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Lange Zeit stand Nikolaus wortlos inmitten des Zimmers. Die letzten Stunden hatten ihm so viele schwere Situationen zu lösen gegeben, ihn gezwungen, sich aus so vielerlei peinlichen Konflikten in Minutenfrist einen Ausweg zu bahnen, daß er jetzt nicht wußte, was er sagen solle. Er hätte nie geglaubt, daß er je mit solchen Gefühlen in diesem reinen Zimmer stehen werde. Vielerlei wogte nun in seinem Gehirn durcheinander, vielerlei, das ihn jäh überfallen, ihn willenlos fortgewirbelt hatte …, er vermochte jetzt nichts mehr klar zu sehen, er wußte nur, daß er nun im Zimmer jenes Mädchens stand, das diese ganze Angelegenheit bisher nichts anging und vom unbeteiligten Zuschauer eines Rechtsfalles plötzlich zur Heldin einer romanhaft komplizierten Situation geworden war.
Lenke wußte nicht, wer im Zimmer stand. Erst als Minuten vergangen waren, ohne daß ein Wort fiel, empfand sie, daß es nur Nikolaus sein könne.
Langsam hob sie den Kopf und sah ihn an. Er sprach auch jetzt noch nicht. Lenke sagte: »Es wird am besten, sein,« – ihre Stimme klang matt und kraftlos – »wenn du wieder fortgehst und mich allein läßt.«
Nikolaus wollte etwas sagen.
»Sag' nichts, du hast gar keinen Grund, dich zu entschuldigen. Du stehst in dieser Sache durchaus rein und ehrenhaft vor mir da, soweit ich diesem Brief hier glauben darf … diesem Brief und den wenigen Worten, die ich vorhin mit einer unbekannten Dame gewechselt habe. Aber laß mich jetzt allein.«
»Warum?«
»Weil ich jetzt meine Gedanken beisammen halten muß … weil ich jetzt noch gar nicht weiß, was ich tun, was ich denken soll … dieser Brief hat mich so verwirrt …«
Sie wies auf das Schreiben, das vor ihr auf dem Tisch lag. Vier große, mit kleinen Buchstaben ganz eng beschriebene Seiten. Auf dem Rande waren ein paar Zeilen noch quer über das Papier geschrieben – man sah, daß der Schreiber dieses Briefes sehr viel zu sagen hatte.
»Lenke,« sagte Nikolaus, dessen Ruhe allmählich wiederkehrte, »ich habe keine Ahnung davon, was in diesem Briefe steht. Mich trifft diese Sache ganz unvorbereitet … ich bin da hineingefallen, ganz gegen meinen Willen hineingemengt worden … glaub' mir, liebe Lenke … es ist geradezu eine Katastrophe!«
Das Mädchen erriet, was er wollte. Sie nahm den Brief und reichte ihn Nikolaus hin.
»Lies,« sagte sie.
»Darf ich?«
»Ja. Damit du siehst: Ich glaube dir, daß du nicht weißt, was darin steht. Hätte ich kein Vertrauen zu Dir, so würden wir jetzt nicht miteinander sprechen. Also lies den Brief.«
Nikolaus griff hastig nach dem Papier und las.
Der Brief lautete:
»Sehr geehrtes Fräulein! Ich schreibe Ihnen als eine Unbekannte, die Sie noch nie gesehen hat, ja erst seit wenigen Wochen von Ihrer Existenz Kenntnis besitzt. Sie müssen große Nachsicht üben, um mir diesen Brief zu verzeihen – so wie ich großen Mut aufbringen muß, um ihn zu schreiben.
Doch während ich schreibe, fühle ich bereits, daß es nicht Mut ist, was mir die Feder führt, sondern jene Entschlossenheit, die der Verzweiflung entspringt. Sie werden diesen Brief gewiß in Ihrem behaglichen, sauberen Zimmer lesen, diesen Brief, den ich hinter einer Eisentür, in einer Gefängniszelle eilig zu Papier bringe. Denn ich bin eingesperrt, weil ich einem alten Mann das Geld, das er mir anvertraute, gestohlen habe.
