Oskar Meding
Der Todesgruß der Legionen
Oskar Meding

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Siebentes Capitel.

Die unruhige Bewegung auf den Straßen von Paris hatte ein wenig nachgelassen, dennoch sah man in den Abendstunden eine größere Menge als sonst auf den hell erleuchteten Boulevards hin- und herziehen. Man sah noch einzelne von jenen Gestalten, welche man sonst nicht zu bemerken pflegte und welche einzeln oder zu Zweien oder Dreien ruhig einhergingen, finstern Blickes die Spaziergänger betrachtend und zahlreich genug, um im gegebenen Moment und auf ein gegebenes Signal eine Zusammenrottung zu bilden.

Die sergeants de ville standen in verstärkter Zahl an den Straßenecken, und so wie irgend eine Stockung des Verkehrs eintreten zu wollen schien, ersuchten sie das Publikum höflich, aber bestimmt, weiter zu gehen.

Die Gruppen vor den Kaffeehäusern, welche dort bei ihrem Glas Bier von Dreher, bei ihrem Grog américain oder bei ihrem Glase Cognac trotz der noch kalten frischen Luft im Freien saßen, sprachen lebhaft, doch ohne daß man eine besonders bedenkliche Aufregung hätte bemerken können.

Der allgemeine Eindruck war, daß die Bewegung, welche durch die Verhaftung Rocheforts hervorgerufen worden, vorüber sei, und daß dieselbe weiter keine Consequenzen haben werde. Man war allgemein zufrieden mit dem Verfahren des Kaisers, welcher nur im Falle des äußersten Widerstandes das Militair hatte einschreiten lassen, und die Popularität Napoleon III. war durch seine persönliche Fahrt über die Boulevards und durch die unruhigsten Stadttheile sehr bedeutend gestiegen. Man hatte von Neuem gesehen, daß der Kaiser sich nicht fürchte, und nur der Souverain kann Frankreich beherrschen, über welchen die Furcht keine Macht hat.

Vor einem der Cafés auf dem Boulevard des Italiens saßen an einem kleinen Tische mehrere Officiere der hannöverschen Legion und suchten den unangenehmen Einfluß des nebelhaften feuchten Wetters durch einige Gläser norddeutschen Punsches zu bekämpfen, den sie sich nach ihrer Anweisung von dem Garçon hatten bereiten lassen, der ein gewisses Erstaunen über die sehr unbedeutende Rolle nicht unterdrücken konnte, die dem heißen Wasser gegenüber dem Arac in diesem Getränk zugewiesen war.

An der Mitte des Tisches saß ein wenig zusammengebückt auf einem hölzernen Stuhl der Major von Düring, eine kleine schmächtige, aber nervöse und muskelkräftige Gestalt. Das schmale, scharf markirte und bleiche Gesicht mit dem starken, spitz gedrehten, blonden Schnurrbart und den lebhaften, graublauen Augen drückte muthige Entschlossenheit und feine Intelligenz aus. Der hohe schwarze Hut war ein wenig in den Nacken gedrückt und ließ die stark gewölbte Stirn zur Hälfte frei.

Er hüllte sich ein wenig fröstelnd in seinen Überrock und trank in kleinen Zügen das heiße dampfende Getränk, welches vor ihm stand.

»Ich sage,« sprach Herr von Düring, nachdem er längere Zeit schweigend in das Treiben der Vorübergehenden geblickt und, indem er sich zu dem neben ihm sitzenden Premierlieutenant von Tschirschnitz wandte, einem großen, schlanken, jungen Manne, dessen Gesicht mit starkem vollem Bart freimüthige Offenheit ausdrückte, »ich sage Euch, die Sache wird sehr schlimm werden und unsere Aussicht auf die Zukunft ist wahrlich nicht rosig.«

»Das bemerkte schon jener Unterofficier,« erwiderte Herr von Tschirschnitz mit einem gewissen trockenen Humor, »welcher bei einer Zusammenkunft unserer Leute die kurze und schlagende Rede hielt: Nummer Eins, – Zweitens – ad Drei – um kurz von der Sache zu sein – wir sehen einer schaudervollen Zukunft entgegen.«

Alle lachten.

»Ich begreife nicht,« sagte Herr von Düring, schnell wieder ernst werdend, »wie Ihr noch Lust zu scherzen haben könnt! Die Lage ist doch wahrhaftig ernst genug. – Ich will von uns gar nicht sprechen, aber alle diese armen Leute, für die wir doch mit verantwortlich sind, sie können noch weniger wie wir sich eine andere Existenz und eine andere Lebensstellung schaffen, wenn man sie einfach mit einer kleinen Summe in der Tasche in die Welt hinaus schickt.«

»Warum sollte ich den Humor verlieren,« erwiderte Herr von Tschirschnitz mit heiterm Ton, durch welchen jedoch eine gewisse tiefe Bitterkeit hindurchklang, »ich bin ja jetzt Generaladjutant geworden und habe die Legion zu commandiren – ich habe den panache. – Es ist wahrhaftig ganz wie in der ›Großherzogin von Gerolstein‹; ich glaube nicht, daß meine Herrschaft lange dauern wird und dann kann ich mit Euch zusammen Schulmeister werden. Jetzt aber« – er schlug die Arme untereinander, blickte Herrn von Düring mit komischem Blinzeln der Augen an und sagte, die Worte des Fritz aus der grande-duchesse citirend –

»Mauvais général.«

»Wenn der panache an mich kommt,« sagte der Lieutenant Götz von Ohlenhusen, ein noch ganz junger Mann mit hübschem, etwas phlegmatischem Gesicht, indem er einen langen Zug aus seinem Glase that, »wenn der panache an mich kommt, ich werde ihn nicht annehmen.«

