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Der junge Mann, der die Damen zum Wagen begleitet hatte, sah eine Weile lang dem Fiaker nach, zog dann seinen Hals tiefer in den Kragen des Winterrockes und schlug den Weg nach der Kerepeserstraße ein. Etwa in der Gegend der slowakischen Kirche wandte er sich in eine kleine Nebengasse, von dort in eine noch kleinere, bis er schließlich vor der Konditorei Korda stand.
Auch der ärmste Mensch hat in seinem Leben schon eine vornehmere Konditorei gesehen als die Kordasche. Vergebens hatte sich der arme Korda bemüht, durch goldene Buchstaben einigen Glanz zu verbreiten, der Laden blieb dennoch schäbig. Vergebens hatte er auf seinem Firmenschild sowie rechts und links von der Tür die allerelegantesten Worte anbringen lassen, die nur je ein Konditor zur Erhöhung seines Prestiges gebraucht hatte – sein Lokal blieb ein recht dürftiges Loch. Ja, man muß sagen: die schmutzige Tür und die Worte »Confiserie« und »Konditorei« wirkten etwa wie ein Neger, der seinen schmierigen Körper mit billigem, glitzerndem Tand behängt. Es war alles vergebens: der Laden blieb nach wie vor das kleine Parvenulokal eines in der Toreinfahrt einer Vorstadt-Mietskaserne reich gewordenen Zuckerwarenhändlers, und er wurde das Stammlokal der unbedeutendsten Theatereleven sowie der ärmsten Studenten, die hier bald allein, bald in kleinen Rudeln zu erscheinen pflegten.
Nikolaus ging also, wie man in jener Gegend zu sagen pflegte, »zu Korda«. An der schmalen Glastür erklang die Glocke, worauf Herr Korda, der, die Brille auf der Nase, hinter dem Pult seine Zeitung las, auffuhr. Ein Gast zu solcher Stunde war ungewöhnlich. Um zehn Uhr vormittags pflegte die kleine Konditorei noch zu schlafen. Ihre Saison begann später.
Als er Nikolaus erkannte, nahm er die Brille ab und ging ihm entgegen. Herr Korda war von Kopf bis Fuß weiß gekleidet, was ihm ein überaus respektables Aussehen gab. Man mag noch so viel vom ernsten und würdigen Charakter des schwarzen Rockes sprechen, es gibt nichts Achtunggebietenderes als ein weißgekleideter Mann. Das mochte auch Herr Korda empfinden, der sich, solange er im Laden war, niemals von dieser Tracht trennte. Der Wahrheit zur Ehre muß gesagt werden, daß diese tatsächlich stets blütenweiß war. Und er trug sie wie ein Priestergewand, wie das Ordenskleid irgendeiner sehr geheimnisvollen und sehr ernsten Sekte. Das veranlaßte ihn auch stets äußerst zeremoniell einherzuschreiten, während auf seinen Lippen immer ein herablassendes und überlegenes Lächeln schwebte, als wolle er sagen: Ihr wißt ja gar nicht, wer ich eigentlich bin, ihr habt ja keine Ahnung, mit wem ihr sprecht. Von den meisten Zuckerbäckern läßt sich sagen, daß ihnen das weiße Gewand mit der Zeit etwas Weibisches oder etwas Priesterliches gibt. Herr Korda konnte schon infolge seiner Gestalt nur in die zweite Kategorie gerechnet werden. Und so war seine Stimme auch jetzt höchst salbungsvoll, als er Nikolaus lächelnd ansprach:
»Sehr geehrter Herr Doktor, ich weiß, weshalb Sie mich beehren.«
Nikolaus gab gemütlich zurück:
»Nein, Herr Korda, Sie wissen nicht, weshalb ich Sie beehre.«
»Doch, doch, Herr Doktor.«
»Nein, Sie werden schon sehen …«
Damit legte er seinen Winterrock ab, setzte sich an einen kleinen Tisch, dessen Blechplatte Marmor vortäuschen sollte, und klopfte mit dem Finger darauf.
»Vor allem bitte ich um ein Glas Kaiserbirnenlikör.«
Nun begann die Situation in den Augen des Herrn Korda ernst zu werden. Denn »Kaiserbirne« war das teuerste Getränk, das er hielt. Er eilte also hinter das Pult und griff in den mittleren Schrank, wo die feinen Likörflaschen in Reih und Glied nach Farben geordnet dastanden.
