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XIII.

Im Speisesaal von Jaulus saßen Marie und Sebfi beim Fenster und aßen zu Mittag. Die wiederholt erwähnten vier Gänge mundeten ihnen nicht besonders. Sebfi hätte sie zwar gegessen, wenn er nicht zu erregt gewesen wäre. Marie dagegen – und das war der Unterschied zwischen ihnen – hätte sie stehen lassen, wenn sie ruhig gewesen wäre, würgte sie aber hinab, um nicht unruhig zu scheinen. Dann kam der Oberkellner: »Zahlen, bitte?«

Der Oberkellner sah es gern, wenn ständige Schuldenmacher wie Sebfi gelegentlich in Begleitung eines Gastes erschienen. In diesem Fall ergab sich nämlich einige Aussicht dafür, daß dieser auch die Zeche des anderen begleichen werde.

Marie legte die dreißig Kreuzer auf den Tisch, dann blickte sie Sebfi an. »Und Sie? … Sie zahlen nicht?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

An Stelle einer Antwort schnitt Sebfi eine Grimasse. Marie bemerkte jetzt erst, daß sie sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, was in anderer Gesellschaft als Taktlosigkeit gegolten hätte. Sie nahm also rasch ihr Ridikül und legte noch dreißig Kreuzer auf den Tisch. Sebfi wollte protestieren und machte ein Gesicht, aus dem man schließen konnte, daß er sofort in heftiges Deklamieren verfallen würde – doch bevor es dazu kam, hatte der Oberkellner die dreißig Kreuzer eingesteckt und war weitergesaust. Das war also nicht mehr zu ändern. So nahm Sebfi seine Zuflucht zu dem gewissen »bitteren Lachen«. Er lachte bitter auf, womit die Sache erledigt war.

Dann gingen sie nach dem Untersuchungsgefängnis. Sebfi war schon am Vormittag dort gewesen und hatte die Besuchserlaubnis für sie beide erbettelt. Langsam zogen sie über den Waitzener Ring. Es war ein seltsames Paar: die altmodisch gekleidete strenge Dame und der »närrische Kerl« mit dem flatternden Haar und dem breitkrempigen Kalabreserhut. Ein Fremder hätte mit Recht glauben können, sie sei eine honorige alte Dame aus der Provinz und er ihr Sohn, der in Pest Kunst studiere.

Sie legten den Weg schweigend zurück. Sebfi machte zwar einige krampfhafte Versuche, Marie zum Reden zu bringen, diese aber war nicht dazu zu haben. An einer Straßenecke riskierte Sebfi nach längerem Nachdenken den Satz: »Sie glauben gewiß …«

Marie aber warf ihm einen Blick zu, mit dem sie ihn sozusagen niederschoß. Der zweite Teil des Satzes erfror ihm im Halse. Aber zwei Häuser weiter machte er einen erneuten Versuch: »Wenn Sie dieses Mädchen kennen würden …«

Aber Marie blickte ihn neuerdings mit so abgrundtiefer Verachtung und so überlegenem Hohn an, daß er auch jetzt keine Lust verspürte, den Satz zu beenden. So gab er also seine Redefreiheit endgültig auf und zottelte folgsam neben Marie einher.

Fünf Minuten später saßen sie in einem Kellerzimmer des Gefängnisses neben dem Büro des Inspektors und warteten auf Risa. Jetzt endlich ließ sich Marie vernehmen. Leise, doch im Tone des befehlenden Feldherrn sagte sie: »Mit dieser Dame werde jetzt ich sprechen, verstehen Sie? Ich.«

»Ich verstehe.«

»Und Sie werden mich mit keinem einzigen Wort unterbrechen. Verstanden?«

»Jawohl, wie Sie befehlen.«

»Sie werden mit allem einverstanden sein, was ich zu sagen und zu tun für richtig befinde, und zwar schon deshalb, weil das alles auch in Ihrem Interesse geschieht. Verstanden?«

»Bitte sehr …«

»Und Sie werden nicht deklamieren …«

Dafür hatte Sebfi nur einen traurigen Blick übrig. Einen Blick, der zu sagen schien: Warum verhöhnst du mich armen Komödianten, oder auch: Schickt es sich, jemand seiner körperlichen Gebrechen halber zu verspotten?