»Seid ruhig,« erwiderte Herr von Tschirschnitz, »bis er an Euch kommt, wird er schon so zerpflückt sein, daß keine Feder mehr daran ist, doch nun,« fuhr er ernst fort, »ganz aufrichtig gesprochen, ich glaube wirklich nicht, daß die Sache so schlimm ist. Es ist ja ganz richtig, daß alle möglichen Intriguen den König umlagern, aber Er ist doch ein Herr von edelster Gesinnung und hohen ritterlichen Gefühlen; wenn er unsere Vorstellungen hört, so wird er jedenfalls noch einmal über die Sache nachdenken. – Wir wollen ja durchaus dasselbe, wie er, wir wollen ja, daß seine schon so belastete Kasse von dieser großen Ausgabe für die Legion befreit werde, nur wollen wir das in einer Weise machen, daß die armen Leute nicht rath- und hilflos ihrem Schicksal preisgegeben werden, sondern daß sie im Zusammenhang untereinander der Sache des Königs erhalten bleiben. Will der König die Vertheidigung seines Rechtes fortsetzen, so muß er sich doch Diejenigen, welche sich ihm dazu zur Verfügung gestellt haben, auf irgend eine Weise erhalten, und daß kann nur hier auf neutralem Boden geschehen, wo sie Schutz finden. Will er aber sein Recht aufgeben – nun das ist ja seine Sache. Und vielleicht,« fügte er seufzend hinzu, »wäre es bei der Art und Weise, wie sie gehandhabt wird, das Beste. Dann soll man wenigstens für die Emigranten straffreie Rückkehr nach ihrer Heimath erwirken. Das Alles muß doch dem König einleuchten, er muß sich ja doch überzeugen, daß wir, die wir ihm unsere Treue durch die That bewiesen haben, wahrlich nicht ohne Grund gegen seine Befehle demonstriren.«

»Glaubt Ihr denn,« fragte Herr von Götz, »daß dem Könige unsere Vorstellungen zur Kenntniß kommen? – Glaubt Ihr denn, daß er Mengersen und Heyse empfangen und hören wird?«

»Das glaube ich gewiß!« rief Herr von Tschirschnitz mit festem Ton. »Ich glaube nicht, daß Jemand es wagen würde, dem Könige Etwas zu verheimlichen oder etwas Unrichtiges vorzutragen. Das wäre doch in der That eine zu große Nichtswürdigkeit.«

Herr von Düring schüttelte langsam den Kopf.

»Mir sind in der letzten Zeit,« sagte er, »in dieser Beziehung sehr erhebliche Zweifel aufgestiegen. Schon seit längerer Zeit erhalte ich auf verschiedene Berichte, die ich über die Verhältnisse der Legion nach Hietzing gesandt, Antworten, die durchaus nicht auf das passen, was ich geschrieben habe und welche nur dann einen Sinn haben, wenn meine Berichte vollständig mißverstanden wären, was doch bei der klaren Fassung derselben und bei dem feinen Verständniß des Königs kaum möglich ist.«

»So haltet Ihr es für möglich,« rief der Lieutenant von Harling, ein junger, dunkel brünetter Mann mit feurigen, schwarzen Augen, »so haltet Ihr es für möglich, daß dem Könige Etwas falsch vorgelesen oder Etwas verschwiegen würde?«

»Ich will keine bestimmte Meinung aussprechen,« sagte Herr von Düring, »ich constatire nur die Thatsache, daß die Antworten, welche ich aus Hietzing erhalte, absolut auf meine Berichte nicht passen, daß sogar in einigen dieser Antworten mir ausdrücklich Äußerungen untergelegt werden, die ich niemals gemacht habe.«

»Es wäre doch vielleicht besser gewesen,« sagte Herr von Harling, gegen den Major von Düring gewendet, »wenn Sie oder Herr von Tschirschnitz nach Hietzing gegangen wären. Ich weiß nicht, ob Mengersen und Heyse unsere Sache richtig führen werden. Mengersen spricht etwas viel und Heyse ist etwas bescheiden und zurückhaltend.«

»Ich sollte nach Hietzing gehen,« rief Herr von Düring lebhaft, »nach der Behandlung, die man mir hat widerfahren lassen, nachdem man mich ungehört auf die schnödeste und rücksichtsloseste Weise meiner Funktionen enthoben hat, deren Führung doch wahrlich unter diesen Verhältnissen ein Act besonderer Hingebung gegen den König war, niemals!« rief er. »Ich will nur noch meine Geschäfte ordnungsmäßig übergeben, will so viel ich kann für das künftige Schicksal der Leute sorgen, und dann wende ich unserer verlorenen Sache, welche ein so trauriges Ende nimmt, für immer den Rücken. Ich werde keine Mühe und Arbeit scheuen, um mir eine Stellung zu erwerben, und ich hoffe auch, daß mir das gelingen wird. In der Türkei braucht man Officiere, der Vicekönig von Ägypten sucht Instructeure für seine Armee. Ich kenne die orientalischen Verhältnisse einigermaßen durch meine Dienstzeit in Algier, und ich hoffe, dort meinen Platz zu finden.«

»Oh, warum habe ich meine Compagnie in Sachsen im Stich gelassen,« rief Herr von Tschirschnitz seufzend, »die man mir ganz fertig anbot, gerade in dem Augenblick, als die Emigration nach Holland in's Werk gesetzt wurde. Ich lebte dann heute ruhig und friedlich, hätte die Aussicht auf eine vortreffliche Carrière und hätte nicht nöthig, diese traurige Erfahrung über die Undankbarkeit der Fürsten zu machen.«

Ein rasch vorüberschreitender kleiner Mann von etwa vierzig Jahren in einem dunklen Paletot und einen etwas in die Stirn gedrückten Hut auf dem Kopf, blieb plötzlich stehen und näherte sich den Officieren. Sein Gesicht von Intelligenz und Schlauheit und von beweglichem Mienenspiel hatte jene helle, weiß und rothe Färbung der nordländischen Race. Ein Gürtel von dichten Sommersprossen, welche in dieser Jahreszeit weniger scharf hervortraten, lief über seine spitze, etwas hervorspringende Nase hin, seine kleinen, hellblauen, scharfen Augen blickten scharf und beobachtend umher.

Freundlich erwiderten die Officiere seinen Gruß, als er an ihren Tisch trat.

»Ich begreife nicht, meine Herren,« sagte er, »wie Sie es aushalten können, in dieser Kälte hier auf der Straße zu sitzen, dazu muß man ein geborner Pariser sein, welcher gar kein Maß und keine Empfindung für die Grade der Kälte hat. Ich für meine Person friere hier mehr, als ich es je in meinem nordischen Vaterlande gethan habe und kann mich nicht dazu verstehen, mich im Winter in's Freie zu setzen.«

»Sie sehen so vergnügt aus,« sagte Herr von Tschirschnitz zu dem bekannten dänischen Journalisten und Agitator für die Sache Dänemarks, Herrn Hansen, »haben Sie Aussicht, daß der Artikel V. des Prager Friedens endlich ausgeführt wird?«

Herr Hansen wehrte mit der Hand ab.