Wahrscheinlich ist Ihnen mein Name nicht unbekannt. Ich bin jene Risa Nagy, von der Ihnen Ihr Bräutigam, der mein Verteidiger ist, erzählt haben dürfte. Lassen Sie jetzt die Frage, ob ich unschuldig bin oder nicht, ob ich verurteilt werde oder nicht, völlig beiseite. Dieser Teil der Angelegenheit ist auch mir längst gleichgültig geworden. Es sind ganz andere Dinge, von denen ich hier sprechen will.
Liebes Fräulein – ich habe jene Geldsumme in einem wahnsinnigen Augenblick gestohlen, weil ich in Ihren Bräutigam verliebt bin. Ich wußte zwar, daß ich mir damit, was ich mit dem gestohlenen Gelde beginnen wollte, seine Liebe nicht erkämpfen werde, ich wußte, daß das Ganze die verrückte Eingebung eines Augenblicks sei, und ich erwähne dies alles wahrhaftig nicht, um mich zu entlasten oder gar Ihrem Bräutigam die Schuld an meinem Unglück zuzuschreiben – sondern nur, damit Sie sehen, damit Sie mir glauben, wie sehr ich diesen Mann liebe. Es war, wie gesagt, nur ein Einfall, eigentlich nur ein Scherz: Ich wollte ihm in einem prunkvollen Abendkleid entgegentreten, um ihm zu gefallen, ihn zu bezaubern – und sehen Sie, liebes Fräulein, schon dieser Scherz allein genügte, um mich ein Verbrechen begehen zu lassen, dessentwegen ich nun hinter Schloß und Riegel sitze und für mein ganzes Leben lang gezeichnet bin. Jetzt stellen Sie sich vor, liebes Fräulein, wozu ich für diesen Mann fähig wäre, wenn es sich darum handeln würde, seine Liebe zu erringen, ihn ganz besitzen zu dürfen!
Sie halten mich vielleicht für verrückt – aber daran liegt mir nichts. Ja, ich bin selbst geneigt zu glauben, daß ich ein Opfer dieser Wahnidee wurde. Ich weiß, ich fühle es, daß ich von einer unwiderstehlichen Gewalt in diese Liebe hineingerissen, hineingewirbelt wurde, in diese Liebe, durch die ich entweder selig werde oder an der ich zugrunde gehe. Jetzt hat sie mich ins Gefängnis gebracht – doch darum kümmere ich mich kaum. Wenn es mich schmerzt, meine Freiheit verloren zu haben, so schmerzt es mich nur, weil ich nichts unternehmen kann, um in seine Nähe zu gelangen. Und wenn es mich kränkt, als Sträfling dazustehen, dessen Leben vernichtet ist, so ist es nur, weil ich dadurch vielleicht in seinen Augen sinke. Obzwar ich nicht recht glaube, daß dies der Fall ist – – ich wenigstens könnte jemanden, der meinethalben ins Gefängnis gerät, anbeten.
Nun aber, da ich so weit bin, wühlt mich die Sehnsucht nach jenem Mann noch furchtbarer auf. Denn nun verschlingt sich meine Liebe zu ihm mit dem heißen Verlangen nach Freiheit, nach Sauberkeit, nach Läuterung. Die schmutzigen vier Wände, die mich jetzt umgeben, lehrten mich die Sehnsucht nach jenen drei Dingen, die in den Augen ehrbarer Menschen die heiligsten sind: nach Liebe, nach Freiheit und Sauberkeit. Ich bin verliebt – und niemand liebt mich wieder. Ich will frei sein – und bin gefangen. Ich sehne mich nach Sauberkeit – und bin beschmutzt, beschmutzt in jedem Sinne, nicht nur als Mädchen, sondern auch als Mensch.
