Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Amtszimmer des alten Rimmer, draußen im alten Gefängnis, gaben sich die Parteien die Tür in die Hand. Es waren die üblichen Besucher des Raumes, vorwiegend Rechtsanwälte, Gefängniswärter und Beamte. Aus dem großen Zimmer hörte man nacheinander die ungewöhnlich energischen Antworten des Direktors:
»Ist unmöglich!«
»Kann ich nicht gestatten!«
»Das verbiete ich!«
»Darauf lasse ich mich nicht ein!«
In jedem seiner Sätze war ein »Nein« enthalten, und jeder seiner Sätze klang hart und streng. Im Vorzimmer fragte einer den anderen: »Was hat der Alte heute?«
Die alten Gefängniswärter zuckten die Achseln. Niemals hatte einer von ihnen Rimmer in schlechter Laune gesehen. Immer war er umgänglich und sanft gewesen. Es mußte schon etwas Großes vorgefallen sein, was ihn so aus dem Häuschen brachte.
Gegen Mittag meldete sich Marie an der Tür des Amtszimmers. Ihre Anmeldung bestand darin, daß sie den bewaffneten Wärter einfach zur Seite schob. Dieser, längst an diese Form der Anmeldung gewöhnt, machte lächelnd Platz.
Als Marie eintrat, stand ein uniformierter Mann vor dem Direktor und beugte sich über den Schreibtisch, der mit großen Papierbogen bedeckt war. Es war der Wachtmeister, der die Abrechnungen brachte. Rimmer strich da und dort mit dem blauen Bleistift über die Rubriken, als er aber Marie erblickte, schob er die Papiere zusammen und fuhr den Wachtmeister an: »Es ist gut, Sie können gehen.«
»Aber bitte, Herr Direktor …«
Der Direktor warf ihm einen bösen Blick zu und erhob sich: »Kommen Sie nachmittags, jetzt habe ich anderes zu tun.«
Marie saß bereits auf einem alten, abgewetzten Armstuhl und machte ein Gesicht, das deutlich die Erwartung aussprach, den Uniformierten augenblicklich verschwinden zu sehen. Der Wachtmeister machte stramm kehrt, schritt zur Tür und warf ihr dabei einen Blick zu. Man konnte wahrhaftig nicht behaupten, daß die Gefängniswärter Marie liebten. Sie war so streng, so hart, so männlich, daß den einen und den anderen oft genug die Lust anwandelte, sie tüchtig zu verprügeln. Auch der Blick des Wachtmeisters drückte ungefähr diesen Wunsch aus. Gleich darauf aber hatte er respektvoll leise die Tür hinter sich geschlossen.
Rimmer trat auf Marie zu: »Nun, was hast du erreicht?«
»Manches.«
»Ist das Mädel da?«
(Das »Mädel« war dieselbe, die früher »meine Tochter« hieß.)
»Sie sitzt in ihrem Zimmer und weint. Sie hat sich eingesperrt, und als ich klopfte, öffnete sie nicht.«
»Warum?«
»Weil sie jetzt sehr böse auf mich ist.«
»Und?«
»Ich habe ihr ganz ruhig erklärt, daß ich die Tür erbreche, wenn sie nicht öffnet.«
Rimmer lächelte: »Aber, Marie!«
»Anders kann man ihr nicht beikommen. Ich hätte die Tür auch erbrochen, wenn sie dann nicht doch geöffnet hätte. Aber sie sprach kein Wort mit mir. Ich konnte fragen, was ich wollte, sie gab keine Antwort. Erst stand sie am Fenster und weinte auf den Hof hinaus, dann setzte sie sich nieder und weinte in den Tisch hinein. Aber da ich solche Sachen gut genug kenne, habe ich es mir überlegt, bin in die Stadt gefahren und bin auf eigene Faust vorgegangen.«
»Hast du mit Nikolaus gesprochen?«
»Ja.«
»Was sagte er?«
»Er ist verzweifelt, er beteuert, daß er nichts dafür könne, daß diese ganze Geschichte belanglos ist … Im übrigen wollte er nachmittags herauskommen.«
»Er kommt also?«
»Nein, er kommt nicht.«
»Warum?«
»Weil ich ihm sagte, er möge nicht kommen. In der Annahme, daß du damit einverstanden bist, sagte ich ihm, es sei der Wunsch von Lenkes Vater, daß er das Haus nicht früher betrete, als bis er gerufen wird. Ist es dir so recht?«
Der alte Herr antwortete nicht gleich. Er ging zwei-, dreimal durch das Zimmer, wobei er den Teppich anblickte und seinen Schnurrbart zwirbelte. Endlich seufzte er und sagte: »Du hast ganz recht, Marie. Ihr Frauen versteht so etwas doch besser. Wenn du nicht den Brief dieses närrischen Kerls gefunden hättest, so erfuhren wir überhaupt nichts, und Gott weiß, was dann noch alles geschehen wäre.«