»Sprechen Sie mir nicht davon,« sagte er halb lächelnd, halb mißmuthig, »dieser Artikel V. ist eine Schraube ohne Ende, an welcher man fortwährend dreht, welche aber niemals weiter kommt. Was habe ich mir für Mühe gegeben, daß dieser Artikel in den Prager Frieden aufgenommen werden möchte. Nun ist es geschehen, und meine Landsleute sind so weit wie sie waren. Man hat ja hier nicht einmal die Courage, ein lautes Wort für unser Recht zu sprechen, geschweige denn wird man jemals Etwas dafür thun.«

»Glauben Sie denn, daß die Schwachheit und Unthätigkeit,« fragte Herr von Düring, »mit welcher die Regierung hier gegenwärtig zu verfahren scheint, ewig dauern wird? Ich sehe,« fuhr er fort, »daß in militairischen Kreisen eine große Thätigkeit herrscht, und man thut dort überall so, als ob eine mächtige Action unmittelbar vor der Thüre steht.«

»Bah,« sagte Herr Hansen, »das weiß ich nicht, danach müssen Sie Nélaton fragen.«

»Nélaton?« fragte Herr von Tschirschnitz etwas erstaunt, »macht der Doctor Nélaton jetzt die Politik?«

»Er kann wenigstens allein wissen,« erwiderte Herr Hansen, »ob und wann der Kaiser im Stande sein wird, überhaupt wieder Politik zu machen. Wenn man jetzt wissen will, was geschehen wird, so muß man nicht die Minister, sondern die Leibärzte fragen. Sehen Sie doch die Zeitungen an,« sprach er weiter, »die wichtigsten Mittheilungen darin sind die Nachrichten über das Befinden des Kaisers. Das ist das Zeichen der Zeit. Die öffentliche Meinung fühlt sehr gut, wo der Schwerpunkt des politischen Lebens liegt, und wo jede thätige Action den Stein des Anstoßes findet.«

»Doch,« fuhr abbrechend fort, »sagen Sie mir, ist es wahr, daß der König von Hannover seine Legion auseinander schicken und seine Sache aufgeben wird?«

Die Officiere blickten mit einer gewissen Verlegenheit zu Boden.

»Die Unterhaltung der Legion wird auf die Dauer zu kostspielig,« sagte Herr von Düring, »in der bisherigen Weise wird sie kaum weiter gehalten werden können. Sie wissen ja, daß man das Vermögen des Königs confiscirt hat, und daß ihm nur wenig übrig bleibt.«

Herr Hansen schüttelte den Kopf.

»Die einfache Auflösung der Legion,« sagte er, »nachdem sie so lange gehalten ist und so viel Geld gekostet hat, wäre ein großer Fehler. Früher oder später wird ja doch die große europäische Katastrophe zum Ausbruch kommen. Wenn der König überhaupt noch handeln will, so muß er die Mittel dazu in Händen behalten.«

»Nun,« sagte er, »wir sehen uns ja wohl heute Abend noch bei Herrn Meding, ich will jetzt einen Augenblick den Salon von Herrn Thiers besuchen, dessen Empfangstag heute ist. Au revoir, meine Herren.«

Rasch schritt der kleine, lebhafte Mann weiter, durchschnitt mit großer Geschicklichkeit die dichte Menschenmasse auf den Boulevards, wandte sich dann in die Rue du Faubourg Montmartre und erreichte nach kurzer Zeit den Platz St. George mit der kleinen Fontaine in der Mitte. An der einen Eckseite desselben, durch ein hohes, eisernes Gitter von der Straße getrennt, lag das von Bäumen umgebene kleine Hotel des Herrn Thiers. Im Garten desselben dehnte sich der sprichwörtlich gewordene, wunderbar schöne und sorgfältig gepflegte Rasen aus, auf dessen grüner Fläche das Auge des berühmten Geschichtsschreibers der Revolution und des Kaiserreichs während seiner Arbeiten mit besonderem Wohlgefallen zu ruhen pflegte.

Einige Coupés hielten vor dem Eingangsthor. Herr Hansen schritt durch den etwas auswärts führenden breiten Weg zu der innern Hausthür hin, trat in einen kleinen, matt erleuchteten Vorplatz, wo ein Kammerdiener im schwarzen Anzug ihm den Überrock abnahm und dann die Thür des Salons öffnete, indem er mit lauter Stimme den Namen des Eintretenden hineinrief.

Die beiden, nicht großen Salons des früheren Ministers Louis Philipp's waren mit einer anspruchslosen Einfachheit möblirt. Der einzige Schmuck derselben bestand in äußerst werthvollen antiken Kunstwerken, welche auf kleinen Consolen und Tischen in den Ecken standen und in wenigen Ölgemälden vorzüglicher Meister.

Es waren nur erst wenige Personen in diesen Salons. In dem ersten Zimmer standen einige Herren in eifrigem, aber etwas leise geführtem Gespräch beisammen. In dem zweiten, etwas matter erleuchtetem Salon saß auf einem Canapée vor einem kleinen Tisch Madame Thiers, eine schlanke, magere und etwas steife Gestalt mit einem fein geschnittenen blassen Gesicht von kaltem, beinahe strengem Ausdruck, der jedoch in der Unterhaltung durch eine angenehme, herzliche und gewinnende Freundlichkeit gemildert wurde. Sie war das Bild einer einfachen bürgerlichen Hausfrau, nicht nur in ihrer Haltung und ihren Bewegungen, sondern auch in ihrer Gesprächsweise, obgleich sie es zuweilen verstand, mit großer Feinheit und scharfem, geistvollem Urtheil an der Unterhaltung über die ernstesten Gegenstände der Politik oder der Wissenschaft Theil zu nehmen.

Neben ihr saß Fräulein Dosne, ihre Schwester, nicht viel jünger als sie und ihr unverkennbar ähnlich, obwohl ihre ganze Erscheinung weniger bedeutend, weniger sicher und noch mehr kalt und zurückhaltend war.

Beide Damen trugen einfache Toiletten von schwarzer Seide und kleine hellblaue Bandschleifen und waren mit einer Tapisseriearbeit beschäftigt.

