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VI.

Als Nikolaus am nächsten Morgen erwachte, wich der Schlaf sofort aus seinem Hirn. Sonst blieb er gern noch eine Weile liegen, um mit offenen Augen vor sich hinzudämmern – heute fühlte er keine Lust dazu. Es gibt solche Morgenstunden, die Morgenstunden unserer tätigen Tage, in denen man aus der Bewußtlosigkeit mit einem Satz ins Leben zurückspringt. Auch Nikolaus hatte kaum die Augen geöffnet, als er schon wußte, daß der heutige Tag ein Tag des Handelns sei. Er kleidete sich rasch an und eilte auf die Straße.

Vor dem Tor schritt eine zerlumpte Gestalt auf und ab. Es war Sebfi. Nikolaus trat erstaunt auf ihn zu: »Was? Sie?«

»Ja, ich bin es.«

»Was tun Sie hier zu so früher Stunde?«

»Ich warte auf Sie, Herr Doktor.«

»Warum sind Sie nicht hinaufgekommen?«

»Ich wollte Sie nicht stören. Ich gehe schon seit zwei Stunden hier auf und ab … ich bin sehr früh aufgestanden, was freilich jetzt nicht viel besagen will, da ich nachts ohnehin nicht schlafe. Manchmal bin ich dann bei Tage so schläfrig, daß mich auf der Elektrischen der Schlaf übermannt. Das geschah mir auch gestern, dazu hatte ich noch das besondere Pech, daß es ein Ringverkehr-Wagen war. Ich schlief in einer Ecke, und der Wagen rannte mit mir um die Stadt. Ich weiß gar nicht, wie oft. Doch das alles ist nicht wichtig. Ich muß mit Ihnen sprechen, Herr Doktor.«

Nikolaus wies auf das Café, in dem er gestern abend lange allein bei einer Tasse Tee gesessen hatte und sagte: »Gehen wir frühstücken.«

Sie traten ein. Sebfi setzte sich, ohne seinen weiten Künstlermantel abzulegen, neben Nikolaus und begann:

»Heute nacht sind verschiedene Entschlüsse in mir gereift, und ich bin gekommen, um sie mit Ihnen durchzusprechen, Herr Doktor. Eines ist sicher: Risa muß gerettet werden. Nach langer, gründlicher Überlegung habe ich beschlossen – und in diesem Beschluß kann mich nunmehr keinerlei himmlische oder irdische Macht wankend machen – Fräulein Risa zu heiraten, ob sie nun frei wird oder nicht. In letzterem Fall heirate ich sie eben, sobald sie ihre Strafe verbüßt hat. Also, Herr Doktor – versuchen Sie nicht erst, mich davon abzubringen, versuchen Sie auch nicht, mich irgendwie zu trösten, versuchen Sie noch weniger, mir zu raten, Risa zu vergessen und diese ganze Liebe einfach als Abenteuer oder, wenn Sie wollen, als Wahnsinnsanfall zu betrachten … wie gesagt, versuchen Sie das erst gar nicht, sondern trachten Sie statt dessen das arme Mädel zu retten.«

Nikolaus warf zwei Stück Zucker in seinen Kaffee. Er wußte nicht, was er antworten solle, und vertiefte sich deshalb liebevoll in sein Frühstück. Sebfi fragte und antwortete auch gleich für Nikolaus. Er sagte: »Wissen Sie, was mich soweit gebracht hat?«

»Nein.«

»Die Logik, Herr Doktor, nur die Logik. Ich habe nämlich eine sehr bemerkenswerte Entdeckung gemacht.«

»Nun, und die wäre?«

»Ich will es Ihnen sagen, aber Sie müssen mir Ihre allergrößte Diskretion zusichern, absolute Geheimhaltung.«

Nikolaus nickte zustimmend. Sebfi beugte sich zu ihm hin:

»Ich will es Ihnen sagen, Herr Doktor, aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie von diesem Detail auch dann keinen Gebrauch machen dürfen, wenn es zu einer Gerichtsverhandlung kommt.«

»Gut, gut – worin besteht also Ihre Entdeckung?«

Sebfi lächelte glückselig. »Herr Doktor,« sagte er mit kaum hörbarer Stimme, »Risa liebt mich.«

Nikolaus legte langsam den Löffel hin und sah Sebfi erstaunt an. »Was?«

»Ja.«

»Sie liebt Sie?«

»Sie liebt mich.«

Sebfi sagte das mit solcher Sicherheit und Ruhe, daß Nikolaus einigermaßen verblüfft war. Nach dem, was geschehen war, erschien ihm diese Mitteilung immerhin sonderbar. Sebfi setzte noch hinzu: »Jawohl, Herr Doktor, sie liebt mich. Und diese Gewißheit war es, die heute nacht jenen Entschluß in mir reifen ließ. Jetzt habe ich wieder Kraft zu kämpfen. Diese Gewißheit stählt meinen Willen.«

