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II.

Lenke war neun Jahre alt, als sie mit dem heiligen Gleichmut der Kinder zur Kenntnis nahm, daß der Sarg, den eben ein schwarzer Wagen weggeführt hatte, ihre Mutter enthalte. Und sie zählte dreizehn Jahre, als sie mit ihrem Vater die Eisenbahn bestieg, um in ein wohlrenommiertes Mädchenpensionat nach Dresden gebracht zu werden, aus dem kurz vorher Klara Redovsky, die Tochter des Gerichtspräsidenten, nach Hause gekommen war, die man seinerzeit unter ähnlichen Umständen nach Dresden gebracht hatte, wo offenbar ein großer Teil aller mutterlosen Töchter der Welt erzogen wird. Die saubere und ernste sächsische Hauptstadt ist solcherart ein großes Mädchenwaisenhaus. Tag für Tag kommen dort Väter an, die nicht das Talent in sich fühlen, ihre heranwachsenden Töchter richtig zu erziehen, und keine Verwandten besitzen, denen sie sie anvertrauen könnten; an ihrem Arm hängt je ein blasses, schüchternes Mädchen, das mit wettgeöffneten Augen in diese fremde Welt starrt, nicht recht versteht, was mit ihm geschieht, in der ersten Nacht viel weint und am Morgen sehr erschrocken ist, wenn es an der Wand neben dem Bett ein anderes Tapetenmuster erblickt als das gewohnte. Die Besitzer der großen Pensionate sind sich ihrer Verantwortung voll bewußt, wie schon ihr ernstes, strenges, bebrilltes Aussehen verrät. Sie wissen die Rolle der Ersatz-Mama mit großer Würde zu spielen und verwalten mit mütterlicher Sparsamkeit das Taschengeld, das die verlassenen Väter an jedem Ersten pünktlich einsenden.

Aus solch einem Pensionat kam Lenke Rimmer geradewegs in das Gefängnis, wo ihr Vater schon ein halbes Jahr vorher ein paar Sträflinge damit beauftragt hatte, aus einem kleinen Zimmer die Büromöbel zu entfernen und dieses Zimmer seither – obwohl seine Tochter noch lange nicht da war – »das Zimmer meiner Tochter« nannte. Der einsame, ernste Mann erwartete nun mit kindlicher Ungeduld sein kleines Mädchen, das er in all den Jahren immer nur einen Monat lang gesehen hatte, und zwar in Kecskemet, wo er seinen Sommerurlaub zu verbringen pflegte. Lenke kam stets direkt aus Dresden zu ihren Verwandten dorthin und traf zumeist am selben Tage ein wie ihr Vater. Der Gefängnisdirektor vermied es absichtlich, seine Tochter nach Budapest in sein Gefängnis kommen zu lassen, das Lenke bisher nie gesehen hatte, denn zur Zeit, als sie in das deutsche Pensionat gebracht wurde, war ihr Vater noch Gefängnisinspektor in einer kleinen siebenbürgischen Stadt gewesen, von wo er erst ein Jahr später nach Budapest in das alte Gefängnis versetzt wurde. Hier richtete er sich durchaus als Junggeselle ein. Er rechnete nicht damit, daß seine Tochter jemals längere Zeit hier verbringen könne. Sein Plan war, sie bis zu ihrem siebzehnten Jahr in Deutschland zu lassen, in welcher Zeit er, wie erwähnt, alljährlich einen Sommermonat mit ihr bei den Kecskemeter Verwandten zubrachte, und für die wenigen Monate, die sie dann noch bis zu ihrer Verheiratung bei ihm bleiben würde, wollte er ihr – in Gottes Namen – ein Zimmer seiner traurigen Behausung einrichten. Denn sein Plan reichte noch weiter. Er unterließ in keinem der Briefe, die er an Lenke schrieb, über das Vorwärtskommen eines gewissen jungen Mannes Erfreuliches zu berichten. Dessen kluge Aussprüche, Erfolge, wohlbestandene Prüfungen und Botschaften bildeten das ständige Thema der väterlichen Korrespondenz.