In einiger Entfernung von dem Tisch, vor welchem sie saßen und auf dem eine große Moderateurlampe mit dunkelblauem, flachem Glasschirm brannte, saß in einem großen Lehnstuhl fast verschwindend, der berühmte Staatsmann, welcher lange Zeit das parlamentarische Leben Frankreichs beherrscht hatte und dessen constitutionelles Wechselspiel mit Herrn Guizot einst den Mittelpunkt des Interesses Europa's bildete.

Seine kleine, fast zwerghafte Gestalt war grade aufgerichtet gegen die hohe Rücklehne seines Sessels gestützt; die beiden Arme lagen auf den Seitenlehnen, der Kopf war ein wenig herabgesunken, und das Kinn begrub sich fast in den Falten seiner hohen, blendend weißen Halsbinde. Das runde, sonst so bewegliche Gesicht mit der unter den abwärts gekämmten, weißen Haaren scharf hervortretenden, hoch gewölbten Stirn, der feinen Nase und dem breiten, fast immer halb gutmüthig, halb sarkastisch lächelnden Munde, – dies Gesicht, welches sonst den reichen Redestrom des gelehrten Doctrinärs mit so ausdrucksvollem, bewegtem Mienenspiel begleitete, – war unbeweglich und still. Die Augen, welche sonst so scharf und fein und so wohlwollend freundlich zugleich blickten, waren geschlossen. – Herr Thiers schlief, wie er stets nach Tische zu thun pflegte, und es war ein still schweigendes Übereinkommen unter allen Besuchern dieses einst so glänzenden, in der Kaiserzeit mehr und mehr vereinsamten Salons, den Schlaf des alten Herrn nicht zu stören.

Herr Hansen trat mit leisem Schritt in den zweiten Salon, grüßte Madame Thiers und Fräulein Dosne mit schweigender Verbeugung, welche die Damen ebenfalls schweigend mit liebenswürdiger Artigkeit, aber mit einem leichten Seitenblick nach dem Lehnstuhl des Herrn Thiers erwiderten und zog sich dann wieder in das erste Zimmer zurück.

Er näherte sich einer Gruppe von Herren, welche sich in der Nähe des Fensters mit einander unterhielten.

In der Mitte derselben befand sich Herr Weiß, der frühere Redacteur des Journals de Paris, jetzt Staatsrath und Generalsecretair in dem neu errichteten Ministerium der schönen Künste, welches Herr Ollivier für seinen Freund Maurice Richard geschaffen hatte, und für welches man sich bemühte, aus verschiedenen Ressorts einen Geschäftskreis herzustellen.

Herr Weiß, ein mittelgroßer, schmächtiger Mann mit blassem, geistig belebtem Gesicht von mehr feinen, als männlich kräftigen Zügen, in seiner ganzen Haltung ein wenig an einen deutschen Professor erinnernd, sprach mit dem Herzog Audiffret-Pasquier und dem Historiker Mignet über die neue Entwicklung des Kaiserreichs.

»Ich fürchte,« sagte Herr Mignet, »daß die Überführung der so ausschließlich persönlichen Regierung, welche wir bis jetzt gehabt haben, in die constitutionelle Form nicht ohne ernste Erschütterung vorübergehen kann, – nicht nur, daß der ganze Constitutionalismus den Traditionen und den Grundprincipien des Napoleonischen Kaiserreichs wesentlich widerspricht – es ist auch eine Erfahrung, welche unsere Geschichte deutlich zeigt, daß die französische Nation nicht besonders geeignet ist für allmälige und vermittelnde Übergänge. Das System, welches man jetzt inaugurirt, beruht in der Vertretung des öffentlichen Willens durch Repräsentanten, welche nach bestimmten, gesetzlich geregelten Grundsätzen aus den verschiedenen Klassen des Volkes hervorgehen, und unter denen natürlich die Vertreter der Intelligenz und des Besitzes den bedeutendsten Einfluß für sich in Anspruch nehmen. Dadurch bildet sich das Leben der Parteien aus. Die Aufgabe der Regierung ist es, durch die Herstellung des Gleichgewichts zwischen den Parteien die öffentlichen Angelegenheiten zu führen. Das Kaiserreich aber basirt wesentlich auf dem Volkswillen ohne eine gesichtete Vertretung, auf der noch unklaren, aus wechselnden Gefühlen und Stimmungen sich bildenden Majorität der Massen. Hier stehen sich nur die Autorität und die Masse gegenüber, welche entweder vereint herrschen oder sich mit Gewalt gegen Gewalt bekämpfen müssen. Es ist eine schwere Arbeit, welche das jetzige Ministerium übernommen hat, diese beiden, so weit aus einander liegenden, ja sich fast scharf gegenüber stehenden Prinzipien mit einander zu versöhnen, und auf dem Boden des Cäsarismus ein constitutionelles Staatsleben erwachsen zu lassen.«

»Eine Aufgabe,« rief der Herzog Audiffret, »bei welcher das Ministerium sicher auf den Beistand jedes guten Franzosen, jedes freisinnigen und klar denkenden Mannes rechnen kann –«

»Und eine Aufgabe,« fiel Herr Weiß mit seiner leisen und etwas monotonen Stimme ein, »an deren Erfüllung ich glaube und zu der jedenfalls die Regierung und Alle, die ihr angehören, den besten und redlichsten Willen mitbringen. Auch glaube ich nicht,« fuhr er fort, »daß die Schwierigkeit derselben so groß ist, als sie Herrn Mignet erscheint. Ich glaube, daß gerade das constitutionelle System das einzige ist, nach welchem Frankreich auf die Dauer regiert werden kann. Der Kampf der Parteien in der Arena der Kammern giebt allen Ansichten Raum, um sich geltend zu machen, und dadurch wird am sichersten ein gefährlicher Ausbruch der einen oder der andern extremen Richtung vermieden. Außerdem soll das constitutionelle System das Land vor unüberlegten und gefährlichen Actionen nach Außen bewahren, zu dem Cäsarismus und der Demokratie am Meisten neigen, denn sowohl die Massen des Volkes, als ein allmächtiger Selbstherrscher sind von persönlichen und augenblicklichen Eindrücken in besonders hohem Grade abhängig. Beide neigen zur Tyrannei, bei Beiden liegt die Gefahr eines gefährlichen Spieles mit der nationalen Kraft und dem Nationalwohlstand. – Ich glaube nicht, daß unter einer constitutionellen Regierung, wie wir sie jetzt anbahnen, eine mexikanische Expedition möglich sein würde. Was übrigens die Verbindung der Napoleonischen Tradition mit dem constitutionellen System betrifft, so macht sich dieselbe nach meiner Überzeugung sehr leicht, so bald nur eben von Seiten des Kaisers, wie das jetzt der Fall ist, offen und frei die Verständigung mit den verfassungsmäßigen Repräsentanten der Nation erstrebt und gesucht wird.«

»General Changarnier und der Herzog von Broglie,« rief der Kammerdiener in den Salon und neben einander traten der Repräsentant des alten französischen Adelsgeschlechts in seiner vornehmen, eleganten Haltung und der greise General des Julikönigthums herein.