Marie fühlte, daß sie ihn gekränkt hatte. Sie wollte also ihre Strenge ein wenig mildern. Sie lächelte also und sagte: »Glotzen Sie mich doch nicht so traurig an! Und meckern Sie nicht fortwährend dazwischen!«

»Meckern?« sagte Sebfi. »Habe ich recht gehört, meine Gnädige? Sie nennen die Aufschreie meiner Seele Meckern?«

Darüber wäre nun fast ein Konflikt ausgebrochen – aber eben ging die Tür auf, und Risa trat ein. Der blauuniformierte Gefängniswärter blieb auf der Schwelle stehen. Er lehnte sich gegen den Türrahmen, wie einer, der darauf gefaßt ist, jetzt eine Weile lang warten zu müssen.

Risa stand an der Tür und maß ihre beiden Besucher mit strengen Blicken. Wäre Sebfi allein dagewesen, so hätte sie sich schnurstracks umgedreht und wieder ihre Zelle aufgesucht. Das aber erfuhr Sebfi nie. Doch der andere Besucher, die fremde, altmodisch gekleidete Dame, machte sie neugierig und veranlaßte sie zu bleiben.

Sebfi sprang von dem Lehnstuhl, in dem er nachlässig hingegossen saß, auf und lief auf Risa zu. Er ergriff ihre Hand und küßte sie. Sie duldete es, ohne sich zu rühren.

Dann erhob sich langsam und würdevoll auch Marie. Leise sprach sie Risa an: »Habe ich die Ehre, mit Fräulein Risa Nagy zu sprechen?«

Risa lächelte bitter: »Ist das wirklich eine Ehre?«

Einen Augenblick trat Stille ein.

»Ich bin,« begann Marie, »eine Verwandte des Herrn Direktors Rimmer und bin gekommen, um …«

Risa unterbrach sie ernst: »Ich weiß.«

»Was wissen Sie?«

»Weshalb Sie gekommen sind.«

»Ich glaube nicht, daß Sie das wissen können, mein Fräulein.«

»Doch, ich weiß es. Sie sind gekommen, um mir einen Vorschlag zu machen. Ich kann nicht genau sagen, welcher Art dieser Vorschlag ist, aber aus Ihrem Erscheinen, aus Ihrer Art, mit mir zu sprechen, kann ich folgern, daß dieser Vorschlag dahin geht, mich dazu zu bewegen, auf Nikolaus zu verzichten. Stimmt das?«

Marie war verwirrt. Diese Person wußte ihre Worte noch bestimmter zu setzen als sie selbst.

»O bitte …,« sagte sie ein wenig verlegen.

Risa setzte sich nieder. Und jetzt sprach sie mit der vor ihr stehenden Marie etwa so, als ob eine Dame der großen Welt ihrer Bedienerin Weisungen erteile.

»Jetzt bin ich in meiner Annahme bereits ganz sicher,« sagte sie. »Sie wollen mir entweder Geld anbieten oder mich durch irgendeine Drohung dazu bringen, auf Nikolaus zu verzichten, damit er Ihr kleines Fräulein heiraten kann. Aber Sie täuschen sich! Sie werden jetzt erst etwas begreifen lernen, was Sie bisher nicht wußten: daß sich nämlich solch ein kleines Fräulein damit, daß es in einem weißen Spitzenbettchen schläft und von einer seidenrauschenden Gouvernante Englisch lernt, noch keineswegs das Recht auf ungetrübtes Glück erkauft. Ich werde Ihnen beweisen, daß man sich dieses Glück auch nicht für dreihundert Gulden kaufen kann, und ich werde Ihnen ferner beweisen, daß Geld nicht immer dazu ausreicht, um das Rad des Lebens so zu schmieren, daß es sich stets nur in der Ihnen genehmen Richtung dreht. Wenn es bei uns Armen und Elenden so oft knarrt, aus den Fugen gerät und uns in den Graben wirft, mag es auch bei euch einmal schief gehen. Haben Sie mich verstanden, liebe Frau?«

Dieses »liebe Frau« war der tödlichste Stich, den sie Marie versetzen konnte. Denn in diesem »liebe Frau« lag die Erkenntnis: Ich sehe ganz genau, daß du nicht zur Familie gehörst, daß du nur so eine Art Wirtschafterin mit gutem Mundwerk bist und jetzt die unsaubere, für vornehme Hände nicht geeignete Arbeit übernommen hast, hier in den Gefängniskeller hinabzusteigen, um mit einem verkommenen Mädchen, wie ich es bin, Unterhandlungen zu pflegen.