»Das ist etwas anderes,« sagte er, jetzt nicht mehr salbungsvoll, sondern rein geschäftsmäßig und holte die gelbe Flasche hervor. Vorsichtig goß er so viel in ein kleines Gläschen, als unbedingt nötig war, stellte dann die Flasche zurück, indem er daran dachte, mit welcher Wonne er – wäre er allein gewesen – den glänzenden Tropfen abgeleckt hätte, der auf den Flaschenhals herabsickerte. Da dies aber nicht gut anging, so begnügte er sich damit, den Tropfen in Gedanken abzulecken. Er stellte das Gläschen vor Nikolaus auf den Tisch. Dann wartete er. Nikolaus lächelte ihm zu und wies auf den Stuhl neben sich.
»Nehmen Sie Platz, Herr Korda. Und lassen Sie einmal vernünftig mit sich reden.«
Herr Korda lachte.
»Na, habe ich es also doch erraten?«
»So ungefähr.«
»Es ist von der Risa die Rede.«
»Ganz richtig.«
»Also dann« – sagte Korda, jetzt sehr ernst geworden – »ist es besser, Herr Doktor, wenn Sie gar nicht erst anfangen. In diesem einen Punkt versteht der alte Korda keinen Spaß. Was die Risa getan hat, hat sie sich getan. Ich bin nicht schuld daran. Ich werde nicht schuld daran sein, wenn sie zugrunde geht.«
»Aber sehen Sie …«
»Bemühen Sie sich nicht, Herr Doktor. Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen ins Wort falle, aber es ist wirklich nicht der Mühe wert, viel darüber zu reden … denn was kommt schließlich dabei heraus? Ich werde noch wütender, als ich es schon bin, und gebe erst recht nicht nach. Und was wollen Sie eigentlich? Die Sache ist doch ganz klar. Die Risa hat mein Vertrauen mißbraucht, die Risa hat gestohlen, also wird die Risa eingesperrt. Ich kriege mein Geld ja doch nicht zurück, meine dreihundert Gulden sind zum Teufel, da ist es nur richtig, wenn nun der Staat kommt und die Risa einsperrt. Denn dazu ist der Staat da. Die vielen Polizisten, die Sie auf der Straße draußen sehen, sind deshalb Polizisten, damit sie solche Risas packen und einsperren, wenn sie einen armen Mann wie mich um sein Geld bringen. Ich sage nicht, wenn mir der Rothschild das Geld gestohlen hätte … na gut, dann hätte er es mir ersetzt, und die Sache wäre in Ordnung. Der alte Korda ist schließlich nicht der Mann, der aus bloßer Rache so ein armes, verworfenes Ding einsperren läßt. Der alte Korda hat auch ein Herz, und er könnte verzeihen – natürlich wenn man ihm sein Geld zurückbringt. Aber sehen Sie, so geht es im Leben: der Rothschild, der mir das Geld zurückbringen könnte, der stiehlt nicht, aber die Risa, die es nicht zurückbringen kann, die stiehlt.«
Nikolaus versuchte, den Redestrom aufzufangen:
»Nun gut, Herr Korda, aber sehen Sie …,« sagte er bescheiden.
Der Zuckerbäcker schlug mit der Hand auf den Tisch. »Also Sie sind schon der sechste Mensch, der herkommt und mich dazu bringen will, die Risa laufen zu lassen. Der eine sagt, ich müßte das tun, weil ich doch ein Christ sei. Der zweite hält mir lange Predigten darüber, daß ich kein Herz hätte, daß das arme Mädel im Gefängnis ganz verkommt, während es sonst irgendwo in der Provinz noch ein anständiges Leben anfangen könnte … und dann kommen die Frauen und setzen mir auseinander, daß ich mein Geld ja doch nicht zurückbekomme, wozu ich sie dann noch verfolge, ich soll sie in Ruhe lassen, sie werde einen anderen Posten finden und mir die dreihundert Gulden langsam von ihrem Gehalte abzahlen … Aber nun frage ich Sie, Herr Doktor, Sie sind doch ein intelligenter, studierter Mann, ist das nicht alles eine unerhörte Zumutung, die man an den armen, geschädigten Korda stellt? Warum soll gerade ich das gute Herz haben? Warum hatte sie keines, als sie mir mein mühsam zusammengescharrtes Geld aus der Lade nahm? Und bin ich deswegen ein Christ, um so eine Person auch noch auf andere Leute loszulassen, bei denen sie schließlich auch in die Geldlade steigt? Ist es nicht viel besser, wenn man die … na, wie sagt man doch … die Gesellschaft von solchen Geschöpfen befreit? Und zurückzahlen? Ich