General Changarnier war trotz seiner vom Alter gebrochenen Haltung eine etwas noch militairisch kräftige Erscheinung. Der Ausdruck seines ernsten würdevollen Gesichts mit dem weißen Bart und Haar war einfache natürliche Offenheit, – seine klaren, etwas tief liegenden Augen blickten ruhig und nachdenklich, seine Bewegungen waren von schlichtester und ungesuchtester Natürlichkeit.

Die beiden Eintretenden wandten sich nach dem zweiten Salon.

Herr Thiers hatte bei der Nennung ihrer Namen leicht mit den Augen geblinzelt, dann dieselben ganz geöffnet und sich von seinem Stuhl erhoben. Sein Gesicht nahm sofort die demselben eigentümliche ausdrucksvolle Beweglichkeit an, – mit schnellen Schritten näherte er sich der Eingangsthür und begrüßte mit vertraulicher Herzlichkeit den Herzog und den General, welche darauf den Damen des Hauses ihre Complimente machten.

Der Herzog von Broglie setzte sich neben Madame Thiers, während deren Gemahl seine Hand leicht auf den Arm des Generals Changarnier legte, und indem er von unten zu demselben hinaussah, mit seiner ausdrucksvollen, etwas scharfen Stimme sprach:

»Ich habe Sie lange nicht gesehen, mein alter Freund, Sie machen sich selten, das ist nicht gut. Man wird alt, wenn man sich von der Gesellschaft zurückzieht.«

»Ich habe nicht nöthig, alt zu werden,« sagte der General einfach, »ich bin es schon und habe kaum eine Gemeinschaft mit der heutigen Welt mehr. Mein Leben liegt in der Erinnerung an die Vergangenheit.«

»Sie haben Unrecht, mein Freund,« erwiderte Herr Thiers, »man gehört immer dem Leben und der Gegenwart an, so lange man athmet. Die Erinnerungen sind nur dazu da, um uns die Gegenwart besser verstehen zu lassen. Darin liegt das Übergewicht, welches ein alter Kopf über die gegenwärtige Generation hat, wenn er eben nur durch die Jugendfrische des Herzens und der Empfindungen unterstützt ist.«

»Dazu gehören aber auch,« sagte der General seufzend, »gesunde Nerven und ein gesunder Magen. Beides habe ich nicht in dem Maße wie Sie.« –

»Weil Sie daran denken,« rief Herr Thiers, »wenn man nie an die Krankheit denkt, so räumt man ihr keine Macht über uns ein. Unser schlimmster Feind ist die Unthätigkeit. – Ich habe mich immer durch die Thätigkeit jung und frisch erhalten; nachdem ich aufgehört habe Staatsmann zu sein, bin ich wieder Schriftsteller geworden. Und dadurch halte ich mich im Stande,« fügte er lächelnd hinzu, »wenn es einmal nöthig sein sollte, wieder Staatsmann zu werden.«

»Ein Militair,« sagte der General achselzuckend, »kann sich seine Thätigkeit nicht willkürlich suchen. Wir stehen auf einem exclusiv abgeschlossenen Gebiet, und wenn uns dies Gebiet verschlossen wird, so bleibt uns nichts übrig als die Reflexion und die Erinnerung.«

»Ein Gebiet, das eine Zeit lang verschlossen war, kann sich aber wieder öffnen. Es scheint ja, daß Frankreich jetzt zu besseren Zuständen übergeht und daß eine Reihe seiner besten Söhne nicht mehr von aller patriotischen Thätigkeit ausgeschlossen werden sollen. Es kann ja auch – und ich hoffe es – die Zeit wieder kommen, in welcher Ihr Degen noch einmal dem Vaterlande große Dienste zu leisten berufen sein wird.«

Der General lächelte bitter.

»Unter der Herrschaft dieses Kaisers Napoleon III.? sagte er – Sie scherzen.«

»Warum?« fragte Herr Thiers, »man muß in der Politik niemals die Person in Betracht ziehen, sondern immer nur die Dinge und die Verhältnisse; und dem Vaterlande zu dienen ist immer edel und gut, welche Person dasselbe auch an seine Spitze gestellt haben mag. Wenn der Kaiser Napoleon nach gesunden und richtigen Prinzipien zu regieren sich entschließen kann, so würde ich keinen Augenblick Bedenken tragen, seine Regierung zu unterstützen, obwohl ich doch wahrlich auch – nicht dafür bezahlt bin, ihn zu lieben –,« sagte er lächelnd.

»Kann dieser Kaiser überhaupt nach gesunden Prinzipien regieren?« fragte Changarnier, indem ein bitterer Ausdruck auf seinem sonst so freundlich wohlwollenden Gesicht erschien. »Kann man das Vertrauen zu ihm haben, daß er die Principien, welche er ausspricht, auch wirklich zur Richtschnur seiner Handlungen macht?

»Nun,« sagte Herr Thiers, »er hat uns Beide schlecht genug behandelt, aber ich muß gestehen, daß ich auf dem Wege, den er jetzt eingeschlagen hat, gern bereit bin ihn zu unterstützen.«

»Er hat,« sprach der General, »Ihr Vertrauen nicht in dem Maße getäuscht wie das meinige. Ich werde es nie vergessen und ihm nie verzeihen, wie er vor dem Staatsstreich meine Arglosigkeit benutzt hat, um jeden Widerstand gegen jenes Attentat unmöglich zu machen. –