Hätte ihm Sebfi diese Mitteilung drei Tage früher gemacht, Nikolaus hätte sie für bare Münze genommen und ihr kein weiteres Interesse entgegengebracht. Jetzt aber verstand er die Situation nicht mehr. Er schwankte eine Weile, ob er sich mit dem Widerspruch zwischen Sebfis Worten und seiner eigenen Erfahrung beschäftigen solle, dann siegte die Neugier in ihm. Er war zum erstenmal diesem armen, herabgekommenen Menschen gegenüber unaufrichtig, als er so tat, als ob ihn die ganze Sache kaum interessiere, und als er in ernstem, sachlichem Anwaltston fragte: »Woher wissen Sie das, lieber Sebfi?«

Die rasche Antwort lautete: »Natürlich von ihr.«

Jetzt wurde die Angelegenheit schon interessanter. Nikolaus staunte: »Von ihr selbst?«

»Ja … natürlich.«

Aber man hörte es Sebfis Stimme an, daß er unsicher wurde. Ein wenig ängstlich fragte er, indem er Nikolaus mit unschuldiger Neugier in die Augen sah:

»Hat sie vielleicht Ihnen etwas anderes gesagt, Herr Doktor?«

»Gott … sie hat mir alles mögliche gesagt. Aber in ihrer Situation spricht man alles mögliche zusammen … übrigens ist es ja möglich.«

Sebfi beeilte sich, die Wege seiner Logik zu enthüllen: »Eigentlich,« sagte er, »weiß ich es nicht direkt von ihr. Trotzdem habe ich volle Gewißheit. Sie müssen wissen, Herr Doktor, dieses Mädchen ist kein gewöhnliches Geschöpf. Ich halte sie für durchaus fähig, daß sie ihre Gefühle aus Stolz verschweigt.«

Jetzt ahnte Nikolaus bereits, wie die Dinge lagen. Er sah Sebfi ins Gesicht und begegnete dessen fragendem Blick, mit dem der Arme förmlich danach hungerte, daß ihn Nikolaus jetzt beruhige, ihm Recht gebe. Er erkannte den ewigen Optimismus, die unerschütterliche Hoffnung des Verliebten, der seine unmögliche Kombination wahrhaben will. Und er wußte nicht, was zu antworten. In seinem geruhsamen, ungetrübten Philisterleben war er bisher nie vor Rebusse solcher Art gestellt worden. In diesem Leben hatte es bisher leichte und auch schwere, doch immer klare und einfache Situationen gegeben, die zu überwinden waren. Ich möchte sagen: Es waren stets Infanterie-Situationen. Zu Husaren-Attacken oder zu Bombardements aus gedeckter Stellung war es nie gekommen. Man hatte zu marschieren, zu laufen, manchmal auch ein wenig zu kämpfen, doch immer auf ebenem Feld einem offenen Feind gegenüber. Dies hier war die erste verwickeltere Situation, in die er geraten war. Und eben deshalb wußte er nicht, was er antworten solle.

Sebfi sah ihn ängstlich an: »Warum schweigen Sie plötzlich?«

Zerstreut gab er zurück: »Ich schweige gar nicht.«

»Sondern?«

»Ich sage nur nichts.«

Und um diesem peinlichen Augenblick ein Ende zu bereiten, klopfte er an sein Glas: »Kellner, zahlen!«

Vor der Tür blieben sie stehen.

»Wohin gehen Sie, Sebfi?«

»Ich weiß es selbst nicht. Ich weiß nur, daß ich irgendwohin gehen, daß ich irgend etwas unternehmen muß. Dieses Umherrennen, so zwecklos es sein mag, ist das einzige, was mich noch aufrecht erhält. Ich fühle, daß ich in dem Augenblick, in dem ich aufhöre umherzurennen, zusammenbreche. Ich komme mir vor wie ein Wagen der Elektrischen: Ich könnte rasen, Funken sprühen, Menschen überfahren. Wenn aber der Abend kommt und in meiner Seele der elektrische Strom abgestellt wird, dann liege ich kalt, unbeweglich und tot da.«

»Ein unmittelbares Ziel haben Sie jetzt nicht?«

»Wenn ich näher nachdenke – eigentlich ja. Glücklicherweise habe ich jeden Tag irgendeinen verrückten Einfall, für den es sich lohnt, weitere vierundzwanzig Stunden zu leben.«