Marie nahm die Anerkennung gleichmütig auf. Sie fuhr fort: »Dann habe ich auch mit diesem Narren gesprochen.«
»Was, wirklich? Wo hast du ihn gefunden?«
»Ich fragte herum … endlich wies man mich an irgendein Theater, dort lungerte er umher. Erst erschrak er sehr, denn er erkannte mich sofort. Dann aber stand er mir Rede und Antwort.«
»Nun, und was sagte er?«
Sie zuckte verächtlich die Achseln. »Er deklamierte.«
»Nun, und was deklamierte er?«
»Er spuckte schöne Worte … ich verstand nichts davon. Aber das muß ich sagen, er hat eine schöne Stimme.«
»Nun ja, aber sagte er denn gar nichts, was zur Sache gehört?«
»Er meinte, dieses verworfene Geschöpf habe Nikolaus den Kopf verdreht.«
Jetzt wurde es still. Das war es, worauf Rimmer gewartet hatte. Alles Bisherige war nur die unbedeutende Einleitung zu diesem einen harten Satz gewesen. Dieser Satz enthielt alles Wesentliche, all das, was, so peinlich und schmerzlich es auch sein mochte, klar ins Auge gefaßt werden mußte.
Der Alte setzte sich an seinen Schreibtisch zurück: »Und was geschieht jetzt?«
Marie sagte ruhig: »Irgend etwas wird schon geschehen.«
»Ich schreibe ihm einen Brief,« erklärte der Alte.
Marie erwiderte leise: »Tu das lieber nicht.«
»Dann werde ich mit ihm sprechen.«
»Auch davon würde ich abraten.«
Marie war jetzt sehr stolz. Endlich war für sie nach so vielen Demütigungen der Tag der Genugtuung angebrochen. Jetzt war sie hier das höchste Forum, sie der Feldherr, der den strategischen Plan entwarf, sie der Arzt des Familienfriedens, dessen man dringend bedurfte, dessen Rat man befolgen mußte. Mit einem Wort, sie war von heute auf morgen in dieser kleinen Familie die erste Person geworden, und sie hatte das Gefühl, daß gar nicht der alte Rimmer, sondern sie Direktor des Gefängnisses sei.
»Was denn soll ich tun?« fragte der alte Herr.
»Du sollst alles mir überlassen.«
»Und was wirst du unternehmen?«
»Ich werde mit jener Person sprechen.«
»Wann?«
»Noch heute. Übermorgen ist die Verhandlung. Alles in allem ist von dreihundert Gulden die Rede. Mein Plan ist der folgende: Ich werde mit ihr sprechen und auf diese Weise erfahren, ob diese ganze Liebesgeschichte ernst ist oder nicht. Ist sie nicht ernst, dann gehe ich einfach wieder weg und lasse den Dingen ihren Lauf. Ist sie aber ernst, dann werden wir mit dieser Dame verhandeln. Der Zuckerbäcker, den sie bestohlen hat, will die Klage nicht zurückziehen. Wir werden ihr also sagen, daß wir sie vor dem Gefängnis bewahren, daß wir die dreihundert Gulden erlegen und den Zuckerbäcker dazu bringen werden, die Klage zurückzuziehen. Als Gegenleistung aber hat sie sich zu verpflichten, sofort abzureisen und Nikolaus nie wieder unter die Augen zu treten.«
Rimmer sah erstaunt auf: »Wie? Du setzt also voraus, daß Nikolaus auch weiter ins Haus kommt? Nach all dem …?«
Marie erwiderte überlegen: »So ernst ist die Sache nun wieder doch nicht. Schließlich ist Nikolaus ein braver, anständiger Mensch, und wenn er nur will, so vergißt er die ganze Geschichte in einer Woche. Aber es ist nicht das allein …«
»Sondern?«
»Sondern wir dürfen gar nicht über seinen Kopf hinweg operieren … sonst geht Lenke daran zugrunde.«
Wieder sah Rimmer sehr erstaunt auf: »Was? Zugrunde …?«
»Jawohl: zugrunde. Verlaß dich darauf! Das verstehe wieder ich besser. Laß mich also auf eigene Faust handeln.«
Dem alten Herrn tat dieser militärisch entschiedene Ton wohl. Nur wer bereits in ähnlicher Lage war, wird verstehen, wie willkommen unter Umständen jemand ist, der schroff und entschieden vorzugehen versteht. Diese Entschlossenheit taugt mehr als der beste Rat und beruhigt die Seele des Schwankenden. Wer im Begriffe ist, seine Ruhe zu verlieren, dem wird ein kühler, kräftiger Ton und eine sichere Hand stets imponieren.