»Er ließ mich,« fuhr er fort, während Herr Thiers ihn fragend und erwartungsvoll anblickte, »wenige Tage vor dem 2. December in sein Cabinet in dem Palais Elysée rufen und unterhielt sich eingehend und anscheinend mit großer Offenheit mit mir über die damalige Lage Frankreichs. Er betonte die Notwendigkeit, in die unmittelbare Nähe von Paris diejenigen Truppen zu bringen, welche der Republik am sichersten und ergebensten seien, da möglicher Weise Unruhen entstehen könnten, welche im Stande sein möchten, die Freiheit der Verhandlungen der Nationalversammlung zu beeinträchtigen. – Auf einem Tische in der Mitte seines Zimmers lag eine große Karte von Frankreich ausgebreitet, auf welcher mit langen Nadeln, welche die Bezeichnungen der verschiedenen Regimenter auf kleinen Tafeln trugen, die Standquartiere der einzelnen Truppentheile angegeben waren. Der Präsident ersuchte mich, durch diese Nadeln die Truppendislocationen anzugeben, welche ich für erforderlich und zweckmäßig hielt. Ich that dies und stellte die Zeichen aller derjenigen Regimenter, deren Führer und deren Soldaten ich als der Verfassung und der Republik am meisten ergeben kannte, in die Garnisonen in der unmittelbaren Umgebung von Paris. – Der Präsident, welcher aufmerksam zugesehen hatte, sagte mir, daß er die erforderlichen Befehle zu diesen Dislocationen sofort ertheilen lassen wolle, und wir trennten uns in der freundlichen Weise. Er hatte auf diese Weise,« fuhr der General fort, »nur die der Republik ergebenen Regimenter erkennen wollen, denn unmittelbar, nachdem ich ihn verlassen, ließ er diejenigen Truppentheile, deren Zeichen ich um Paris gesteckt hatte, durch heimliche und schnelle Befehle nach den entferntesten Grenzen von Frankreich abmarschiren und umgab Paris mit lauter Generalen und Truppen, die ihm blind ergeben waren. – Wenige Tage darauf wurde ich dann in meinem Bett verhaftet und der Staatsstreich ohne Widerstand durchgeführt.«

Herr Thiers lächelte.

»Ich muß gestehen,« sagte er, »daß dies nicht eins der ungeschicktesten Manöver dieses Herrn Napoleon war. – Man hat sich überhaupt in ihm getäuscht. – Nun mag dem sein, wie ihm wolle, will er sich bekehren, will er in Frankreich gut regieren – und ich werde mich nicht nach den Worten, sondern nach den Thaten richten – so muß man ihn doch unterstützen. Für Sie würde das übrigens viel leichter sein,« fuhr er fort, »ein General kann bei den Diensten, die er seinem Vaterlande leistet, viel mehr von der Person des zeitweiligen Herrschers absehen, als ein Minister. Auf dem Schlachtfelde handelt es sich doch immer mehr um die Ehre und um den Ruhm Frankreichs, als um dieses oder jenes politische System.«

»Auf dem Schlachtfelde,« sagte der General achselzuckend, »davon wird wohl lange nicht bei uns die Rede sein. Wir haben unsere Kräfte in wahnsinnigen und fruchtlosen Expeditionen vergeudet, und da, wo unsere Interessen und unsere Ehre uns wirklich geboten zu schlagen, haben wir in muthloser und schwankender Unthätigkeit zugesehen, wie man ohne uns das europäische Gleichgewicht veränderte.«

»Das ist richtig,« sagte Herr Thiers ernst, »aber der Fehler, den die Regierung begangen hat, wird sich rächen, und zwar rächen durch einen Krieg, der um so gewaltiger und erschütternder sein wird, je mehr man ihn zur Zeit, da er vernünftiger Weise geboten war, unterlassen hat. Die Regierung des Kaisers,« fuhr er fort, indem er die Arme unter einander schlug und ein wenig in dem Ton eines politischen Vortrages weiter sprach, »die Regierung des Kaisers hat uns in einen sehr bedenklichen Zustand versetzt. Es war eine Regierung ohne Regel und ohne Ordnung. Der Brief des Kaisers an den Herzog von Augustenburg hat Dänemark, unsern Alliirten, getödtet und Europa zu gleicher Zeit der Willkür der Gewalt Preis gegeben. Von jener Epoche an datirt all unser Unglück. Der Krieg ist unvermeidlich. Zwei große Kräfte wie Frankreich und Preußen können nicht immer, bis an die Zähne bewaffnet, mit unter einander geschlagenen Armen einer der andern gegenüber stehen, das muß einmal zum Ausbruch kommen. – Wann aber? – Ich weiß es nicht und Niemand weiß es. – Preußen wird nichts nachgeben, gar nichts, es wird keine Concessionen machen, glauben Sie es ja, und dann wird endlich der Augenblick kommen, in welchem die französische Regierung, sie möge heißen, wie sie wolle, durch Aufwallen des Nationalzorns zum Handeln gedrängt werden wird. – Die einzige Macht, welche durch eine kräftige Vermittlung den Conflict zu verhindern im Stande sein könnte, ist England; doch glaube ich nicht an solch eine Vermittlung. Lord Clarendon wird einzelne Versuche machen, aber er wird nichts Ernstes thun und namentlich seinen Worten keinen thätigen Nachdruck geben. Er ist sehr vorsichtig und sehr wenig geneigt zu energischen Maßregeln.

»Freilich,« sprach er weiter, »wird es in einem solchen Augenblicke nicht allein auf tüchtige Generale, sondern auch auf Staatsmänner ankommen, welche Kraft und Energie besitzen und zugleich durch ihren Charakter der Nation Vertrauen einflößen.

»Unser guter Freund Daru, den ich sehr hoch schätze, würde vielleicht kaum einer so großartigen Action gewachsen sein, wie die Zukunft sie uns auferlegen muß. Ich sehe überhaupt nach dem Tode von Walewsky, welcher ein ehrlicher Mann war, unter Denen, welche dem Kaiser näher stehen, nur Drouyn de L'huys, der einer solchen Aufgabe gewachsen sein könnte. – Ich glaube auch, daß er noch in sehr nahen Beziehungen zum Kaiser steht, aber er muß sehr unzufrieden sein mit dem Gang der auswärtigen Politik, welche nach seinen Ideen im Jahre 1866 eine ganz andere Richtung hätte nehmen müssen.«

Herr Thiers hatte die letzten Worte mehr zu sich selber, als zum General Changarnier gesprochen. Seine Stimme war immer leiser geworden, er blickte, wie seinen Gedanken folgend, einige Augenblicke schweigend zu Boden.

Die übrige Gesellschaft hatte sich allmälig ebenfalls mehr und mehr nach dem zweiten Salon hingezogen, nachdem Herr Thiers seinen Schlummer beendet und wieder an der Unterhaltung Theil zu nehmen begonnen.