Sebfi konnte sich vor Erstaunen kaum fassen. Als Mensch gefiel ihm dieses tapfere, kühne Auftreten, als Liebender aber fühlte er sich zu Boden geschmettert. Er konnte sich nicht enthalten zu bemerken: »Verzeihung, meine Gnädige, wenn ich – dazwischenmeckere, wie Sie zu sagen beliebten. Aber Fräulein Risa ist diesen Ton nicht gewöhnt.«

Jetzt aber brach aus Marie der Ärger hervor.

»Welchen Ton? Was für einen Ton?« fragte sie. »Ich habe doch bisher überhaupt kein Wort gesprochen! Was wollen Sie von mir?«

Risa sagte leise: »Setzen Sie sich nieder, gute Frau. Regen Sie sich nicht auf!«

Dieses »gute Frau« war noch schmerzlicher; dennoch setzte sich Marie nieder. Jetzt nahm sie sich bereits hartnäckig vor, mit dieser Person wirklich zu unterhandeln. Sie wird ihr schmeicheln, ihr schön tun, langsam abwarten, bis sie weich und kirre wird, dann aber die Oberhand gewinnen und ihr die »liebe Frau« und die »gute Frau« mit Zinseszinsen heimzahlen.

»Also jetzt erzählen Sie mir schön und ruhig, was Sie eigentlich von mir wollen, und Sie, Sebfi, Sie sind ganz still.«

»Jawohl, teure Risa!«

Er sah sie zärtlich und liebevoll an. Marie aber erstickte nun endgültig alles, was sie dieser Person jetzt gern ins Gesicht geschleudert hätte, und begann ganz ruhig:

»Der Bräutigam meiner Verwandten, des Fräuleins Lenke Rimmer, Herr Doktor Nikolaus Csathi ist Ihr Verteidiger, mein Fräulein.«

»So ist es,« warf Sebfi ein, erfreut, daß sich nun doch eine Art gesellschaftlicher Konversation entwickelte. Doch von beiden Seiten traf ihn je ein vernichtender Blick. Mich behandelt jeder, als ob ich sein Hund wäre – dachte er und nahm sich vor, völlig zu verstummen.

»Herr Doktor Csathi,« fuhr Marie fort, »war so ungeschickt, Sie, mein Fräulein, im unklaren darüber zu lassen, daß jenes Gefühl, welches Sie ihm entgegenbringen, ihn nicht nur gleichgültig läßt, sondern ihn geradezu in seinen heiligsten Empfindungen beleidigt.«

Risa lächelte: »Sprechen Sie nur ruhig weiter gute Frau.«

Na, wart' nur, dachte die »gute Frau« bei sich, ich spreche schon weiter … aber du wirst dich nicht dafür bedanken!

»Das war zweifellos ein Fehler,« fuhr sie fort, »den Doktor Csathi beging, der aber damit zu entschuldigen ist, daß Herr Doktor Csathi von Natur aus sehr gutmütig ist, und daß er es offenbar vermeiden wollte, Sie, mein Fräulein, in Ihrer ohnehin so traurigen Lage zu kränken. Deshalb bin ich nun an seiner Stelle hier, um mit Ihnen ein vernünftiges Wort zu sprechen. Solche Dinge verstehen wir Frauen schließlich besser, und ich kann nicht annehmen, daß Sie, mein Fräulein, dem Glück des Herrn Doktors Csathi im Wege stehen wollen, am allerwenigsten, wenn Sie ihn, wie Sie behaupten, lieben …«

Risa lächelte noch immer.

»Am allerwenigsten, wenn ich ihn liebe,« wiederholte sie spöttisch Maries Worte.