Rimmer sagte also dankbar: »Gott segne dich, Marie, du bist eine kluge, brave Frau. Ich lege also alles in deine Hände. Aber du versprichst mir, genauen Bericht zu erstatten?«
»Wenn du mir versprichst, mir von nun an in nichts dreinzureden.«
»Einverstanden!«
»Du versprichst mir also, daß du nicht ungeduldig werden und nicht einmal bei dir denken wirst, daß du als Mann diese Dinge doch besser verstehst als ich alte Frau?«
»Gut, auch das verspreche ich dir, Marie.«
»So, dann wäre alles in Ordnung. Sei also ganz ruhig. Und jetzt …«
»Jetzt gehen wir essen.«
»Nein. Schick' Lenke das Essen in ihr Zimmer und iß allein! Stör' sie nicht!«
»Und du?«
»Ich werde im Restaurant Jaulus vier Gänge für dreißig Kreuzer zu Mittag essen.«
»Warum denn?«
»Weil ich dort jenen närrischen Kerl treffe. Mit ihm gehe ich dann ins Untersuchungsgefängnis und spreche mit der Dame …«
Von Sebfi sprach man hier stets nur als von dem »närrischen Kerl«. Aber wer da glaubt, daß Sebfi hierüber gekränkt gewesen wäre, der kennt Sebfi nicht. Im Gegenteil: er hätte sich etwas darauf eingebildet. Ein närrischer Kerl zu sein, war in seinen Augen schön und rühmlich. Jedenfalls rühmlicher, als zur grauen Menge der Gleichgültigen und Unbedeutenden gezählt zu werden, wovon er vielleicht auch deshalb überzeugt war, weil er letzten Endes doch fühlte, daß er ein wenig närrisch sei.
Die beiden gaben sich die Hand. Marie sagte noch: »Bereite Geld vor!«
»Wieviel?«
»Jedenfalls dreihundert Gulden. Vielleicht auch noch weitere fünfzig, man kann nicht wissen. Vielleicht begleitet der Närrische die Dame bei ihrer Abreise, damit sie nicht ohne Garde reise … was ganz gut wäre, denn dann weiß man wenigstens, daß sie nicht auf dem Bahnhof kehrt macht …«
Rimmer war entzückt: »Großartig … du denkst auch an alles!«
Marie verließ mit ruhigem Stolz das Zimmer, wie jemand, der seiner Sache sicher und durchdrungen davon ist, alle Einzelheiten der Lage vollkommen zu erkennen und zu verstehen: die momentane Gefühlsverirrung von Nikolaus, das ekstatische Aufflammen Sebfis und das berechnende Raffinement des eingesperrten Mädchens.
So wenigstens sah sie die Lage an. Und sie gehörte zu jenen, die zu ihrem Blick und ihrer Auffassung das vollste Vertrauen haben. Als sie das Gittertor des Gefängnisses hinter sich schloß, hatte sie das Gefühl, als sei sie imstande, dieses ganze elende Menschengekribbel mit all seinem Jammer und all seinen Verwicklungen einfach in die Tasche zu stecken.