Langsam komme ich nun dazu, »was ich Ihnen eigentlich sagen will. Sie sehen: Alle meine Sehnsucht, mein ganzes Verlangen nach jenen drei heiligen Dingen strömt in der Liebe zu einem einzigen Manne, einem Rechtsanwalt, einem hübschen jungen Menschen zusammen, der just Ihr Bräutigam ist. Dieser eine Mann könnte mich verkommenes, zum Kehricht der Menschheit geworfenes Geschöpf dem Leben wiedergeben. Nicht dem Leben der anderen, Fräulein, nur meinem eigenen. Um die Menschen kümmere ich mich nicht. Nur ich will leben und will nur mein Leben leben. Sie ahnen nicht, welch zorniger Trotz, welche Bitterkeit, welche wilde Entschlossenheit mich erfüllt, wenn ich mich frage: Warum soll ich zugrunde gehen? Warum soll ich hier auf dem Kehrichthaufen verrecken, da ich doch ein lebender, fühlender Mensch bin, der nie jemandem Böses tat, und auch in meinem sündigen Leben den Menschen mehr Freude als Schmerz bereitete – jetzt zugrunde gehen, da ich zum erstenmal in meinem Leben wahrhaft liebe!
Sie dürfen es mir nicht übelnehmen, mein Fräulein, wenn dieser Brief wenig Höflichkeiten und mehr harte und ernste Gedanken enthält – ich kann weder auf Sie noch Ihre gesellschaftliche Stellung, noch auf Ihre Liebe, ich kann auf gar nichts Rücksicht nehmen. Was mit diesem bitteren Brief hier zwischen uns beginnt, mein Fräulein, ist Krieg! Ein Krieg, den ich ohne Rücksicht, ohne Mitleid, mit brutaler Gewalt durchkämpfen werde. Es erfüllt mich geradezu mit Freude, daß mein Leben nun doch wieder einen Zweck hat, daß jeder meiner Gedanken, jeder meiner Atemzüge einem Ziel zustrebt. Keinem geringen Ziel: der Rettung meines Lebens.
Was bedeutet Ihnen Nikolaus Csathi? Ich kenne Sie nicht, mein Fräulein, aber ich kann Sie mir vorstellen. Ob sie nun blond oder braun sind – sicherlich sind Sie ein bescheidenes Bürgermädchen, das von Papa und Mama sorgfältig dazu erzogen wurde, einmal zu heiraten, niemals ein Wässerchen dieser Welt zu trüben und Ihr kleines bürgerliches Leben ganz still zu Ende zu leben – denn Ihr anständigen Mädchen und anständigen Frauen seid ja stolz darauf, was einem weiblichen Wesen, wie ich es bin, der Tod wäre: unbedeutend zu sein, keinerlei Anlaß zu Gerede und Klatsch zu geben, niemals selbständig zu handeln, sondern sich stets vom Herrn und Gebieter an der Leine führen zu lassen. Und just Ihr Bräutigam ist Nikolaus Csathi, Ihr Bräutigam im lauesten, bürgerlichsten, trostlosesten Sinne des Wortes.
Für mich aber, mein Fräulein, in meinen Augen ist dieser Mann etwas anderes! Mir bedeutet er das Leben, aus dem ich jetzt verstoßen bin. Wäre ich eine gewöhnliche Verbrecherin, die von Nikolaus Csathi nichts erwartet, als daß er sie aus dem Gefängnis befreit, dann hätten Sie ein Recht, über diesen Brief zu lächeln und zu sagen: Diese Person tut so, als ob sie schlau wäre, und ist doch nur eine naive Lügnerin.
Aber nicht davon ist jetzt die Rede. Das Gefängnis, in dem ich heute sitze, ist nur eine Station auf dem Wege nach dem Schlachtfeld, auf dem ich für diesen Mann kämpfen werde. Unbewußt, ohne es selbst zu wollen, werden Sie mir auf dieses Schlachtfeld folgen. Und eines Tages werden wir uns dort gegenüberstehen, und die Stärkere von uns wird den Sieg davontragen.