Nikolaus hatte die Staatsprüfung mit »Ausgezeichnet« abgelegt. Nikolaus war in eine ausgezeichnete Anwaltskanzlei eingetreten, Nikolaus hatte die Rechtsanwaltsprüfung mit solchem Erfolge bestanden, daß alle Großköpfigen ihm gratulierten und man beinahe die Stadt illuminiert hätte … das ging so in allen Briefen. In allen stand Nikolaus inmitten jener naiven, gütigen Beleuchtung, wie sie aus väterlichem Herzen auf den Mann strahlt, den die Tochter einmal liebgewinnen soll. Die Väter haben sich in dieser Hinsicht seit Jahrtausenden nicht geändert. Sie haben nichts dazugelernt und sind nicht klüger geworden. Sie halten auch heute noch dort, ihren Töchtern einen jungen Mann fast mit den gleichen Worten zu empfehlen, mit denen sie etwa einen alten Freund für irgendeine wichtige Stellung vorschlagen.

Lenke aber war noch so jung, daß sie diese Briefe verstand. Denn nur ganz alte Männer und sehr junge Mädchen schätzen bei einem jungen Mann den unerschütterlichen Ernst und die unentwegte Tüchtigkeit. Nur diese zwei Menschengattungen haben für das Temperament nichts übrig; die eine, weil sie es noch nicht kennt, die andere, weil sie es nicht mehr hat. So lebte Nikolaus Csathi in der Phantasie Lenkes als der ernsthafteste, gediegenste Mann der Welt, und wenn diese Illusion zuweilen vorübergehend blasser wurde, so half ihr der persönliche Eindruck, den Nikolaus machte, stets nach, da Nikolaus allsommerlich ebenfalls bei jenen Kecskemeter Verwandten zu Gast war.

Vier Jahre lang hatten sich diese Begegnungen wiederholt. Jedesmal war Nikolaus pünktlich am Tage nach dem Eintreffen Lenkes und ihres Vaters in Kecskemet erschienen und einen Tag nach ihrer Abreise wieder abgefahren.

Was hier zwischen den jungen Leuten vor sich ging, das zu erörtern, ist teils schwer, teils kaum der Mühe wert. Sie erlebten hier eben jene süßen und wunderbaren Gemeinplätze des Lebens, die im Herzen dennoch stärkere Resonanz finden als alle späteren großen Sensationen. Die Poesie dieser Nichtigkeiten ist ein spinnwebzartes Gebilde, eine wundervoll leise Melodie – ein Gebilde, das sich nicht berühren, eine Melodie, die sich nicht in Worte setzen läßt. Der längste Satz über diese Dinge schrumpft zu einem kurzen Seufzer zusammen. Und auch dieser Seufzer sagt nur dem etwas, der ihn seufzt. Ein anderer fühlt nichts dabei. Und im Grunde genommen sind das alles nur Kindereien, wie eben Dinge, aus denen man keinerlei Nutzen fürs Leben zieht. Sprechen wir also gar nicht darüber.

Das kleine Zimmer, in welchem Lenke sich nun einrichtete, und das dank der Gewissenhaftigkeit der Sträflinge so blitzblank und sauber war wie eine kleine Kapelle, sollte, wie wir wissen, nur ein vorübergehender Aufenthaltsort sein. Doch darüber sprach man nicht, das war so selbstverständlich wie das Essen und Trinken. Der Name Nikolaus kehrte in allen Gesprächen hundertmal wieder, wie der Name eines, der zum Hause gehört. Es war ein Name, dem längst keinerlei Reiz, keinerlei Geheimnis anhaftete; »Nikolaus« – das klang auf den Lippen der Tochter wie des Vaters nicht anders wie ein allzu oft gesungenes Lied, dessen Melodie nicht mehr an die Seele rührt. Denn auch die Musik ist solange am schönsten, solange wir sie nur halb kennen. Der allzu gut gekannte Mensch und das allzu oft gesungene Lied erleiden dasselbe traurige Los: Sie werden zur Gewohnheit. Der beste Inhalt unseres armseligen Lebens aber ist jene wundervolle und unvergleichliche Unruhe, mit der wir die Wendung einer Melodie erwarten, und mit der wir neuen Menschen und neuen Jahren ins Auge blicken …