soll warten, bis so eine wieder einmal eine Stelle bekommt …? Hat sie mir das Geld vielleicht gestohlen, um es einmal zurückzuzahlen? Und was für Sicherheit habe ich, daß sie es einmal zurückzahlt? Will sie mir vielleicht einen Scheck geben? Also, Herr Doktor, sagen Sie selbst, muß man nicht gleichzeitig lachen und vor Wut bersten, wenn die Leute immer mit solchen Dummheiten kommen? Ich soll vielleicht einen Wechsel von der Risa akzeptieren, was? Hat man so etwas schon gehört? Nein! Ich muß schon bitten. Plötzlich haben alle Leute für mein Geld ein gutes Herz. Plötzlich sind sie alle Christen. Und wenn es sich darum handelt, daß die Risa mir mein Geld zurückzahlen soll, haben sie plötzlich alle zu Risa Vertrauen. Es ist wirklich unglaublich … Wenn ich schon so verrückt gewesen wäre, die Risa laufen zu lassen, so würde ich sie jetzt dafür einsperren lassen, daß mir so viele Leute das Haus einrennen und mir erklären, daß ich kein Herz habe und kein Christ bin! Für mein Geld sind sie jetzt alle Kavaliere.«
Nun trat tiefe Stille ein. Der Zuckerbäcker schwieg erschöpft und blinzelte den Doktor an. Innerlich war er zwar noch in vollem Schwung und hätte gern noch das eine oder das andere hinzugesetzt, aber er fühlte, daß er so ziemlich alles gesagt hatte, was ihn bedrückte. Also schwieg er. Dann erhob er sich, ging wieder hinter das Pult, nahm seine Zeitung vor und starrte hinein. Aber kein Buchstabe blieb ihm im Auge haften. Er bebte noch vor Ärger, war noch ganz erfüllt von seinem kleinbürgerlichen Gerechtigkeitsgefühl, von der gewaltigen Empörung, die sein Leben seit kurzem aufwühlte. Aber diese Empörung tat ihm wohl. Jetzt endlich war er einmal im Recht und nicht die Behörde, die ihn, den mühseligen Zuckerwarenverkäufer, fünfunddreißig Jahre lang unter hundert Vorwänden verfolgt hatte. Nicht alle die Hausherren, die ihn des kleinsten Mietsrückstandes halber auf die Straße gesetzt, nicht die Polizisten, die ihm die Taschen durchwühlt hatten, sooft er verbotenerweise versuchte, ein paar seiner verzuckerten Feigen in den Nacht-Caféhäusern abzusetzen. Jetzt endlich, nach so vielen qualvollen Jahren saß er im eigenen Laden, zahlte Steuern, war wahlberechtigt, hielt einen Gehilfen, wurde mit Herr angesprochen – und jetzt sollte er dieser Verkäuferin verzeihen, der er so vertraut hatte, daß sie sogar die Kasse verwalten durfte, und die ihm dieses Vertrauen damit vergalt, daß sie eines Tages dreihundert Gulden stahl, die er tags darauf in die Bank tragen wollte … es wäre sein erstes erspartes Geld gewesen. Vielleicht der Grundstein zu einem großen, prächtigen Laden in der inneren Stadt, vielleicht zu einem großen Vermögen, einer herrlichen Zukunft …
Trotzig starrte er in seine Zeitung und sah nun in Nikolaus, der durch seine Verteidigungsrede vom bescheidenen Gast plötzlich zu einer Art behördlicher Persönlichkeit geworden war, seinen Feind. Jeder war sein Feind, der im Interesse dieses diebischen Mädchens ein Wort sprach, alle waren sie Betrüger, die ihn mit schlauen und gebildet klingenden Wendungen verrückt machen wollten. Alle wollten sie nur, daß er verzeihe, und wenn er verziehen hätte, hätten sie ihn ganz sicher alle ausgelacht. Er kam sich vor wie vor der Abgeordnetenwahl. Vorher, da waren die großen Herren herablassend und freundlich und sprachen immer nur schöne Worte, wie Vaterland, Ehre, nationales Wohlergehen, Parteitreue, – – und wenn er ihnen dann seine Stimme gegeben hat, kennen sie ihn nicht mehr, und es heißt: Der Herr Abgeordnete ist nicht zu Hause, oder: Lassen Sie mich doch endlich in Ruhe, ich hätte mein Mandat auch ohne Sie bekommen … In ihm loderte der große Haß aller selbstsüchtigen kleinen Leute gegen die glatten, schönen Worte der Gebildeten. Dieser Haß war seine einzige Genugtuung dafür, daß man ihn fünfunddreißig Jahre lang ausgenützt, betrogen, zum besten gehalten hatte, bis ihm endlich die Augen aufgegangen waren.