Ich schreibe Ihnen diesen Brief, um Ihnen diesen Kampf anzusagen. Der Gedanke an Sie und an Ihre Ruhe kann mich davon nicht abhalten, und es liegt mir auch nichts daran, wenn dieser Brief eine Familienkatastrophe verursacht. Ja vielleicht wäre mir eine solche günstig. Aus einem wilden Chaos könnte ich Nikolaus vielleicht heraus und an mich reißen. Denn wenn ich auch in den schlichten und ruhigen Dingen des Lebens mit Ihnen kaum konkurrieren kann – in wilden, dunklen und trüben Lagen bin ich die Stärkere. Denn der Sturm ist mein Element, im Sturm fühle ich mich wohl, wenn der kalte Regen mein Gesicht peitscht, der scharfe Wind mir das Haar durchwühlt, wenn man mutig und entschlossen sein muß, um sich sein Leben zu erringen.
Meine Kraft, liebes Fräulein, ist die Kraft der Erbitterung. Die furchtbarste und traurigste Kraft, die der Mensch besitzt. Es ist die Kraft der Gefangenen, der Unterdrückten, der Verstoßenen, und mit dieser Kraft kann es die ehrsame Unschuld nicht aufnehmen, mein Fräulein – nur in den Büchern steht es anders. Ich gehe mit dem sicheren Gefühl des Sieges in den Kampf, denn mir ist längst alles egal, ich habe meine Sache auf nichts gestellt, ich kümmere mich auch um mein Leben nicht – das ja kein Leben ist.
Was ich Ihnen jetzt sagen will, klingt vielleicht sehr verrückt, vielleicht aber ist es der beste Rat, den man Ihnen geben kann – ich weiß es selbst nicht. Aber ich rate Ihnen: Entsagen Sie diesem Mann, denn er wird Ihnen niemals angehören. Ich nehme ihn Ihnen weg. Entsagen Sie ihm, so wird wohl stille Trauer eine Weile lang Ihr Schicksal sein. Entsagen Sie ihm nicht, so werden Sie in dem Kampfe fallen und vielleicht eine Wunde davontragen, von der Sie in Ihrem ganzen Leben nicht genesen.
Ich glaube, dies war das erste und letzte Gespräch, das wir miteinander führten. Auch in diesem hatte nur ich das Wort, denn ich weiß, daß Sie nicht antworten werden. Ich will es auch nicht. Ja, ich bitte Sie sogar, mir nicht zu antworten. Vielleicht werden wir uns so wie bisher auch künftighin niemals sehen. Doch auch mit einem unsichtbaren und stummen Feinde werde ich verzweifelt kämpfen. Hiervon kann mich nichts und niemand zurückhalten. Diesen Brief schrieb ich nur, weil er mir nötig schien, um den Kampf beginnen zu können. Denn ich will, daß Sie alles wissen, ich will, daß Sie auch dann mein Gegner sind und mit mir kämpfen, wenn Sie so tun, als ob Ihnen meine Existenz gleichgültig wäre.
Gott segne Sie, mein Fräulein!
Risa Nagy.«
Nikolaus legte den Brief auf den Tisch. Lenke stand am Fenster, abgewendet.
Er sagte nichts als: »Das ist furchtbar.«
Sie wandte sich ihm zu. Dann sahen sie sich lange an, doch keiner sah dem anderen in die Augen.
Das Mädchen wollte nicht sprechen, der junge Mann konnte es nicht. So standen sie sich also stumm gegenüber. Es waren ein paar fürchterliche Sekunden, die ihnen endlos dünkten.