Herr Mignet trat heran und begrüßte den Hausherrn mit ehrerbietiger Herzlichkeit.

»Man erzählt mir,« sagte er, »daß Sie sich mit einem großen Werk über die Philosophie der Geschichte beschäftigen – der Inhalt wird für jeden Historiker von großem Interesse sein. Wird die literarische Welt bald Etwas davon zu sehen bekommen?«

»Das wird davon abhängen,« sagte Herr Thiers lächelnd, »wie bald ich mein Leben und damit meine Thätigkeit beenden werde, denn ich bin entschlossen, die Kritik dieses Werkes, das bald beendet ist, nicht lebend über mich ergehen zu lassen, und dasselbe erst dann dem Publikum zu übergeben, wenn ich selbst der Beurtheilung der irdischen Welt entzogen sein werde. Denn,« fuhr er fort, »ich will in diesem Werk über sehr viele Dinge ganz ohne alle Rücksicht die Wahrheit sagen, und das könnte mir vielleicht viele Feinde machen, mit denen ich mich in der friedlichen Muße meines Lebensabends nicht mehr zu streiten Neigung habe. Ich glaube,« fuhr er fort, »daß die gegenwärtige Welt einen gewissen Mangel an gesundem Menschenverstand besitzt. Da ich nun sehr lange gelebt und sehr Vieles gesehen und gelernt habe, so will ich über Alles das meine Meinung sagen, gerade so, als ob ich einen Sohn hätte, dem ich in einem Testament meine letzten Rathschläge ertheile, um die reichen Erfahrungen meines Lebens für ihn nützlich zu machen. Der Himmel hat mir Kinder versagt,« sagte er mit einem wehmüthig freundlichen Lächeln, – »so will ich denn ganz Frankreich und die ganze gebildete Welt als meinen Sohn betrachten. Vielleicht kann ich dadurch noch nach meinem Tode ein wenig nützlich sein. Gedulden Sie also Ihre Neugier noch kurze Zeit, denn ich werde ja wahrscheinlich nur noch kurze Zeit zu leben haben.«

»Herr Graf Daru!« rief der Kammerdiener.

Herr Thiers ging seinem alten Bekannten, welcher jetzt das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten inne hatte, mit kurzen, raschen Schritten bis an die Schwelle des ersten Salons entgegen, indem er ihm freundlich die Hand hinstreckte.

Der Graf Napoleon Daru, der Sohn des bekannten Großwürdenträgers des ersten Kaisers, welcher später mit der Julimonarchie innig liirt gewesen und lange Zeit von jeder politischen Thätigkeit fern geblieben war, mochte damals fast sechzig Jahre alt sein. Er war eine kalte, vornehme Erscheinung von würdevoller, etwas steifer Haltung, sein ernstes Gesicht mit dem grauen Haar trug den Ausdruck höflicher Zurückhaltung, in seinen Zügen verband sich eine gewisse militairische Steifheit mit der selbstständigen Abgeschlossenheit des Gelehrten, der durch strenge theoretische Studien sich über alle ihm vorkommenden Dinge ein philosophisches Urtheil zu bilden gewohnt ist.

Nachdem Graf Daru mit den Damen eine kurze Unterhaltung geführt hatte, bei welcher eine gewisse Préoccupation auf seinem Gesichte bemerkbar war, wandte er sich wieder zu Herrn Thiers, der ihn lächelnd fragte.

»Darf man, ohne indiscret zu sein, sich erkundigen, wie die auswärtigen Angelegenheiten unseres Kaiserreichs sich befinden?«

»Die auswärtigen Angelegenheiten befinden sich vortrefflich,« erwiderte der Minister mit seiner klaren, etwas scharfen Stimme. »Ich wollte,« fügte er hinzu, »daß ich dasselbe von den innern Angelegenheiten sagen könnte.«

Ein wenig erstaunt blickte Herr Thiers auf.

»Nun,« sagte er, »wir haben soeben noch über die innern Angelegenheiten gesprochen, und ich bin zu dem Resultat gekommen, daß, obwohl ich keine persönliche Sympathie für dieses zweite Kaiserreich haben kann, ich dennoch anerkennen muß, wie die neue Ära der innern Politik allen Anforderungen entspricht, die man vernünftiger Weise machen kann, und der beste Beweis scheint mir darin zu liegen, daß Sie, mein verehrter Freund, gegenwärtig Mitglied des Ministeriums des Kaisers sind. Ist der Weg, auf dem man sich befindet, ein richtiger, so wird man ja über einzelne kleine Schwierigkeiten leicht hinwegkommen.«

»Vorausgesetzt, daß man diesen Weg verfolgt«, erwiderte der Graf, »und daß man nicht ebenso viele Schritte zurückthut, als man voran gegangen ist.«

»Wie so?« fragte Herr Thiers, der aufmerksam zu werden begann.

»Es wird ja doch morgen bekannt werden,« sagte der Graf Daru, – »also begehe ich kaum eine Indiscretion, wenn ich Ihnen mittheile, daß der Kaiser soeben einen Brief an Ollivier geschrieben hat, in welchem er ihm sagt, daß er ein Plebiscit für nöthig halte, um die von dem Senat und Gesetzgebenden Körper genehmigte Veränderung der Verfassung des Kaiserreichs nunmehr zu sanctioniren. Die frühere Verfassung sei durch den allgemeinen Volkswillen festgestellt und es müsse derselbe daher auch den gegenwärtigen Abänderungen derselben seine definitive Zustimmung geben.«

»Und was sagt Ollivier?« fragte Herr Thiers sehr ernst, während die übrige Gesellschaft näher herantrat und mit Spannung dem Gespräch folgte.

