem bereiften Fenster blank und sah hinaus.

»Hier ist der Schnee gar nicht schön,« sagte sie mit kindlicher Betrübnis, »so mag ich ihn nicht … schön ist er nur, wenn er die Felder weithin bedeckt … wenn alles weiß ist, so weit man sehen kann …«

Die alte Dame gab keine Antwort. Für solche Dinge verliert der Mensch mit dem Alter die Empfindung. Im Alter hat man nur für schönes Wetter etwas übrig. Die dicke Dame schwieg also, wie jemand, der gewohnt ist, irgendein nicht ernstzunehmendes Geschöpf neben sich plappern zu hören. Der Wagen rollte eilig in die Richtung der Dörfer. Mehr und mehr blieben die großen Häuser zurück, dann verschwand unter den Rädern auch das Pflaster. Nun glitten sie bereits weich über die Landstraße, und hier blinkte auch der Schnee unordentlich da und dort in größeren Mengen auf, wie ihn der liebe Gott herabgeschüttet hatte.

»Das sieht schon anders aus!« sagte das junge Mädchen, und es klang, als drücke sie der Natur ihre Anerkennung dafür aus, daß sie ihren Geschmack so gut getroffen hatte. »Das ist schon richtiger Schnee … so habe ich ihn gern. Ist es nicht schön, Tante Marie?«

Tante Marie blinzelte schläfrig in die weiße Landschaft. Sie hatte kalte Füße und war durchaus abgeneigt, über die winterlichen Spiele der Natur Freude zu empfinden. Im Gegenteil, sie ärgerte sich. Mit der Unzufriedenheit aller armen Verwandten stellte sie fest, daß sich andere immer dann über etwas freuen, wenn ihr etwas weh tat. Also gab sie lieber gar keine Antwort.

Nun dehnten sich bereits rechts und links weite Ackerfelder aus. Dazwischen lagen Gemüsegärten, in deren jedem ein niederes Glashaus aus dem Schnee hervorragte. Dünne Rauchfäden zogen dort in die Höhe. Sie kamen aus den Öfen der Gärtner, die dort unten in den Glashäusern irgendeiner kostbaren Blume zu Ehren sommerliche Wärme erzeugten. Dann blieben auch die Glashäuser zurück. Weinberge folgten und neue Ackerfelder, die bis an den Horizont reichten. Bei uns ist die Stadt rasch zu Ende. Hart an der Gemarkung beginnt gleich die Unendlichkeit der Felder, fast ganz ohne Übergang. Die Häuser werden nicht allmählich kleiner wie anderwärts, sondern die Stadt bricht mit großen Mietspalästen plötzlich ab. Vier Stock hohe Häuser stehen da an der Grenze Wache, als hätte sie die Stadt zum Zeichen ihres Reichtums dorthin gestellt, so wie die Grafen ihren glänzenden Portier ins Tor hinausstellen; damit der arme Mann erschrecke und die Lust verliere, etwa dort Einlaß zu begehren, wo die Welt nur für die großen Herren da ist.

Jetzt verließ der Wagen die Landstraße und bog auf einen Seitenweg ein. In der Ferne tauchte zwischen kahlen Baumkronen ein großes gelbes Haus auf.

Das junge Mädchen sah starr in diese Richtung.

»Ist es das dort?« fragte es die alte Dame.

Nun ließ sich diese zu einer Antwort herbei und sagte: »Ja, das ist es schon.«

»Wie schade,« sagte das Mädchen.

Tante Marie blickte sie an.

»Schade? Was ist schade?«

»Daß wir schon hier sind … es war so schön, durch den Schnee zu fahren.«

Die alte Dame sah das Mädchen mit einem feindlichen Blick an. »So? Also es tut dir leid, daß wir schon da sind,« sagte sie mit empörter Stimme. »Seit einem Jahr hast du deinen Vater nicht gesehen; jetzt kommst du endlich aus der Fremde nach Hause, wirst ihn in einer Minute umarmen können – und da hast du keine anderen Gedanken, als daß es schön ist, durch den Schnee zu fahren!«

Dann hüllte sie sich wieder fester in ihren Plaid, wie jemand, der es unter seiner Würde findet, einem so gottverlassenen Geschöpf auch nur Vorwürfe zu machen.

Das junge Mädchen kümmerte sich nicht darum. Die beiden waren einander schon gewöhnt; denn es ist ein Irrtum, zu glauben, daß nur solche Menschen sich leicht aneinander gewöhnen, deren Gedanken und Vorstellungen die gleichen Wege gehen. Auch darin, daß sich zwei Menschen nie und nimmer verstehen können, liegt oft verbindende Kraft. Denn dann verkriecht sich jeder in seine private eigene Wahrheit und läßt den anderen in Ruhe, wobei es sich zeigt, daß das Zusammensein mit einem Wesen, von dem wir ganz sicher wissen, daß wir es niemals nach unserem eigenen Bild umformen werden, weit beruhigender ist als die Gesellschaft eines, dessen Auffassungen leicht umzugestalten sind. Das ist ein weit schwererer Fall. Wir fühlen uns dann verpflichtet, einen solchen Gefährten zu überzeugen und zu überreden, eben weil er klugen Argumenten zugänglich ist. Das aber ist ermüdend. Und ein ermüdender Gefährte ist stets unerfreulich, ob er uns nun auf einer kurzen Reise oder ein Stück Leben lang begleitet, wie die alte Dame das junge Mädchen.