Dann ging zum Glück die Türe auf, und der alte Rimmer trat ein. Die trübselige Stimmung, die hier herrschte, wurde plötzlich von einem glücklich lächelnden Vaterantlitz erhellt. Er sah die jungen Leute an, aber er bemerkte nichts. Nur Mutteraugen pflegen in solchen Augenblicken in die Herzen zu sehen. Der Blick der Väter streift nur die Oberfläche und begnügt sich damit, was er dort sieht. Daher kommt es, daß auch Väter so oft Ehemännern gleichen. Bei fast allen Vätern, die ihre Frau früh verloren haben und für eine erwachsene Tochter sorgen, kann man diesen Ehegattenzug beobachten. Die große Tochter behandelt dann den Vater in vielen Dingen nicht anders, als wäre er ihr Mann. In neunundneunzig Fällen von hundert erfährt dann so ein Vater als letzter, in wen sich seine Tochter verliebte, so wie eben auch Ehemänner gewisse Dinge als letzte erfahren.
Deshalb verlief auch dieser ganz kurze Besuch des Vaters genau so, als ob der bejahrte Herr Gemahl in das Zimmer seiner jungen Frau trete. Er ahnte nichts von dem, was eben vorgegangen war. Die jungen Leute zwangen sich zu einem Lächeln, und der Alte sagte mit aufrichtiger Gutmütigkeit: »Mir scheint, ich habe Euch gestört … Ihr habt wohl ein großes Geheimnis miteinander.«
Dabei lachte er sie mit forschendem Blick an und war zufrieden.
Er verließ das Zimmer mit der Überzeugung, daß die Jungen eben über eine ungeheuer wichtige Frage verhandelten, und zwar entweder darüber, in welchem Stadtteil sie Wohnung suchen oder welche Farbe sie für die Möbel des Eßzimmers wählen sollten …
Immerhin gab ihnen dieser kurze Besuch die Sprache wieder. Nikolaus sagte: »Und du hast mit jener Dame, die diesen Brief brachte, gesprochen?«
»Ja.«
»Was sagte sie dir?«
»Ungefähr dasselbe, was in dem Brief steht.«
»Sonst nichts?«
Lenke sah plötzlich zu Boden. Ihr unvermutetes Senken des Blickes gab dieser kleinen, unwichtigen Frage mit einemmal Wichtigkeit und Bedeutung. Nicht ohne einige Erregung wiederholte deshalb Nikolaus: »Sonst sagte sie nichts?«
Jetzt sah Lenke wieder auf. Ihr ruhiges großes Auge verdeckte das Flackern innerer Feuer. Tapfer, wie ein ernstes Geständnis, sagte sie: »Doch, sie sagte dann noch etwas.«
»Was sagte sie noch?«
»Sie sagte, daß es nicht so weit gekommen wäre, wenn du gewollt hättest.«
»Wenn ich dir schon alles sage, so unterbrich mich jetzt nicht,« sagte Lenke in fast strengem Tone. »Es kostet mich Anstrengung genug, mit dir darüber zu sprechen … also hör' mir ruhig zu.«
»Ja aber …«
»Paß auf. Die Dame meinte, daß du von dem Gefühl Kenntnis hattest, das in der Seele dieses armen, bemitleidenswerten Geschöpfes – wie ich glauben will, ohne dein Hinzutun – aufkeimte. Und daß du dich in dem Augenblick, in dem du davon erfuhrst und trotzdem nicht jede persönliche und berufliche Verbindung mit diesem Mädchen abgebrochen hast, gegen mich schwer vergangen hättest …«
»Aber Lenke, bedenk' doch, von meiner Verteidigung hängt ja ihre Freiheit, ihre Ehre, ihr Leben ab!«
Hieraus antwortete Lenke nur mit einem leichten und doch bitteren Lächeln.
»Darüber lächelst du?«
Nikolaus verstand nicht, daß Lenke hier lächeln konnte; er wußte nicht, daß hier jede Lenke lächelt, jedes wohlerzogene Fräulein lächeln würde. Denn was wissen diese von all dem menschlichen Grauen, von dem nichts in die friedsame Stille eines weißen Mädchenzimmers dringt?