»Also, was wollen Sie heute unternehmen?«

»Ich will zum alten Korda hingehen.«

Nikolaus winkte ab: »Das hat nicht viel Sinn.«

»Warum?«

»Ich war schon bei ihm … es ist alles vergebens.«

Worauf Sebfi jetzt ein Lächeln aufsetzte – ein Lächeln wie Napoleon, wenn ihm etwa jemand gesagt hätte: »Aber lieber Herr Bonaparte, bemühen Sie sich doch mit Ihrer Armee nicht weiter, es ist ja doch alles umsonst.«

»Vergebens?« fragte er. »Wissen Sie, was das heißt?«

»Nun?«

»Das heißt, daß Sie einmal vergebens dort waren. Oder daß ich jetzt vergebens hingehe. Ich gehe aber immer und immer wieder hin, und wenn ich mir die Beine ablaufen sollte. Und dieses fortgesetzte Hingehen hinterläßt schließlich doch ein Resultat, das nicht ganz vergebens ist.«

Sebfi kam von seiner eigenen Seelengröße in Feuer. Er setzte diesen Gedankengang heftig fort, wobei er wild gestikulierend so laut deklamierte, daß ein paar Vorübergehende stehen blieben und ihn ansahen. Er sagte:

»Was ist in einem Glas Wasser? Nur Wasser, nicht wahr? Reines Wasser. Sonst nichts. Reines Quellwasser – also eine völlig geschmack-, geruch- und farblose Flüssigkeit. Wenn aber das Wasser verdunstet, bleibt auf dem Grunde des Glases doch ein ganz blasser, kaum sichtbarer Nebel zurück. Ein hauchdünner Niederschlag. Und wenn ich nun tausendmal frisches Wasser in das Glas gieße und es immer verdunsten lasse, so vertausendfacht sich dieser Niederschlag. Beim millionsten Glas Wasser kann man diese feste Kruste wahrscheinlich schon zerbeißen. Ich gieße aber hundertmillionenmal frisches Wasser hinein. Und wenn das nicht genug ist, tausendmillionenmal. Einmal ist dann das Glas doch bis zum Rande mit steinhartem Niederschlag angefüllt.«

So war Sebfi. Das waren seine Zahlen: Hundertmillionen, Tausendmillionen. Das sagte er, wie ein anderer vier oder sechs sagt. Mit Millionen sparte Sebfi niemals – das konnte ihm sein Feind nicht nachsagen.

Als er mit seiner Darlegung fertig war, sah er Nikolaus stolz an. Er hatte das Gefühl, jetzt die große Hymne des unerschütterlichen, hartnäckigen Wollens gesungen zu haben …

Philister aber haben für derartige Hymnen wenig übrig. Ja, es gibt nüchterne Menschen, die beim Hören solcher Töne leicht wütend werden. Menschen, die das Leben ruhig und sachlich betrachten, die daran gewöhnt sind, Hindernisse entweder langsam zu erklimmen oder vorsichtig zu umgehen, und es einfach nicht ertragen, wenn irgendein Schwärmer von der Art Sebfis berauscht durch die Welt taumelt, alle Hindernisse einfach überrennen will oder mit selbstverständlicher Gelassenheit davon spricht, sie zu überfliegen. Hier liegt wahrscheinlich die Wurzel jener großen Gehässigkeit, die seit undenklichen Zeiten zwischen dem Philister und dem Bohémien besteht.

Nikolaus sah Sebfi fast verächtlich an. Dann aber erwachte in ihm das Mitleid. Ihm fiel die ungewöhnliche Lage ein, in die er geraten war, und er fühlte, daß er nun diesem trunkenen Träumer folgen müsse, wenn er nicht sich selbst beschuldigen wollte, unredlich vorzugehen. Hätte Risa ihm nicht das gesagt, was sie ihm gesagt hatte – er hätte Sebfi jetzt wahrscheinlich mit den Worten: »Lassen Sie mich endlich in Ruhe, ich hab' genug von dieser Geschichte!« abgeschüttelt. Nun aber gab es kein Zurück mehr.

Und dann – Gott allein, der ja auch in unsere Herzkammern hineinsieht, weiß, wie es kommt – im tiefsten Grunde jedes Männerherzens schlummert irgendein dankbares Gefühl für die Frau, die dem Manne einmal gestand, daß sie ihn liebe. Man könnte freilich sagen, dies sei nichts als Eitelkeit. Doch wozu sollen wir uns derart herabsetzen? Nein, es ist keine Eitelkeit. Ich bin einfach für einen warmen Blick, der mir geschenkt wird, auch ohne daß ich ihn erwidern kann, dankbar. Es ist so: Jemand, der mir gar nichts schuldig war, zahlte. Ein braver Mensch, ein guter Mensch. Und dann – sie liebt just mich! Eine Frau von gutem Geschmack!

»Gehen wir!« sagte Nikolaus.


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