Das erkannte allmählich auch Nikolaus, und er begriff, daß all seine Beredsamkeit jetzt vergebens wäre. Deshalb erhob er sich leise, sah den erbosten Zuckerbäcker noch einmal an und zuckte dann die Achseln.
»Wir sprechen noch darüber,« sagte er, »wenn Sie einmal besserer Laune sind, lieber Herr Korda. Jetzt möchte ich zahlen.«
Der Zuckerbäcker brummte hinter seiner Zeitung:
»Sie bemühen sich umsonst, Herr Doktor.«
Aber da es sich um »Kaiserbirne« handelte, trieb er das Schmollen nicht so weit, um sitzen zu bleiben. Er kam hinter dem Pult hervor, strich das Geld ein und half Nikolaus sogar in den Winterrock. Dabei fiel ihm plötzlich noch etwas ein:
»Wissen Sie, Herr Doktor,« sagte er mit bösartigem Blinzeln, »wenn diese Risa häßlich und alt wäre, – keine Katze würde sich um sie kümmern. Aber natürlich … weil sie hübsch und jung ist, laufen mir die Herren das Haus ein. Das kennt man schon!«
Nikolaus sah ihm scharf in die Augen. Jetzt fiel ihm plötzlich etwas ein. Etwas blitzte ihm durch das Hirn, wovon ein heller Lichtschein in das Seelendunkel des Herrn Korda fiel. Nikolaus erkannte: Hier handelt es sich nicht bloß um den Diebstahl, hier handelte es sich auch noch um etwas anderes. Hier steht nicht bloß der geschädigte Brotgeber. Hinter diesem Diebstahl lugte – nicht dazugehörig, doch der ganzen Affäre die entscheidende Farbe gebend – irgend etwas wie Liebe. Und vorhin hatte aus dem Weißgekleideten nicht bloß der Zorn des bestohlenen Kapitalisten, sondern lauter noch die bittere Schadenfreude des ausgelachten, verhöhnten, hundertmal abgewiesenen alten Mannes gesprochen …
Nikolaus maß ihn mit einem langen Blick. Stumm standen sie sich gegenüber, dann senkte Korda die Augen. Im Laden herrschte tiefe Stille, und Herr Korda fühlte, daß der Rechtsanwalt jetzt mit einemmal etwas begriffen habe, wovon er vor einer Minute noch keine Ahnung gehabt hatte. Wie jemand, der eine peinliche Stimmung rasch verscheuchen will, sagte Korda jetzt mit lauter Stimme, der man die Unaufrichtigkeit anhörte, und mit geheuchelter großer Ruhe:
»Sagen Sie ihr nur, daß ich die Klage nicht zurückziehe. Fällt mir gar nicht ein! Sagen Sie ihr das nur … ich ziehe die Klage nicht zurück.«
Der Rechtsanwalt sah ihn immer noch an, halb mit Strenge, halb mit Neugier, wie jemand, vor dem das Leben ein neues Bild entrollt, und mit jenem wehmütigen Blick junger und menschlich fühlender Leute, der im Augenblick solcher Ernüchterungen das Auge weit öffnet. Je älter und je gemeiner einer ist, um so ruhiger hält er solchem Blicke stand.
Zur Ehre des Herrn Korda muß gesagt werden, daß er diesem Blick auswich und verlegen zu Boden sah. Und so mußte der Hausierer, der eben eintrat und die Türglocke in Bewegung setzte, mit Recht glauben, daß hier der eine der beiden Männer den anderen auf irgend etwas ertappt habe, der nun so dastehe, als müsse er sich allein für alle Schlechtigkeit der Menschen schämen.
Er hätte das mit Recht glauben müssen, aber er glaubte es nicht, er glaubte überhaupt nichts, denn der Hausierer war ein einfacher Mensch und wollte nur etwas billiges Backwerk einkaufen. Er sagte guten Tag und öffnete dem hinaustretenden Nikolaus die Tür.
Erst nach dem vierten Schritt bemerkte dieser, daß er nicht nach rechts ging, wie er sollte, sondern nach links, wie er nicht sollte. Aber ist es ein Wunder, wenn man verwirrt wird, da sich unvermutet tiefe und geheimnisvolle Abgründe des Lebens vor einem auftun?