»Freilich lächle ich,« sagte sie, und jetzt erschien in ihrem Augenwinkel verstohlen die erste Träne, »ich muß doch lächeln … denn wenn jemand liebt und wieder geliebt wird, dann gibt es eben keine Freiheit, keine Ehre und kein Leben …«
Das war wenigstens die gerade, offene Sprache eines jungen Mädchens. Der uralte Egoismus aller Kinder. Oder der Egoismus eines liebenden Herzens?
Nikolaus war von dieser Antwort ein wenig bedrückt. Denn erst jetzt tat er einen flüchtigen Blick in die unwissende, reine Seele Lenkes. Leise sagte er: »Nun ja … das ist freilich etwas anderes.«
Aber weil er fühlte, daß er nun seine Entschuldigung auf anderem Gebiet suchen müsse, setzte er hinzu: »Das ist aber gar nicht die Hauptsache.«
»Was denn?«
»Die Hauptsache ist, daß mir dieses Mädchen vollkommen gleichgültig ist. Mir lag nie etwas daran, ob sie mich liebt oder ob sie mich nicht liebt, sie interessierte mich nicht, und ich kümmerte mich nicht um sie. Ich konnte nicht ahnen, daß …«
Er setzte diesen Satz nicht fort, denn er erschrak vor der Fortsetzung, die jetzt notwendigerweise folgen mußte. Daß er nicht ahnen konnte, wie gewaltig diese Liebe anwachsen würde. Daß er nicht ahnen konnte, daß diese Liebe ihm jemals bis in dieses weiße Zimmer folgen, ja dessen Schwelle angriffslustig überschreiten würde. Daß er nicht ahnen konnte, daß ihn Risa Nagy nicht nur als Angeklagte, sondern auch als liebendes Weib interessieren würde, und daß ein Tag kommen werde, an welchem kein anderer Gedanke ihn mehr beschäftigte, als daß Risa in ihn verliebt sei … All dies waren unleugbare Wahrheiten, aber Wahrheiten, die verschwiegen werden mußten.
Das kleine Fräulein aber setzte den Gedankengang fort: »Das war gerade der Fehler, daß du dich nicht um sie kümmertest. Du hättest dich eben um sie kümmern müssen. Als du wußtest, daß sie dich liebt, hättest du vor dieser Liebe flüchten müssen …«
Sie sagte das so ernsthaft wie ein Weiser, der alle Erfahrung dieser Welt im kleinen Finger hat und auf den ersten Wink imstande ist zu erklären, ob irgend etwas richtig oder unrichtig sei.
Nikolaus wurde ruhiger. Er fand, daß dieses rein denkende kleine Fräulein unkompliziert genug sei, um sich diese am Ende doch törichte und unbegründete Angst ausreden zu lassen. Was, in die Sprache des Alltags übersetzt, besagen wollte, daß Lenke doch nicht gescheit genug sei, um sein eigentliches Vergehen in dieser Angelegenheit zu erkennen. Und er freute sich über diese Feststellung, trotzdem sie für Lenke etwas Herabsetzendes enthielt. Er freute sich über sie, weil er jetzt hoffen durfte, sich ohne viele Mühe und Kopfzerbrechen aus dieser verrückten Lage herauszuwinden, in die ihn ein verrücktes Mädchen gebracht hatte. Völlig ruhig begann er wieder:
»Ich kümmerte mich nicht um sie, und ich kümmere mich auch jetzt nicht um sie. Ich kann dir das nicht besser beweisen als damit … daß es mir auch jetzt ganz und gar gleichgültig ist, ob sie mich liebt oder nicht. Ich werde ihr gegenüber meine Pflicht erfüllen, und damit Schluß …«
Aber der leichte Ton, in dem er das alles vorbringen wollte, gelang ihm nicht recht. Lenke antwortete ernsthaft: »Ich aber werde es nicht zugeben, daß du mit diesem Fräulein Risa je wieder auch nur ein einziges Wort wechselst. Verstehst du?«
»Ich verstehe.«
»Und ich werde auch nicht zugeben, daß du sie je wiedersiehst, verstehst du?«
»Ich verstehe.«
»Und du gibst mir dein Wort darauf, daß du mir von allen mündlichen oder schriftlichen Nachrichten, die dir dieses Geschöpf zukommen läßt, innerhalb einer halben Stunde Nachricht gibst.«
Sie sah Nikolaus fragend an, als zweifle sie daran, ob er auch darauf eingehe.