Man hatte sich an Nikolaus genau so gewöhnt wie an den Gedanken, daß er Lenke heiraten werde. Der Vater sah diesem Ziel mit der ruhigen Freude des reifen Mannes entgegen und Lenke mit jenem Gefühl unwissender und gehorsamer Kinder, mit der Befriedigung darüber, sich brav, folgsam und ordentlich aufzuführen. Was nicht so viel besagen will, daß sie in Nikolaus pflichtgemäß verliebt war. Es gibt eben Kinder, die wirklich glücklich sind, wenn sie ihre Lektion erlernt haben, die noch so jung und unerfahren sind, daß sie ihr eigenes Glück mit den Maßen eines anderen Menschen messen, die zufrieden sind, wenn sie den Vater zufrieden sehen. Die sich noch nicht zur eigenen Kritik der Gefühle entwickelt haben. Solche Kinder – es gibt erwachsene Männer unter ihnen: die sogenannten musterhaften Beamten; auch verheiratete Frauen: die sogenannten unvergleichlichen Gattinnen – blicken immer erst fragend nach dem Gesicht eines anderen, wenn sie wissen wollen, ob sie glücklich sind.

So erfuhr auch die kleine Lenke Rimmer aus dem Gesicht ihres Vaters, daß sie eigentlich glücklich sei und Nikolaus liebe. Das war ihr genug, damit war sie zufrieden, mehr verlangte ihre kleine, farblose Seele vorläufig nicht. Und als sie im »Zimmer meiner Tochter« just auf einem Stuhl stand und mit großem Ernst einen Nagel in die Wand schlug, an dem das Bild Friedrich Schillers hängen sollte, das sie von der Frau Direktor in Dresden zum Andenken erhalten hatte, sagte sie mit dem natürlichsten Ton der Welt zu ihrem Vater, der die Verse eines Autographenfächers zu entziffern bemüht war:

»Weißt du … es ist nur, damit die Wand nicht gar so kahl bleibt … wenn ich auch im Herbst wieder ausziehe …«

Marie, die arme Verwandte, stand im Hintergrund und schüttelte mißbilligend den Kopf. Ihr Verwandtenherz hörte aus diesen Worten nur, daß sie es sein würde, die sich im Herbst mit den Lieferanten zanken müsse, während das junge Paar irgendwo in Italien umherlungere … Das war nachgerade ihre beste Freude: sich all jene Momente auszusuchen, die den wohlhabenden Verwandten erfreulich, ihr aber unangenehm waren. Sich gleichzeitig mit ihnen zu freuen, hätte sie gar nicht mehr fertig gebracht. Sie war es längst gewohnt, mit ihrer Freude wie mit ihrem Ärger allein zu sein, wobei sie sich in jedem Falle als Märtyrerin vorkam – und das wollte sie ja gerade.

»Was sagst du dazu, Marie?« fragte der alte Rimmer mit strahlendem Gesicht; »hast du gehört, was sie sagte?«

»Ja.«

»Sie zieht aus … im Herbst – und das sagt sie so ohne weiteres …«

Das Mädchen auf dem Stuhl lachte. Der Vater sah sie glücklich an.

»Also du willst mich wieder allein lassen? Und dazu lachst du noch?«

Plötzlich ließ sich Marie vernehmen:

»Na, was willst du – soll sie vielleicht weinen?«

Jetzt sahen beide Marie an und lachten sie aus, worauf diese sich umwandte, hinauseilte, die Türe zuschlug und im Vorzimmer draußen zu schluchzen begann. Nun war sie wieder einmal beleidigt – also glücklich.

Lenke aber faßte das Bild Schillers bei seinem goldenen Rahmen, lehnte es an die Wand, machte eine ernsthafte Verbeugung und sagte:

»Grüß dich Gott, Onkel Fritz!«


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