»Ollivier,« erwiderte Graf Daru, »hat sich vollkommen die Ideen des Kaisers angeeignet und findet die Berufung auf das Plebiscit vollkommen natürlich. Ich meinerseits,« fuhr er mit einer gewissen Bitterkeit fort, »sehe darin nur die Rückkehr zu dem Grundsatz, daß das persönliche Regiment, auf den Willen der Masse gestützt, sich von Neuem über die Verfassung und über das Votum der legalen Repräsentanten der Nation zu stellen beabsichtigt. Wo ist überhaupt noch eine Sicherheit für die öffentlichen Zustände, wenn Alles, was geschieht, jedesmal von einem solchen Plebiscit abhängig gemacht werden soll, das ja im Grunde doch nur eine Komödie ist und gegenüber einer starken Regierung immer nach deren Ansichten ausfallen wird, da ja Diejenigen, welche nicht zustimmen mögen, sich nicht den bedenklichen Folgen eines negativen Votums auszusetzen Lust haben werden.«

»Das ist ein eigenthümlicher Schachzug,« sagte Herr Thiers nachdenklich. »Aber ich möchte Sie doch noch einmal fragen, mein lieber Freund, wie steht es mit der auswärtigen Politik, denn dieses Plebiscit scheint mir mehr im Zusammenhang damit zu stehen, als mit den innern Verhältnissen. Wie stehen Sie mit Preußen?«

»Kalt und mißtrauisch,« erwiderte Graf Daru, »aber es liegt auch durchaus keine Veranlassung zu irgend einer Differenz vor, da von beiden Seiten die Erörterung aller Punkte, welche dahin führen könnten, sorgfältig vermieden wird. Man hat von englischer Seite versucht, auf eine gegenseitige Verminderung der militairischen Rüstungen hin zu wirken, doch natürlich vergeblich – in Berlin hat man selbst die bloße Erörterung dieses Punktes ziemlich kurz zurückgewiesen.«

»Und Sie,« fragte Herr Thiers, indem er mit einem listigen Blick zu Graf Daru hinaussah, »werden doch wahrscheinlich auch nicht geneigt sein, die Militairmacht Frankreichs ernstlich zu vermindern?«

»Wir können es nicht,« erwiderte Graf Daru, »so lange von anderer Seite nicht der Anfang gemacht wird.«

»Das alte Wechselspiel,« sagte Herr Thiers, »Jeder will, daß der Andere zuerst abrüsten soll. Ich muß Ihnen sagen,« fuhr er fort, »daß mir das Alles sehr bedenklich erscheint. Sehen Sie die Geschichte an, namentlich die neuere und neueste Geschichte, so werden Sie immer finden, daß, sobald die Frage der militairischen Abrüstung zwischen zwei Mächten ernsthaft discutirt wird, jedesmal bald darauf ein Krieg folgt. Halte ich dies mit dem in Aussicht genommenen Plebiscit zusammen, so muß ich darauf zurückkommen, was ich vorhin sagte –«

Er wandte sich zu dem General Changarnier – »Daß nämlich unser tapfrer Freund hier doch noch Gelegenheit finden könnte, seinen Degen im Dienste Frankreichs zu ziehen. Glauben Sie mir,« fuhr er fort, »ich habe für so Etwas einen gewissen Scharfblick, – dies Plebiscit ist der Vorläufer einer auswärtigen Action. Der nächste Schritt,« sprach er weiter, »den England thun muß, wenn seine Vermittlung wegen der Abrüstung keinen Erfolg hat – den Schritt, dem sich schließlich ganz Europa wird anschließen müssen, muß der sein, dem Kaiser zu sagen: ›Sie haben nicht das Recht, die Welt in ewiger Unruhe zu erhalten, Sie haben den Krieg fortwährend wie eine unausgesetzte Drohung in der Hand gehalten, und doch keine Gelegenheit benutzt, die sich darbot, um eine energische Klärung der Situation herbeizuführen. Das Alles muß endigen, entscheiden Sie sich Krieg zu führen, oder erklären Sie offen, daß Sie rückhaltslos den Frieden wollen, und handeln Sie danach; die gegenwärtige Situation ist für ganz Europa unerträglich –‹«

Er hielt inne und fragte abbrechend:

»Und welche Haltung wollen Sie diesem Plebiscit gegenüber einnehmen, welches Ollivier bereits acceptirt hat?«

»Ich habe erst flüchtig darüber mit den mir gleich gesinnten Collegen sprechen können,« erwiderte Graf Daru, »es ist eine schwierige Situation, die man uns da geschaffen. Das Plebiscit hat eine große Popularität bei den Massen, und sich demselben widersetzen, würde uns fast als die Vertreter reactionairer Grundsätze vor den Augen der öffentlichen Meinung hinstellen! Doch müssen wir nach meiner Überzeugung auf der andern Seite auch einer fortwährenden Appellation von den gewählten Repräsentanten an das Volk selbst ernstlich entgegentreten.«

»So machen Sie doch,« sagte Herr Thiers, »die Bedingung, daß das Plebiscit nur von der Regierung in Gemeinschaft mit dem Senat und dem Gesetzgebenden Körper ausgeschrieben werden dürfe. Dann hat die Sache doch wenigstens einen gewissen Sinn und stellt die Kammern nicht als Nullen zwischen den Kaiser und die Volksmasse.«

»Das ist eine vortreffliche Idee!« rief Graf Daru, und, indem er den Arm des Herrn Thiers nahm, zog er sich mit diesem in eine Ecke des Salons zurück und vertiefte sich mit ihm in ein langes und eifriges Gespräch.

Die Unterhaltungen der übrigen Gruppen waren ebenfalls eifriger und lebhafter geworden. Man besprach die Idee des Plebiscits von allen Seiten, und im Ganzen fand dasselbe bei allen hier Anwesenden nur Mißbilligung. – Sie Alle waren Vertreter der constitutionellen Doctrin und fühlten sehr wohl, daß derselben vollständig die Spitze abgebrochen würde, wenn die Regierung der Kammermajorität gegenüber fortwährend die Waffe der Appellation an das allgemeine Volksstimmrecht in der Hand behielt.

Nach einiger Zeit hatte Herr Thiers sein Gespräch mit dem Grafen Daru beendigt, – er näherte sich seiner Gemahlin, – diese gab Fräulein Dosne einen Wink.

Beide Damen standen auf und legten ihre Arbeit zusammen. Dies war das Zeichen für die Gesellschaft, daß der Empfang beendet und daß für Herrn Thiers, welcher seine Gesundheit und Rüstigkeit durch eine ungemein strenge Zeiteinteilung so vortrefflich zu conserviren verstanden, nunmehr die Stunde gekommen sei, zu welcher er gewohnt war, sich zurückzuziehen, um nach einem kurzen Überblick über die Arbeit und die Ereignisse des Tages den Schlaf zu suchen, welcher ihm bis in sein hohes Alter hinein ein treuer Freund geblieben war.

Die Gesellschaft empfahl sich und bald erlöschten die Lichter in dem kleinen Hotel an der Place de St. George.


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