Nikolaus nickte.
»Ich verspreche dir auch das,« sagte er und lächelte. Mit diesem Lächeln wollte er der ganzen Sache endgültig ihren Ernst nehmen.
»Du sollst nicht lächeln,« sagte Lenke.
»Warum nicht?«
»Weil dieses Lächeln nichts anderes bedeutet, als daß du mich für ein Gänschen hältst, dessen Bedenken man lächelnd zerstreuen kann …«
»Was fällt dir denn ein?«
»Doch, doch, so etwas fühlt man … Gib mir also ernsthaft dein Wort …«
»Ich gebe dir ernsthaft mein Wort.«
»Bitte …«
Er reichte ihr die Hand.
»Du gibst mir also dein Ehrenwort?«
»Ja.«
Sie blickten sich ernsthaft an. In ihrem Blick war jetzt etwas von einem Zusammenhalten während eines ganzen Lebens. Es war ein Blick, den schon Mann und Frau wechselten.
»Jetzt bin ich beruhigt,« sagte Lenke.
Dann setzte sie hinzu: »Ich habe noch eine Bitte.«
»Und die wäre?«
»Mein Vater soll von dem allen nichts erfahren.«
»Warum? Also nimmst du es doch so ernst?«
»Ich nehme es sehr ernst. Versprich mir das!«
»Ich verspreche es dir.«
Zum erstenmal trat ein heiteres Lächeln auf ihr Gesicht. Man sah ihr an, daß sie mit diesem treuen und gehorsamen Bräutigam zufrieden war. Er erschien ihr jetzt wie ein unerfahrenes Kind, das beinahe schon Hals über Kopf in eine große Gefahr gerannt war, und das von ihrer überlegenen Klugheit noch im letzten Augenblick gerettet wurde.
Leise, fast flüsternd, sagte sie: »Und jetzt …«
Sie fuhr nicht fort, aber sie senkte schamhaft ihr Köpfchen.
Nikolaus beugte sich zu ihr und küßte sie zärtlich auf die Stirn.
Und in diesem Augenblick, als seine Lippen diese reine, glatte Stirn berührten, fühlte auch er sich glücklich. Doch im nächsten, als er ihr wieder in die Augen sah, fühlte er im Grunde seiner Seele neuerdings eine beunruhigende Regung.
Langsam erwachte in ihm die Gewißheit, daß die ehrsame und altmodisch sentimentale Szene, die sich eben zwischen ihnen abgespielt hatte, nur der schwache Auftakt zu weiteren und ernsteren Auseinandersetzungen gewesen sei. Er fühlte ganz deutlich, daß der Fall Risa damit nicht begraben war, und daß der dünne Schleier, den sie beide jetzt darüber gebreitet hatten, nur so etwas war wie Öl auf erregten Wogen. Die wilde Woge, die ihre Kraft aus der Tiefe erhält, steigt urplötzlich hoch auf und zerreißt die dünne Ölschicht …
Aus dem langen Briefe, dessen einzelne Sätze ihm noch jetzt im Herzen brannten, strömte eine unwiderstehliche, rohe und aggressive Kraft. Dieser Brief war – zwischen den Zeilen ebenso wie in seinen Worten – von jener zähnefletschenden Wildheit erfüllt, mit der vielleicht in grauer Vorzeit die Weiber der Höhlenbewohner um ihr Männchen kämpften. Und er sah mit furchtbarer Klarheit, daß dieses weiße, zarte Fräulein mit all seiner Mädchenklugheit, seiner bürgerlichen Moral und seiner sittlichen Überlegenheit von diesem Sturm so hinweggefegt würde, daß keine Spur von ihr übrig bliebe …