Diese fuhr fort: »Nicht wahr, man kann sich über alles vernünftig und ruhig aussprechen? Sie sind sehr im Irrtum, mein Fräulein, wenn Sie glauben, daß wir die Absicht haben, Sie mit dreihundert oder Gott weiß wieviel Gulden zu bestechen.«

»Was wollen Sie denn von mir?« fragte Risa. »Denn daß Sie etwas wollen, beweist allein Ihr Besuch.«

Marie glaubte den Moment gekommen, diplomatisch vorzugehen: »Wir wollen nichts weiter, als – an Ihren gesunden Menschenverstand appellieren.«

Jetzt erhob sich Risa einfach und ruhig.

»Darauf will ich Ihnen etwas sagen.«

»Nun?«

»Die Sache liegt sehr einfach. Ich bin nicht geneigt, an meinen gesunden Menschenverstand zu appellieren. Nehmen Sie gütigst zur Kenntnis, daß ich an dem Tage, an dem ich jenen Griff in die Geldlade des alten Korda tat, meinen gesunden Menschenverstand für längere Zeit beurlaubte. Er erholt sich jetzt. Er befindet sich, wie man beim Militär sagt, außer Dienst. Ich hoffe, Sie verstehen mich?«

»Aber, mein Fräulein …«

»Das ist durchaus kein Scherz. Ich habe von meinem gesunden Menschenverstand so lange Gebrauch gemacht, bis er ermüdete. Nun hat er eine längere Erholung nötig. Womit ich die Ehre habe, mich zu empfehlen.«

Jetzt erhob sich auch Sebfi, gleich nach ihm auch Marie. Diese maß Risa mit finsteren Blicken. Mit Blicken, in denen all der Haß beschlossen war, den man für jemand empfindet, der dem eigenen Erfolg im Wege steht.

»Also ist es unmöglich, vernünftig mit Ihnen zu sprechen, mein Fräulein?«

»Ganz unmöglich!«

»Auch dann, wenn ich Sie daran erinnere, daß Ihr Fall übermorgen zur Verhandlung gelangt, und daß ich imstande bin, Ihnen jene materiellen Mittel anzubieten, die Sie vor dem Gefängnis retten?«

Risa lachte: »Das haben Sie sehr schön gesagt. Aber der ganzen herrlichen Rede kurzer Sinn sind ja doch: dreihundert Gulden. Bemühen Sie sich nicht weiter, arme Frau!«

Nach der »lieben Frau« und der »guten Frau« war jetzt die »arme Frau« das Schlimmste. Nein! Das ließ sich Marie denn doch nicht bieten! Sie sagte nur: »Also lassen Sie sich einsperren, mein Fräulein!«

»Das werde ich auch tun,« sagte Risa.

Damit winkte sie dem Wärter an der Tür, als wäre dieser ihr Lakai, und als wolle der Wink besagen: »Der Wagen kann vorfahren!«

Und mit heiterer Miene, gut gelaunt, ohne zu grüßen und ohne sich umzusehen, ließ sie ihre beiden Gäste stehen.

Sebfi blickte auf den Boden. Er wollte etwas sagen, aber er wußte nicht was. Er sperrte nur den Mund auf und schnappte nach Luft, wie ein Karpfen auf dem Trockenen. Marie aber empfand jetzt nach der eben erlittenen Niederlage Sebfis Anwesenheit bereits als überflüssig. Deshalb ging sie zur anderen Tür hinaus, ohne ihn zu grüßen und ohne sich nach ihm umzudrehen.

Er blieb allein. Eine Träne – jene gewisse, plötzlich hervorsickernde, einsame Träne – glänzte in seinem Auge.

Wie geht das zu? dachte er. Ich habe das beste Herz und die edelste Seele von allen, bin bereit, mich aufzuopfern, bereit, jedem zu helfen – und gerade mich behandelt jeder so hundemäßig schlecht.

Ein Gefängniswärter erschien an der Schwelle.

»Das Zimmer wird gebraucht,« sagte er, »Sie müssen hinausgehen.«

Hinter dem Wärter erblickte man einen Sträfling. Bei der anderen Tür erschien ein junger Rechtsanwalt mit einem Kneifer auf der Nase und einer Aktentasche unter dem Arm.

Sebfi wandte sich traurig zum Gehen.

»Man wirft mich auch noch hinaus,« sagte er leise.


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