Jetzt war das große gelbe Haus schon ganz nahe. Man erkannte bereits, daß es gar nicht ein einziges gelbes Haus war, sondern eine Anzahl verschiedener Gebäude, die man im Laufe der Zeit hart nebeneinander hingestellt hatte, so daß es jetzt aussah, als hätten sich alle diese kleineren und größeren, hohen und niederen Häuser wie aus Angst vor irgendeiner Gefahr ängstlich zusammengedrängt. Die schiefen Dächer schoben sich ineinander, die Mauern schlossen sich überall eng zusammen, nirgend gab es einen Zwischenraum, nirgend etwas wie einen Hof. Inmitten dieser weiten Ebene sah der starre Häuserhaufen, der nirgend einen Durchblick gewährte, fast beängstigend aus, als sei er für dunkle und geheime Dinge erbaut worden. Und doch hatte die Häusermenge einen Hof. Der Hof lag ringsumher. In großem Abstand von den gelben Bauten verlief eine hohe Steinmauer und umschlang sie in weitem Kreise. Selbst jetzt, unter der weißen Schneedecke machte das Gefängnis einen düsteren und unwirtlichen Eindruck. In der unendlichen Winterstille hob es sich stumm aus der weißen Erde, und nicht das kleinste Zeichen deutete darauf hin, daß es von lebenden Menschen bewohnt sei.

Als der Wagen vor dem eisernen Gittertor in der Steinmauer hielt, erschien hinter dem Gitter ein Mann mit aufgepflanztem Bajonett. Erst warf er nur einen flüchtigen Blick auf den Wagen, dann aber, als er den Koffer auf dem Bock und hinter der bereiften Scheibe ein erstauntes Mädchengesicht wahrnahm, das mit weitgeöffneten Augen nach dem geheimnisvollen Gitter starrte, öffnete er das Tor, sprang auf den Wagen zu und rief in den Hof zurück:

»He, Szabo! Komm her. Wir müssen den Koffer hineintragen … das Fräulein ist angekommen!«

Mit freundlichem Lächeln half er den Damen aus dem Wagen. Jetzt erschien auch der gerufene Szabo. Auch er trug eine Uniform, und auch er bemühte sich freundlich zu lächeln, da er dem Kutscher den Koffer herabheben half. Die Damen gingen über den Hof und verschwanden in dem gelben Haus. Der Kutscher fragte, während er das Geld einsteckte, nicht ohne Ergriffenheit:

»Wie – diese Damen wohnen hier?«

»Ja,« sagte Szabo. »Das Fräulein ist die Tochter vom Herrn Direktor.«

»Ach so,« sagte der Kutscher, wie erfreut über diese beruhigende Erklärung. Man konnte ihm ansehen, daß er auf dem ganzen Wege über diesen Gedanken gegrübelt hatte. Das war nun freilich etwas anderes.

Er stieg wieder auf den Bock, warf noch einen Blick nach dem traurigen Hof und fuhr dann rasch davon. Er war ein feiner, vornehmer Fiaker, und ihm grauste ein wenig vor diesem gelben Haus, in dem lauter Sträflinge wohnten. Offenbar empfand er den großen Abstand von jener Welt, die auf Gummirädern dahinrollte, und in der er vergnügt und auskömmlich lebte. Er schlug auf die Pferde ein, und eine Minute später war er kaum mehr zu sehen; er flüchtete förmlich vor den Gedanken, die ihm hier aufstiegen, in die schöne, heitere Stadt hinein. Hinter ihm blieb nur die dünne Spur der schlanken Räder im Schnee zurück, zum Zeichen dessen, daß sich einmal ein so eleganter Stadtfiaker bis hierher verirrt hatte.

Wieder lag tiefe Stille über dem großen Haus, wieder war alles ringsumher verstummt. Ein sanfter Morgenwind strich über die Felder und wiegte die dicken Schneeflocken, die herabsanken. Manchmal stürzte von den kahlen Zweigen der Bäume ein dicker kleiner Schneebausch zur Erde. Aus dem Hause drang nicht das leiseste Geräusch. Eine tiefe Ruhe strömte von dort heraus; doch nicht die Ruhe, die Häusern entströmt, in denen zufriedene, von der Arbeit ermüdete Menschen wohnen, sondern die Ruhe des Gedankens, daß hier die Wände dick seien, daß es von hier kein Entrinnen gebe, daß hier Sicherheit und Ordnung herrsche, und daß jeder hier schweigen müsse. Dieser Gedanke spiegelte sich auch auf dem Antlitz der Wächter, dieser Gedanke blickte aus den Augen Szabos, er war aus dem Einschnappen des Torschlosses vernehmbar, und er war es, der die Stille, die hier herrschte, so erdrückend machte.

Und eben dieser Gedanke, daß dieses Haus niemals einen Anfang, sondern stets ein Ende bedeute, daß kein Mensch freiwillig herkomme, sondern immer hergebracht werde, daß die Ruhe hier nicht Beruhigtheit, sondern Ergebenheit in ein Unabänderliches sei und die Stille nicht die hallende Leere eines menschenleeren Raumes, sondern die Stummheit schweigender Menschen – – dieser Gedanke ließ das gelbe Haus einem Totenhaus gleichen.

In dieses Haus nun übersiedelte an solch einem frischen Wintermorgen Fräulein Lenke Rimmer in ihrem siebzehnten Lebensjahr mit einer Menge sentimentaler deutscher Noten, einigen weißen und rosafarbenen Kleidern, mehreren Marlittromanen und mit vielen sehr mädchenhaften und sehr warmen Empfindungen für jenen jungen Mann, der auf dem Bahnhof dem Kutscher gesagt hatte: »Fahren Sie nach dem alten Gefängnis.«


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