Mit diesem Brief war Risa in seinen Augen irgendwie über sich selbst hinausgewachsen. Er erkannte ihr heißblütiges Temperament, ihre starke Intelligenz, ihren unbezähmbaren Willen. In seiner Vorstellung stand sie da wie die Statue der erbitterten Verzweiflung. Ein weiblicher Desperado, der auf dieser Welt nichts einzusetzen und nichts zu verlieren hat …
Er erschrak vor diesem Gedanken. Die Bequemlichkeitsliebe in ihm – der stärkste Zug aller bürgerlichen Seelen – fühlte sich beunruhigt. Jene seelische Faulheit, die an allem Zank und Streit mit geschlossenen Augen vorbeistreift, jeder Aufregung aus dem Wege geht, ein Grauen vor schlaflosen Nächten hat und nichts Ärgeres kennt als den Zwang: Jetzt mußt du endlich deine Gedanken zusammennehmen. Dergleichen Seelen fühlen sich im lauwarmen Bad des bürgerlichen Daseins am behaglichsten und hören den Kriegslärm am liebsten aus jener Entfernung, in welcher er nur noch als schwaches Säuseln vernehmbar wird. Sie zittern vor dem Gedanken, sich waffnen und rüsten zu müssen.
Auch Nikolaus fühlte so wie viele tausend Millionen anderer Menschen in der gleichen Lage; aber er begann einzusehen, daß das, was ihn in diese Lage gebracht, was ihn zu diesem Kampf geschleppt hatte, nichts anderes war als eben diese tief eingewurzelte Bourgeois-Bequemlichkeitsliebe. Jene sich taub und blind stellende, den Stürmen der anderen entfliehende Faulheit, die alle Gefühlsregungen, mit denen er auf Risas Liebe reagierte, unterdrückt hatte. Die ihm zugeflüstert hatte: »Laß sie laufen, kümmere dich nicht um sie, das Ganze geht dich doch nichts an, reg' dich um Gottes willen nicht auf … wenn sie sich quält, so mag sie sich eben quälen, das ist schließlich ihre Sache und nicht die deine.«
Jetzt aber war es bereits ein bißchen zu spät. Jetzt stand er bereits hier vor seiner Braut, und wenn sie auch lächelte und wenn sie auch erklärte: »Jetzt bin ich beruhigt« – in ihrem Lächeln steckte doch eine geheime Unruhe, und in ihrer Stimme zitterte die Anstrengung, mit der sich unruhige Mädchenseelen zur Ruhe zwingen.
Jetzt lag bereits dieser insgeheim geschriebene, insgeheim abgeschickte Brief da, wie ein Keil, der plötzlich zwischen sie gefahren war und, von seinem Eigengewicht getrieben, sich immer stärker zwischen sie hineinzwängte. Dort glühte jetzt das weiße Papier, das krankhafte Gefühl des eingesperrten Mädchens, diese wildgewachsene, unbeschnittene herbe Liebe, in der all das Elend und all das Leid beschlossen schien, von dem Risas Vergangenheit erfüllt war. Sie war so herb und bitter wie die Frucht des wilden Obstbaums, der das Wasser des Sturzbaches trinkt, von den Stürmen des Waldes durchwühlt wird, der niemals in seiner Jugend aus der gepflegten Erde eines sauberen Gartens das Wasser empfing, das ihm Menschenhand darbot, und der seine Zweige niemals der erzieherischen Schere eines Gärtners hingehalten hatte.
Doch das war nun nicht mehr zu ändern. Das war mit Lächeln, Versprechungen, mit unschuldigen Küssen auf eine jungfräuliche Stirn nicht zu erledigen. Der Kampf mußte ausgenommen werden.
Wieder öffnete sich die Türe.
»Das Essen ist aufgetragen, Kinder,« sagte der alte Rimmer, der wieder hereinsah und wieder nichts merkte.